Was kann Kunst? Beiläufig und ein wenig spröde stellt das Frankfurter Museum für Moderne Kunst einen Saison–Höhepunkt vor. Unter dem schlichten Titel MARCEL DUCHAMP zeigt das MMK bis Anfang Oktober die seit 20 Jahren erste Ausstellung des Künstlers mit Arbeiten aus allen Phasen von 1902 bis 1968. Natürlich fehlen viele der nicht transportfähigen Schlüsselwerke, trotzdem bietet die von Susanne Pfeffer kuratierte Schau eine wunderbare Möglichkeit sich zu fragen, was Kunst ist und wozu wir sie brauchen. Torsten Kohlbrei war vor Ort.
Museumsausstellungen werden mit mehrjähriger Vorbereitung geplant, auf aktuelle Ereignisse können sie kaum Bezug nehmen und sind deshalb nicht davor geschützt, unfreiwillig aus der Zeit zu fallen. Auch der rund 700 Exponate umfassenden Marcel Duchamp–Retrospektive des MMK in Frankfurt könnte es so ergehen.
Vielleicht hat das Kurator:innen–Team – dies deutet der Einleitungstext mit seinen Fragen an – auf einen Bezug zwischen Duchamps 1919 erfundener Kunstfigur Rrose Sélavy und der aktuellen Gender–Debatte gehofft: »Was ist Kunst? Was macht ein Objekt aus? Was ist ein Subjekt? Was definiert unser Geschlecht und unsere Identität?«
Doch angesichts eines Angriffskriegs in Europa wirken dergleichen Kunstreflexionen seltsam banal. Tatsächlich eignet sich der listenreiche Kunstrevolutionär Marcel Duchamp (1887–1968) nicht zum Kombattanten im bewaffneten Kampf für Demokratie und nationale Freiheitsrechte.
1915 wurde Duchamp nach einer Gesundheitsprüfung vom Dienst in der französischen Armee freigestellt. Dies kam seiner Skepsis gegenüber der nationalen Euphorie entgegen und blieb nicht ohne Kritik: »Es kam vor, dass ihn Fremde auf der Straße anspuckten«, berichtet Calvin Tomkins in seiner Biografie (1). Dem Zweiten Weltkrieg entzog er sich 1942 durch Übersiedelung nach New York.
Duchamps Widerstand war von anderer Art. Die Ausstellung demonstriert dies mit einem unaufgeregten Ton, der alle frühere Hysterie um den Künstler–Star vermeidet, und gerade deshalb sehr zur aktuellen politischen Lage passt. Denn hinter Duchamps vieldiskutierter Indifferenz verbirgt sich die sehr konsequent gelebte Überzeugung, dass es zu jeder Perspektive eine andere gibt, die im Spiel gehalten werden muss.
Nach der Begrüßung durch eine Installation mit Ready–mades und ihrem gemalten Schattenriss im tortenstückförmigen Eingangssaal geben sich die Kurator:innen viel Mühe zu zeigen, wie der jugendlich–junge Duchamp seinen Weg in die Tradition suchte. Er zeichnete Akte, Porträts und Landschaften, alle Arbeiten bewegen sich dabei im Kanon der Zeit, allerdings in jenem Segment, das um 1905 immer noch als provokativ, da antiakademisch, galt. Um 1910 werden die symbolistischen Aspekte stärker und es ist erkennbar, dass Duchamp zu seinem Thema findet. Durch den Siegeszug der Fotografie hatte die Malerei angestammte Funktionen verloren. Bilder sollten sich – so Duchamps Überzeugung – nicht länger durch die Abbildung des Sichtbaren rechtfertigen gerechtfertigt werden, sie mussten etwas zeigen, das keine Kodak–Box erfassen konnte.
Duchamp experimentierte mit Karikaturen, dabei übte er die für seine Hauptwerke typische Verbindung zwischen Bild und sinnaufschließendem Titel ein. Genau wie bei seinen symbolistischen Versuchen war ihm jede sozialrevolutionäre Attitude fremd. Mit einer fröhlichen Sachlichkeit geht es um die Erkundung des Unsichtbaren, die zeitgleich von den Naturwissenschaften vorangetrieben wurde.
Im zweiten Stock des MMK ist überwiegend an Nebenwerken zu besichtigen, wie Duchamp zu einer kubistisch anmutenden Demontage des Sichtbaren gelangte, um Bewegungsabläufe ins Bild zu setzen.
