Ausstellungsbesprechungen

Poesie der Großstadt: Die Affichisten, Schirn Kunsthalle, bis 25. Mai 2015

Im Jahr 1960 konstituierte sich als lockerer Zusammenschluss gleichgesinnter Künstler die Gruppe der »Nouveaux Réalistes«, gleichsam als französische Antwort auf den Aufstieg der englischen und amerikanischen Pop Art. Dazu gehörten auch die »Affichisten« François Dufrêne, Raymond Hains und Jacques Villeglé, die gewissermaßen eine eigene Fraktion bildeten. Die Schirn Kunsthalle ruft ihr fast vergessenes Werk nun in Erinnerung. Rainer K. Wick berichtet.

Eine Ausstellung, die Eindruck macht. Nicht nur wegen der großen Zahl der Exponate (rund 150), sondern auch, weil sie differenziert. Denn sie macht deutlich, dass die sogenannten Affichisten, drei Franzosen, ein Italiener und ein Deutscher, die in den 1950er und 60er Jahren die Ästhetik zerstörter, zerrissener Plakate entdeckten und explorierten, bei allen Gemeinsamkeiten doch sehr unterschiedliche künstlerische Positionen besetzten. Erarbeitet wurde die Ausstellung in der Frankfurter Schirn gemeinsam mit dem Museum Tinguely in Basel, wo sie schon von Oktober 2014 bis Januar 2015 lief. Ergänzt und unterstützt wird die unmittelbare sinnliche Erfahrung der ausgestellten Arbeiten durch ein lesenswertes Katalogbuch, das so etwas wie eine theoretische Annäherung an die Affichisten ermöglicht.

Sicherlich ist die Bezeichnung »Affichisten« problematisch. Denn sie beruht, wie Didier Semin im Katalog klarstellt, auf einem »Sprachmissbrauch«, ist doch »auf Französisch ein ‚affichiste‘ ein Grafiker oder Zeichner, der Plakate entwirft, kein Künstler, der sie zweckentfremdet.« Gleichwohl hat sich dieser Begriff im Kunstjargon längst als Label für jene fünf Künstler, die aus Plakatabrissen Kunst machten, durchgesetzt. Dabei wurde durchaus die sprachliche Nuance gepflegt. Bei Dufrêne ist von »dessous d’affiches« (Plakatrückseiten) die Rede, bei Hains von »affiches lacérées« bzw. bei Villeglé von »affiches déchirées« (zerrissenen Plakaten), bei Rotella von »Decollagen« und bei Vostell von »dé-coll/agen«.

Wenn die künstlerische Aneignung des Alltäglichen als ein gemeinsames Merkmal sowohl der englischen und nordamerikanischen Pop Art als auch des französischen Nouveau Réalisme der 1960er Jahre betrachtet werden kann, dann gilt dies – beginnend schon in den späten 1940er und frühen 50er Jahren – in ganz spezifischer Weise für die Werke der Affichisten. Sie entdeckten in den Straßen und auf den Plätzen von Paris und Rom den ästhetischen Reiz der von Menschenhand zerstörten oder von Wind und Wetter zerzausten Plakatwände, waren fasziniert von diesen »anonymen Plakatabrissen«, von diesen funktionslos gewordenen Relikten einer urbanen Kommunikationskultur, die sich – längst nicht mehr intakt und nur noch partiell entzifferbar – in oft zahllos übereinander geschichteten Papierlagen manifestierten. Anknüpfend an avancierte ästhetische Praktiken der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, nutzten die Affichisten dieses Material im Sinne des dadaistischen Ready mades bzw. des surrealistischen Objet trouvés, indem sie die zerrissenen Plakate von ihren Untergründen lösten und entweder unverändert als Kunstwerke präsentierten oder durch gezieltes Eingreifen, also durch Entfernen, Umstellen oder Hinzufügen einzelner Partien, umgestalteten. Stärker als in der Objektkunst der damaligen Zeit blieb dabei ihr ausgeprägter Bildcharakter erhalten, und gerade die frühen Plakatabrisse mit ihren unlesbaren Buchstabenfragmenten und abstrakten Farbflächen zeigen eine bemerkenswerte Nähe zur gegenstandslosen Malerei jener Zeit, also zur Bildsprache des Abstrakten Expressionismus und des Tachismus, gegen die die Affichisten eigentlich doch opponierten und die sie erklärtermaßen zu überwinden suchten. Erst um 1960 rückte dann, wie in der Pop Art, stärker die Ikonographie der Konsumwelt, des Starkults und der politischen Realitäten in den Vordergrund, was insbesondere für den Italiener Rotella und den Deutschen Vostell zutrifft.

