Als erstes Kunstmuseum überhaupt stellte das Frankfurter Städel 1845 nur wenige Jahre nach Erfindung des neuen Mediums Fotografien aus. Das 175. Jubiläum dieses Ereignisses nimmt man nun zum Anlass, die seitdem stark vergrößerte Sammlung zu präsentieren. Lotus Brinkmann war über einige Lücken im Bestand erstaunt.
Besucher der Städel-Ausstellung erhalten einen umfassenden Überblick über die wichtigsten fotografischen Tendenzen von den Anfängen bis zu den Arbeiten der Gruppe fotoform, die sich 1949 zusammenschloss. Warum gerade dieser Werkkomplex den Schlusspunkt der Schau bildet, erschließt sich jedoch nicht, da auch nach den jüngsten Arbeiten in der Ausstellung von 1972 (anders als der Titel der Ausstellung impliziert) ja kein Endpunkt – oder eine logische Zäsur wie beispielsweise das »Ende« der analogen Fotografie – in der Fotografie-Geschichte erreicht war. Im Gegenteil, technische Neuerungen boten in den letzten Jahrzehnten eine Vielzahl an Möglichkeiten zum Experimentieren mit dem Medium. Auch die Auswahl der Bilder insgesamt erscheint teilweise willkürlich und ist wohl dem Umstand geschuldet, dass die Kuratoren die Schau rein aus dem Bestand des Städels bestückten, der jedoch in den letzten Jahren um mehrere große Ankäufe ergänzt wurde.
Das Museum begann sehr früh mit der Sammlung von Fotografie: 1845 – nur sechs Jahre nachdem die Erfindung des neuen Mediums bekannt gegeben worden war – zeigte es als erstes Kunstmuseum weltweit eine Foto-Ausstellung. Dabei sollte jedoch nicht vergessen werden, dass der historische, rund 2.000 Abzüge umfassende Bestand als Lehrsammlung dazu diente, Kunst zu vermitteln und noch nicht für sich beanspruchte, selbst Kunst zu sein.
So finden sich im ersten Ausstellungsraum Reproduktionen mit Gesamtansichten und Details der Kartons, die Raffael als Vorlagen für Wandteppiche in der Sixtinischen Kapelle anfertigte, und die sich zur damaligen Zeit in Hampton Court befanden. Daran schließen sich Arbeiten der Foto-Pioniere an, die das neue Medium vielfach dazu nutzten, um kulturhistorische Stätten und prominente Persönlichkeiten der noch wenig mobilen Bevölkerung näher zu bringen. Dabei erfährt der aufmerksame Betrachter, dass schon lange vor Einsetzen des digitalen Zeitalters nicht alles der Wirklichkeit entsprach, was die als realitätstreu geltende Lichtbildnerei aufs Papier bannte. Zwar wurden dabei die Inhalte nicht im Nachhinein technisch manipuliert, aber bereits Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Genreszenen inszeniert, um nostalgische Bedürfnisse nach einer »guten, alten Zeit« zu befriedigen, die auf diese Weise schon nicht mehr existierte.
Ende des 19. Jahrhunderts setzte dann eine Strömung ein, die den Kunstwert der Fotografie betonte. In den Bildern der sogenannten Piktorialisten trat der dokumentarische Charakter stärker zurück zugunsten subjektiverer Eindrücke, die beispielsweise durch Unschärfen oder Kolorierungen vermittelt werden sollten, um malerische Effekte zu erzeugen. Diese Entwicklung wurde nach dem I. Weltkrieg quasi in ihr Gegenteil verkehrt. Die Fotografen des Neuen Sehens wollten direkt und ungeschönt das widergeben, was in der Gesellschaft geschah. Einen Schwerpunkt setzt das Städel dabei auf die formal strengen Arbeiten Albert Renger-Patzschs, denen ein eigener Raum gewidmet ist. In der Malerei fanden die Ausdrucksmittel des Neuen Sehens in der Neuen Sachlichkeit ihre Entsprechung.
Und wie die klassische Moderne eine Vielzahl an Kunstströmungen hervorbrachte, die nebeneinander existierten, so zeigten sich die unterschiedlichen Stile auch in der Fotografie. Besonders die Künstler des Surrealismus nutzten das Medium, um mit seinen technischen Möglichkeiten ihr Credo von der Aufhebung der Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit umzusetzen. Zwischen Realität und Fiktion schweben die in der Ausstellung vertretenen Werke namhafter Repräsentanten des Surrealismus wie Man Ray, Brassaï und Dora Maar.
Inmitten dieser Prominenz zeigen sich aber auch die blinden Flecken der Schau besonders deutlich. Nicht gezeigt wird der Themenkomplex der Rayogramme, von Laszlo Moholy-Nagy (nicht vertreten) Photogramme genannt, bei denen diese Künstler mit der direkten Belichtung des Fotopapiers ohne den Zwischenweg über die Kamera experimentierten. Auch die Arbeiten Eugène Atgets, die Ansichten eines bereits vergangenen Paris‘ zeigen und die Surrealisten stark beeindruckt hatten, fehlen. Betrachtet man Atgets Straßenszenen als frühe Vorläufer der Street Photography wird einem bewusst, dass auch diese Stilrichtung mit prominenten Künstlern wie Robert Frank oder Walker Evans komplett ausgespart ist.
Die abstrakten, teils symbolistischen Bilder der tschechischen Fotoavantgarde der Zwischenkriegszeit leiten über vom Surrealismus zu den Arbeiten der Gruppe fotoform, die nach dem II. Weltkrieg mit ihrer Betonung der individuellen Perspektive des Fotografen eine Gegenbewegung zur heroisierenden Darstellung der Fotografie des Nationalsozialismus etablierten, und die in Frankfurt nun etwas abrupt den Endpunkt der Ausstellung bilden.