Ausstellungsbesprechungen

Marc Chagall, In neuem Licht

Es mag kaum einen zweiten Künstler von Weltruf geben, der in der Fachwelt so zwiespältig bewertet wird wie Marc Chagall: Den einen ist sein Werk die Verkörperung erdenthobenen, engelsgleichen Zaubers, für die anderen ist es der Gipfel einer verlogenen Weltfremdheit. Wieder andere, die Chagalls Oeuvre differenziert betrachten, erkennen in ihm – unabhängig von stilistischen Bewertungen – eine der großen Einzelpersönlichkeiten in der ersten Jahrhunderthälfte des 20. Jahrhunderts wie Max Beckmann oder Pablo Picasso, oder sie konstatieren ein entschiedenes Gefälle im Werk Chagalls.

Die Mehrheit der Kunstinteressierten scheint sich jedoch auf jeden Fall einig zu sein: Marc Chagall gehört zu den Quotenkönigen einer jeden Ausstellung. Schon deshalb muss man sich dem Phänomen Chagall widmen. Und wo ginge dies zur Zeit besser als in Baden-Baden, wo eine groß angelegte Werkschau bis Ende Oktober gezeigt wird: Rund 100 Arbeiten hängen hier – so verspricht es der Ausstellungstitel – in neuem Licht. Wie zu erwarten war, musste das Haus auch schon wegen Überfüllung dicht gemacht werden: Kurzfristig strömten über viermal so viele Menschen durch das taghelle Haus des Stararchitekten Richard Meier, als die (in Baden-Baden besonders auffallenden) Sicherheitskräfte eigentlich zulassen.

  

Phantasie und Farbe sind die Stichwörter, unter denen das Genie Marc Chagalls immer wieder begriffen werden will, dabei könnte man den Eindruck bekommen, dass der Maler gerade dadurch ein gewisses technisches Unvermögen, mangelnde anatomische Kenntnisse und eine schlicht fehlende oder nicht erreichbare Standfestigkeit der Protagonisten übertünchen wollte. Freilich, was man in Baden-Baden nicht zu sehen bekommt, sind die unanfechtbar grandiosen Kirchenfenster, die Glasmalerei, für die Chagalls Stil wie geschaffen schien, bei denen die pure Leuchtkraft der Farbe über jegliche Form triumphiert und die Schwerelosigkeit als Programm über jeden Zweifel erhaben ist. Ähnliches gilt für die sinnfällige Platzierung chagallscher Fiktionen „Über unseren Köpfen“ – man denke an das locker-luftige Deckenbild in der Pariser Oper. Doch ist das der Phantasie zugeschlagene symbolische Repertoire überschaubar: fliegende Paare, Geige spielende alte Männer, Engel, Kühe, eine Wanduhr (eine Erinnerung an das wertvollste Stück im elterlichen Haus in Russland). Letztlich entwickelte Chagall auch, nachdem er aus seinen am Symbolismus und Kubismus orientierten Anfängen herausgetreten war und seinen unverkennbaren Stil gefunden hatte, kaum noch neue Themen.

 

In wirklich neuem Licht erscheint das Werk in Baden-Baden nicht, nur weil mehr Tageslicht drauf fällt. Aber welch Wunder: Das Unbehagen gegen die konturlos-weichliche Farb- und Phantasiesüße wird in der Ausstellung tatsächlich eines Besseren belehrt. Wider Erwarten strahlt die Stärke Chagalls von einer ganz anderen Seite her: Dort, wo er Linie bekennt, ist er ganz großartig. Gemälde wie »Der Spiegel« (1913) leben durch die Schärfe des Kontrasts, der Linie, die im Aufeinanderfall zweier Farbflächen oder als Binnen- und Umrisszeichnung regelrecht Stellung in der Bildkomposition bezieht. Eine Wucht ist zudem das Monumentalwerk zur »Einführung in das Jüdische Theater« von 1920, womöglich einer der (heimlichen) Meilensteine in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Die fast 3 mal 8 Meter messende Leinwand aus der Tretjakow Galerie (Moskau) entstand für das Jüdische Kammertheater in Moskau und zeigte im Grunde schon die ganze Welt des Malers, der sich bereits intensiv mit dem Theater auseinandergesetzt hatte; nur stand diese Welt in einem spannungs- und dialogfähigen Kontrast mit einer konstruktivistisch-abstrakten Hintergrundgestaltung und einer ausgewogenen Farbharmonie, die Chagall nur selten wieder erreichte. In manchen nur zeichnerisch angedeuteten Figuren erkennt man, dass Chagall seinen Unterhalt frühzeitig mit Karikaturen finanzierte und einmal mehr zeigen, dass der spätere Meister der Farbe von Hause aus ein Zeichner war, dem über dem Farbrausch seine Wurzeln abhanden kamen. Jeder Zweifel verfliegt in diesem Zusammenhang bei Betrachtung seiner Illustrationen. Besonders die über 100 Radierungen zu Nikolas Gogols »Die toten Seelen« (1923–27) sind Blatt für Blatt ein Genuss. Schade wäre es, wenn manche Besucher während ihres Defilees an den Gemälden vorbei über die Vitrinen mit Arbeiten zu Boccaccio, La Fontaine u.a. hinweg sehen würden.

 

Von hier aus sieht man denn auch die Malerei von Marc Chagall »in neuem Licht«, das heißt, das eingangs unterstellte Ungenügen wandelt der Maler in erstaunlich vielen Bildwerken in eine überzeugende Form um – ein Dilettant at his best, der in der Lage war, die Seele eines Volkes auf fast naive Weise einzufangen: »Der rote Jude« (1915) gehört dazu, wie auch das Bild »Über der Stadt« (1914–18), dessen idyllische Stimmung von einem winzigen kotenden Bauern ganz vorn ad absurdum geführt wird, und natürlich alle Arbeiten im Umfeld der »Einführung in das Jüdische Theater« oder auch die Beispiele seiner transzendentalen Flugbilder, wo die Linie eine Verflüchtigung in den Kitsch gerade noch vermeidet – etwa in »Der Tanz« (1950–52). Auch der Einzug düsterer Nachdenklichkeit lässt einige starke Stücke im Spätwerk erkennen, so der Rouault nahe stehende »Malvenfarbene Akt« (1967) oder »Das Passah« (1968). Die von Jean-Louis Prat kuratierte Ausstellung wartet noch mit Bildern auf, die Chagall im eigenen Wohnzimmer hängen hatte: »Das blaue Haus« (1920) und »Die roten Dächer« (1953).

 

Man kann zu Chagall stehen, wie man will – und vieles bleibt allzu engelstrunken – : Baden-Baden lässt manches Vorurteil wackeln.

 

 

 

Öffnungszeiten

Dienstag bis Sonntag 10.00-18.00 Uhr, Mittwoch 10.00-20.00 Uhr

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