Eine bedeutende Quelle, aus der die französischen Affichisten in ihrer Anfangsphase schöpften, war der 1945 in Paris gegründete Lettrismus. Es handelte sich um eine literarische Bewegung, die auf die Revolutionierung des traditionellen Sprachgebrauchs durch Reduktion auf einzelne Buchstaben und deren Neuzusammensetzung zu sinnfreien Lautgebilden zielte. Anfänglich ein führender lettristischer Aktivist, war François Dufrêne (1930-1982), im Jahr 1953 vom Lettrismus abgerückt und begann, sich der Ästhetik zerstörter, zerfetzter Plakate zuzuwenden. Dabei interessierte er sich in erster Linie für die Unter- oder Rückseiten der Plakate, also die »Dessous« mit den durch das Papier durchgeschlagenen, ölhaltigen Druckfarben und den seitenverkehrten Lettern, die sich zudem in umgekehrter Leserichtung zeigten. Indem er »in einer Folge von Decollagen und Grattagen [...] durch ein, zwei, drei oder vier Stockwerke hindurch« in quasi-archäologischer Manier die Schichten der Plakatwände zu durchdringen und partiell freizulegen suchte, gelangen ihm Tableaus von abstrakt-lyrischer Qualität, die jene »Poesie der Großstadt« entfalten, die für die Frankfurter Schau titelgebend gewesen ist.

Eine enge Freundschaft verband die gleichaltrigen Künstler Raymond Hains (1926-2005) und Jacques Villeglé (geb. 1926), die sich 1946 an der Kunstschule in Rennes kennengelernt hatten und schon früh als »Räuber zerrissener Plakate« auftraten. 1949 schufen sie mit dem Gemeinschaftswerk »Ach Alma Manetro« den ersten kunstgeschichtlich verbürgten Plakatabriss. Es ist offensichtlich, dass diese großformatige Arbeit mit den dominierenden Farben Schwarz, Rot und Ocker dem Lettrismus nahesteht, haben doch die fragmentarischen Schriftzeichen in den meisten Fällen ihre Form, ihre Lesbarkeit und mithin ihren ursprünglichen Sinngehalt verloren. Produktionsästhetisch bemerkenswert ist nicht nur, dass die beiden Künstler hier als Kollektiv agierten, sondern mehr noch, dass die »affiches lacérées« bzw. »affiches déchirées« dem Wirken unbekannter Kräfte zugerechnet, also gleichsam als Ergebnis anonymer Werkprozesse begriffen wurden. In dem Maße, wie der Tachismus seine Autorität einbüßte, tauchten in den zuvor tendenziell ungegenständlichen Plakatabrissen von Hains und Villeglé auch gegenständliche Motive auf, die konkrete zeitgeschichtliche Bezüge erkennen lassen, so etwa Anspielungen auf den Algerienkrieg 1961 oder auf den Pariser Mai von 1968.

Unter dem Eindruck der gegenstandslosen Kunst der 1950er Jahre überwog anfänglich auch bei Mimmo Rotella (1918-2006) das Interesse an abstrakten Formen, gegen 1960 verlagerte sich der Schwerpunkt aber auf fragmentarisches Material von Reklamebildern und Kinoplakaten, das er durch Abreißen, Anordnen und erneutes Abreißen transformierte. Intensiv hat sich der Künstler des populären Motivhaushalts der Konsumwerbung bedient, und zahlreiche Decollagen thematisieren den Glamour der Traumfabrik mit Marylin Monroe als der zum Mythos gewordenen Hollywood-Ikone par excellence, die auch Andy Warhol oder Richard Hamilton zu signifikanten Werken der Pop Art angeregt hat. Die Tatsache, dass Rotella mit zerrissenen Materialien und zerstörten Formen operierte, macht allerdings deutlich, dass er bei aller südländischen Sinnlichkeit, die sein Œuvre auszeichnet, sowohl den Verheißungen des Konsums als auch den Verlockungen des Kinos kritisch gegenüberstand. Zwar hat er seine Decollagen einmal eher neutral als »soziologische Dokumentationen« bezeichnet, doch sprach er auch von der Decollage als seiner »persönlichen Form des Protestes gegen [die] Gesellschaft«.

