Ausstellungsbesprechungen

Nackt und bloß. Lovis Corinth und der Akt um 1900, Niedersächsisches Landesmuseum Hannover, bis 11. Juni 2017

Wie ein roter Faden zieht sich das Thema des Nackten durch die Kunstgeschichte. Im klassischen Altertum und dann wieder seit der Renaissance wimmelt es in der Kunst von Aktdarstellungen, und selbst im körper- und sinnenfeindlichen Mittelalter waren sie nicht ganz verschwunden – man denke nur an das erste Menschenpaar von der Schöpfung bis zur Vertreibung aus dem Paradies und an Szenen des Jüngsten Gerichts. In den Jahren vor, um und nach 1900 war es der weibliche Akt, der im künstlerischen Schaffen von Lovis Corinth eine herausragende Rolle spielte. In einer kleinen Ausstellung versucht das Niedersächsische Landesmuseum Hannover, diesen Werkaspekt tiefer auszuloten. Anmerkungen von Rainer K. Wick.

Wie man mit verhältnismäßig geringem Aufwand eine interessante Ausstellung auf die Beine stellen kann, demonstriert derzeit das in Hannover am Maschpark und in Sichtweite des Neuen Rathauses und des Sprengel Museums gelegene Niedersächsische Landesmuseum. Im Zentrum der Schau »Nackt und bloß« stehen Ölgemälde, Zeichnungen und Druckgrafiken des 1858 geborenen und 1925 verstorbenen Lovis Corinth, der mit Max Liebermann und Max Slevogt gemeinhin dem Dreigestirn deutscher Impressionisten zugerechnet wird. Die meisten der ausgestellten Werke stammen aus dem Fundus des Museums selbst. Das gleiche gilt für etliche Arbeiten anderer zeitgenössischer Künstler, die in dieser thematischen Sonderausstellung flankierend gezeigt werden. Ziel der Ausstellung ist es, »die Akte Corinths im Kontext ihrer Zeit« zu beleuchten und »in der Gegenüberstellung mit Werken von Zeitgenossen wie Auguste Renoir, Edgar Degas, Max Slevogt oder Paula Modersohn-Becker [...] eine Epoche im Umbruch zwischen Kunsttradition und Beginn der Moderne, zwischen Prüderie und aufkommender Freikörperkulturbewegung« anschaulich zu machen – so die Absichtserklärung vonseiten des Museums. Obwohl die Ausstellung mit wenigen Leihgaben auskommt, was allerdings bedeutet, dass einige Schlüsselwerke von Corinth schmerzlich vermisst werden, gelingt dies doch im Zusammenspiel mit dem von der Kuratorin Barbara Martin verfassten Katalogbuch, in dem die angesprochene Thematik gründlich und differenziert abgehandelt wird. Damit schließt die Autorin an ihre früheren Studien zur Frau im Werk Alfons Muchas sowie zur Frau in der französischen Plakatkunst des späten 19. Jahrhunderts an und bietet dem interessierten Besucher eine ausgezeichnete Handreichung, die eine vertiefte inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Thema möglich macht.

Hinsichtlich der Darbietung des Materials folgt das Katalogbuch weitgehend der thematischen Gliederung der Ausstellung. Zentral und geradezu von programmatischer Bedeutung ist Corinths großformatiges, mit lockeren Strichen ausgeführtes Gemälde »Die Nacktheit« von 1908. Es zeigt eine sich auf einem Kanapee räkelnde nackte Frau, die den Betrachter aufmerksam bis einladend anzuschauen scheint. Kunstgeschichtlich stellt sich der Künstler mit diesem Bild in eine Traditionslinie, die über Manets »Olympia« und Goyas »Nackte Maja« bis zu Tizians »Venus von Urbino« zurückreicht. Zwei nackte Kindergestalten erinnern an antike Darstellungen von Eroten oder Amoretten und aktualisieren damit das klassische Venus-Motiv. Angeschlagen wird hier ein Grundtenor, der für Corinths Aktbilder insgesamt überaus charakteristisch ist, nämlich der einer ganz spezifischen sinnlichen Präsenz und erotischen Direktheit, die zuweilen bis hin zur dionysischen Steigerung reicht.

