Ausstellungsbesprechungen

Kirchner. Das expressionistische Experiment, Bucerius Kunst Forum Hamburg, bis 7. September 2014

137 Blätter umfasst die Ausstellung im Hamburger Bucerius Forum, die dem druckgrafischen Werk Ernst Ludwig Kirchners gewidmet ist. Sie erfasst zwar auch die letzten Lebensjahre, legt das Schwergewicht aber eindeutig auf das Frühwerk bis einschließlich dem Ersten Weltkrieg. Stefan Diebitz hat die sehenswerte Ausstellung besucht.

Von Kirchner gibt es ausreichend Gemälde, aber es sind die Holzschnitte und Lithografien, die ihn von seinen expressionistischen Kollegen der »Brücke« unterscheiden: hier, wo er auch technisch innovativ war, fand er ganz zu sich selbst. Und es waren immer die Holzschnitte, von denen er ausging, die also den Gemälden vorausgingen. In ihnen suchte er den nach dem richtigen Ausdruck und malte erst, wenn er sich seines Konzepts sicher war.

Er selbst datierte sein künstlerisches Erweckungserlebnis auf 1904, als er von München aus nach Nürnberg fuhr, um dort das Albrecht Dürer-Haus zu besuchen, und dessen Holzschnitte ein erstes Mal sah. Sicherlich hat ihm Dürer wirklich wesentliche Anregungen verschafft. Aber Rainer Schoch warnt in seinem Katalogbeitrag vor der Annahme, »die frühen Holzschnitte [Dürers] hätten Kirchner in einem stilistisch und formalen Sinn unmittelbar beeinflußt«. Tatsächlich sind die Vorbilder des den verschiedensten Einflüssen gegenüber offenen Kirchner woanders zu suchen, zum Beispiel im »Simplicissimus«. Dazu kam bald darauf der Japonismus und später das Werk van Goghs. Der Einfluss Picassos und Braques, der Ende der Zwanziger Jahre sehr stark wurde, führte ihn allerdings in eine künstlerische Sackgasse, und die Arbeiten aus der Zeit um 1930 sind die schwächsten der Ausstellung. Einige Blätter kann man sogar epigonal nennen. Aber ohnehin (oder eben deshalb) ist die Zeit bis zum Anfang der Zwanziger Jahre in dieser Ausstellung wesentlich stärker vertreten als die Jahre, die er später bis zu seinem Freitod 1938 in der Schweiz verbrachte.

Natürlich fehlen nicht die für Kirchners Frühwerk typischen bunten Badeszenen, aber Höhepunkt der Ausstellung sind die acht Blätter, mit denen Kirchner den kleinen Roman »Peter Schlemihls wundersame Geschichte« des Romantikers Adalbert von Chamisso illustrierte – ohne Auftrag, einfach nur deshalb, weil er sich ganz und gar mit der Hauptfigur identifizierte. Kirchner, der sich freiwillig an die Front gemeldet hatte, war bald darauf physisch und psychisch zusammengebrochen – sicherlich eine Folge der Kriegserlebnisse, aber wohl auch eine des Drogen- und Medikamentenmissbrauchs. In der folgenden Zeit, die er zunächst in Berlin verbrachte, fühlte er sich wie Peter Schlemihl aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Die Romanfigur sieht sich wegen ihres fehlenden Schattens aus der Gesellschaft verbannt, der Maler aber wagte sich tagsüber nicht auf die Straße, weil ein Mann seines Alters hätte kämpfen sollen. Nur zu deutlich verrät die autobiografische Bedeutung des Themas das vierte Blatt der Folge, »Schlemihl in der Einsamkeit des Zimmers« betitelt, in dem Kirchner ganz offensichtlich sich selbst porträtiert hat.

Schon vor dem Krieg hatte er begonnen, gelbes Papier zu benutzen, um die Nächtlichkeit der Berliner Szenen zu betonen. Die Arbeiten dieser Zeit sind extrem nervös, von wilden Strichen gezeichnet und mit Schraffuren gefüllt, und unterscheiden sich deutlich von den klaren und sauberen Holzschnitten zehn Jahre zuvor, in deren weichen Linien man noch den Einfluss des Jugendstils erkennen kann.

Die ausdrucksstarken und mit starken Farben eingefärbten Holzschnitte der Schlemihl-Folge verraten nicht, dass Kirchner mit der Schwäche, ja einer teilweisen Lähmung seiner Hände zu kämpfen hatte – malen hätte er in dieser Zeit nicht können, aber schneiden konnte er offensichtlich, auch später während seines Schweizer Sanatoriumsaufenthaltes. Dort unterstützten ihn die Pfleger des Hauses beim Druck seiner Blätter, den er auch jetzt nicht aus der Hand ließ. Wenn man seine physischen Probleme bedenkt, sind die einzelnen Arbeiten einfach nur erstaunlich. Der Katalog enthält einen Aufsatz von Gunther Gercken, einem Kirchner-Sammler und Professor für Biochemie, der in diesen Tagen ein siebenbändiges Werkverzeichnis vorlegt. In seinem Beitrag geht er auf diese Probleme des Künstlers ein und erläutert, warum er noch Holzschnitte anfertigen konnte. »Der Widerstand des Holzes beim Schneiden ermöglichte Kirchner noch eine sichere Linie.« Es war ihm aber nicht möglich, größere Flächen herauszubrechen, weshalb er nur mit dem Dreieckeisen arbeitete. »Die Behinderung hat somit den linearen Stil aus kurzen Strichen und die Feinteiligkeit der Holzschnitte mitbestimmt, sie hat jedoch die künstlerische Höhe keineswegs beeinträchtigt.«

Fast sein gesamtes lithografisches Werk hat Kirchner auf nur fünf Steinen gezeichnet, die immer wieder abgeschliffen wurden. Auch hier druckte er selbst, gab den Druck also nicht aus der Hand, und die kleinen Beschädigungen, welche die Steine im Laufe der Jahre an ihrem Rand erlitten, erlauben heute eine Datierung der Blätter. Von Ausnahmen abgesehen, beließ er es bei seinen Arbeiten bei wenigen Abzügen – gelegentlich gab es wirklich nur einen einzigen. Bei den Holzschnitten erarbeitete er sich innovative Techniken, indem den Block auseinandersägte. Auch benutzte er für die Drucke verschiedene Farben, so dass die einzelnen Blätter tatsächlich Unikate darstellen.

Die schöne Ausstellung zeigt außerdem drei Gemälde, sodass sie tatsächlich den ganzen Kirchner zeigt.

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