Gesellschaftskritik ist der Dreh- und Angelpunkt der gesamten künstlerischen Arbeit von Wolf Vostell (1932-1998), die sich unter dem Leitbegriff der »dé-coll/age« zusammenfassen lässt. Gewöhnt an die kriegszerstörten Großstädte Deutschlands, war er der junge Student der Wuppertaler Werkkunstschule bei seinem ersten Paris-Besuch 1954 überrascht, »dass es keine Ruinen wie in Deutschland gab, jedoch mehr zerrissene Plakate als lesbare, ganze [...].« Gleichsam als Schlüsselerlebnis kam für ihn die Lektüre eines Artikels auf der Titelseite des »Figaro« vom 6. September 1954 hinzu, in dem über den Absturz eines Passagierflugzeugs der KLM mit 28 Todesopfern berichtet wurde. Er begann mit der Schlagzeile »Peu après son décollage [...]« und schilderte, dass die Maschine kurz nach dem Abheben vom irischen Flughafen Shannon in den nahen Fluss gestürzt sei. Elektrisiert von der Mehrdeutigkeit des Begriffs »décollage«, der nicht nur den Start oder das Aufsteigen eines Flugzeugs meint, sondern laut Langenscheidts Lexikon auch das »Losmachen [...] des Geleimten« (also das Gegenteil von Collage) und im übertragenden Sinne sogar »Sterben« bedeuten kann, machte Vostell die »dé-coll/age« (so die von ihm bevorzugte Schreibweise) zum zentralen Konzept seines gesamten Œuvres. Dazu gehörte, zumal in seinem Frühwerk, auch die intensive künstlerische Auseinandersetzung mit abgerissenen, zerstörten Plakaten, mit ihrer Ästhetik wie mit ihren inhaltlichen Aspekten. Hier wie in seinen späteren großen Happenings ging es ihm darum, in aufklärerischer Absicht und mit moralischem Anspruch den Menschen die Omnipräsenz destruktiver Kräfte bewusst zu machen. Anfänglich hat Vostell Plakatrelikte von Mauern und sonstigen Trägermaterialien abgelöst und in Skizzenbücher eingeklebt, später gewann dann der performative Aspekt mehr und mehr an Bedeutung. So fand im Jahr 1958 in Paris unter dem Titel »Das Theater ist auf der Straße« eine »dé-coll/age-Demonstration« statt, bei die informierten Teilnehmer wie auch zufällig vorbeikommende Passanten aufgefordert wurden, die Buchstabenfragmente auf den zerrissenen Plakaten laut vorzulesen – das Erbe des Lettrismus ist unmittelbar greifbar – und »die Plakate weiter ab[zureißen], so dass ständig neue Texte und Bildfragmente entstehen.« Es ist sicherlich nicht abwegig, dieses erste europäische Happening mit Publikumspartizipation als praktische Umsetzung der bekannten Devise des französischen Dichters Lautréamont aus dem 19. Jahrhundert zu verstehen, nämlich dass »die Poesie von allen gemacht werden« müsse, »nicht nur von einem«. In zum Teil großformatigen Plakatdecollagen wie »Coca Cola« oder »Ihr Kandidat« (beide 1961) hat Vostell dann überaus kritisch auf prototypische Zeiterscheinungen wie die übermächtige persuasive Konsumwerbung oder die im Bundestagswahlkampf grassierende politische Propaganda reagiert und damit eine entschiedene Gegenposition gegen die tendenziell affirmative Haltung der amerikanischen Pop Artisten eingenommen.

Herausragende Schlüsselwerke und ein exzellentes Katalogbuch mit großformatigen Farbabbildungen machen die Frankfurter Schau zu einem kulturellen Ereignis.

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