Zunehmend verliert sich die chronologische Ordnung und relativ spät – erst im dritten Geschoss – stößt man auf Die Braut von ihren Junggesellen nackt entblößt, sogar, also dem Hauptwerk Duchamps schlechthin, das er nach acht Jahren Entwicklungszeit 1923 als »permanently unfinished« abschloss. In Frankfurt wird die von Richard Hamilton erstellte und durch Duchamp autorisierte Replik von 1965 gezeigt.
La Mariée mise à nu par ses célibataires, même so der Originaltitel oder »Das große Glas«, wie Duchamps Arbeit meist genannt wird, wirkt wie eine auf transparentes Material gebrachte naturwissenschaftliche oder technische Darstellung und ist für Unkundige genauso schwer zu dekodieren. Sicher zu erkennen ist die Zweiteilung mit den »Gussformen« unten, die für die Junggesellen stehen, und die wolkenartige Sphäre der Braut oben, aber erst mit Hilfe der 1934 in der La Boîte verte veröffentlichten Notizzettel gelingt der Einstieg in einen Assoziationsraum, bei dem sich die Darstellung einer Liebesmaschine zu einem humorvollen, widersprüchlichen, skeptischen, universal gedachten Bild sozialer Mechanik entfaltet.
Zugleich sind die beiden zusammen 1,70 x 2,80 m großen Glasplatten das Ergebnis von Duchamps Reflexion über die Möglichkeiten eines Kunstwerks. Das Kunstwerk ist ein Modell, das sinnliche Erfahrungen ermöglicht und zur Produktion von Interpretationen anregt; es legt Spuren, die der Betrachter liest und erst in diesem Prozess das Kunstwerk schafft. Duchamps konzeptueller Ansatz, der alles Abbildhafte ablehnt, das Anekdotische einführt und keinen Unterschied zwischen einem gefundenen Massenartikel und einem mühevoll von Künstlerhand gebildeten Artefakt akzeptiert, hat ihn zu einem der meistzitierten Künstler des 20. Jahrhunderts gemacht.
In den kleinen und großen Räumen des Frankfurter MMK kann man verfolgen, wie Duchamp diese früh eingenommene Haltung durchspielt, sich mit seinen Schachtel–Museen, die Miniaturen der bisherigen Arbeiten versammeln, des eigenen Universums vergewissert – und sich dabei fröhlich widerspricht.
Denn die präsentierten Briefe dokumentieren, dass Duchamp nach Fertigstellung seines letzten Ölbilds »Tu m’« (Tu m’emmerdes/»Sei nicht schockiert. Das hat er mir beigebracht« (2)) im Auftrag der Sammlerin Katherine Sophie Dreier ab 1918 der Kunstproduktion den Rücken kehrte und sich für Jahre auf ein ganz anderes Ordnungssystem – das Schachspiel – verlegte. Die vorgestellten Materialien zeigen aber auch, dass Duchamp weiterhin mit Bildern handelte und Ausstellungen organisierte.
Das Bild des Künstlers changiert: Bilderstürmer, Anti–Künstler, Teil des Establishments und Pop–Ikone. Mittendrin und doch im Halbschatten. Dieser Marcel ist alles zugleich. Und hinter jedem Doppelsinn verbirgt sich ein weiterer Witz: ein Ready–made ist phonetisch ein »bereites Mädchen« (»ready maid«), das Leben eine dornige Rose (a rose). Oder ist es dem Begehren (»Eros«) geweiht? Rrose Sélavy, die weibliche Inszenierung Duchamps, wird es nicht verraten.
Wenn man nach dieser facettenreichen und doch federleichten Ausstellung das Museum verlässt, herrscht in Europa noch immer Krieg. Das Lächeln von Duchamp verblasst. Die Ausstellung macht bewusst, welchen Preis der Tunnelblick des Krieges kostet, ihr Besuch erinnert aber auch daran, dass es sich lohnt, die Freiheit zu verteidigen. Durch die unfreiwillige Kollision mit der Gegenwart gewinnt die Ausstellung etwas Verstörendes. Duchamps Haltung hinterlässt Widerhaken. – Aus einem in Frankfurt nicht zitierten Interview mit US–amerikanischen Journalisten: »Persönlich muss ich sagen, ich bewundere die Haltung, eine Invasion mit verschränkten Armen zu bekämpfen.« (3)
1 Calvin Tomkins: Marcel Duchamp, Wien 1999, S. 168.
2 Übersetzung zit. nach Tomkins, a.a.O., S. 239
3 The European Art Invasion, Literary Digest (27.11.1915), zit. Calvin Tomkins a.a.O., S. 181.