Obwohl sich die pralle Sinnlichkeit der Aktgemälde Corinths deutlich von der oft blutleer und stereotyp wirkenden akademischen Aktmalerei der zweiten Hälfte des 19. Jh. unterscheidet, ist nicht zu übersehen, dass der Künstler tief in der Akademietradition seiner Zeit wurzelt. Mag er sich hinsichtlich der bildnerischen Mittel schrittweise aus dem Korsett des Akademismus befreit und zu einem temperamentvollen Impressionismus, zuletzt sogar zu einer expressiven Bildsprache gefunden haben, so griff er in Bezug auf die Themenwahl doch zeitlebens immer wieder auf die von den Akademiemalern bevorzugten mythologischen und biblischen Stoffe zurück, allerdings nicht ohne sie »modern« zu interpretieren. Corinth war der Überzeugung, dass ein »Stoff [...] hundertfach behandelt sein [kann]: wie der [...] Künstler ihn auffaßt, das macht das Bild neu und zum Kunstwerk.« So präsentieren sich etwa die »Heimkehrenden Bacchanten« von 1898 jenseits aller akademischen Idealisierung, und das heißt, dass die nackten Akteure keinem klassischen Kanon folgen und »betont unvorteilhaft« erscheinen, »in der Darstellung des Rausches dabei aber umso glaubwürdiger.« (Barbara Martin) Hier wie auch in den zahlreichen druckgrafischen Blättern des Künstlers, die mythologische Szenen zeigen, begegnet der Betrachter keiner überhöhten Antike, keinen entrückten Göttern und erhabenen Helden, sondern irdischen, alltäglichen Gestalten. Das gilt sinngemäß ebenso für Darstellungen biblischer Ereignisse, etwa für das besonders ausdrucksstarke Blatt »Joseph und Potiphars Weib II« von 1915. Hier figuriert die nackte Liegende als hemmungslose Verführerin, der sich der Mann abwehrend zu entziehen sucht. Häufiger sind allerdings Darstellungen, in denen der physisch überlegene Mann den aktiven Part spielt, sei es als zupackender, besitzergreifender Verführer, sei es als ritterlicher Beschützer mit Helm und Harnisch. Dass sich Corinth mit dieser Rolle umstandslos identifizierte, belegen seine malerisch hinreißenden Selbstporträts mit seiner Frau Charlotte mit Sektkelch von 1902 und mit Pinseln und Palette von 1903 (beide leider nicht in Hannover) oder auch die Kaltnadelradierung »Der Ritter« von 1914, um nur einige Beispiele herauszugreifen.

Neben Darstellungen, die das Geschlechterverhältnis thematisieren, brilliert die Ausstellung im Landesmuseum mit einer Reihe von Aktbildern, die Frauen einzeln im Boudoir oder im Bad zeigen – ein Sujet, das insbesondere in der französischen Kunst des Fin de Siècle, etwa bei Degas und Toulouse-Lautrec – populär war und auch von Corinth gerne aufgegriffen wurde. Hier präsentieren sich die Modelle oft ruhend bzw. schlafend oder bei der Toilette (nicht selten figuriert Corinths Frau Charlotte als Modell), und mögen sie auch den Eindruck von Privatheit und Selbstvergessenheit erwecken, wird ihre Nacktheit vom Künstler doch bewusst zur Schau gestellt, so dass es sich mit den Worten der Kuratorin eher um Formen »inszenierter Intimität« handelt, die den männlichen Voyeurismus bedienen.

Meisterhaft in der Fokussierung auf die sinnlichen Reize des weiblichen Körpers ist Corinths ganz unkonventionell gesehene »Italienerin in gelbem Stuhl« von 1912, ein Bild, das ein Jahr, nachdem der Künstler einen Schlaganfall erlitten hatte, während eines Erholungsaufenthaltes in Bordighera an der italienischen Riviera entstand. Es ist eine Verherrlichung des Fleisches und mithin ein Aufbegehren des alternden Künstlers gegen Krankheit, Verfall und Tod. Ein blumengeschmückter, breitkrempiger Hut verbirgt vollständig das Gesicht der nackten Sitzenden, eine Pelzstola bedeckt ihren Unterleib, und die mit der hellen Haut kontrastierenden schwarzen Strümpfe steigern zusätzlich die erotische Ausstrahlung der Figur, die nicht als individuelle Person, sondern partialisiert nur als üppiger, das Sinnliche betonender Körper in Erscheinung tritt.

Die annähernd fünfzig Arbeiten von der Hand Corinths – Ölbilder, Handzeichnungen und Druckgrafiken – werden in der Hannoveraner Ausstellung durch zwei Gemälde von Max Slevogt (»Frauenraub«, 1905) und Albert Weisgerber (»Akt vor dem Spiegel«, 1908) sowie durch grafische Blätter u.a. von Degas, Renoir, Cézanne, Toulouse-Lautrec, Modersohn-Becker, Kirchner und Beckmann sowie durch Plastiken von Rodin, Degas und Maillol ergänzt. Sie schärfen auch den Blick für ganz unterschiedliche künstlerische Herangehensweisen an das Thema »Akt« im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert – u.a. auch unter dem Aspekt sich verändernder Praktiken der Künstlerausbildung an den Akademien und im Zuge der aufkommenden Freikörperkulturbewegung um 1900, die, eingebettet in den großen Kontext der Lebensreform, für Natürlichkeit, Ursprünglichkeit und die Befreiung des Körpers aus »bürgerlichen Zwängen« eintrat. Obwohl Corinth kein aktiver Anhänger des Naturismus war, kann sein überaus freizügiger Umgang mit Nacktheit doch als symptomatisch für »die Überwindung der Leibfeindlichkeit« um die Jahrhundertwende erachtet werden und sichert dem Künstler mithin einen »singulären künstlerischen Status«, wie Barbara Martin im Katalog zu dieser instruktiven Ausstellung abschließend feststellt.

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