Ausstellungsbesprechungen

Thomas Zipp – White Rabbit (Martin Luther), St. Petri Lübeck, bis 2. April 2017

Nicht alle der gotischen Altstadtkirchen Lübecks dienen noch einer Gemeinde. St. Petri, die im Krieg fast restlos zerstörte Fischerkirche, wurde zur Kultur- und Universitätskirche, und so finden dort neben einem Weihnachtsmarkt gelegentlich auch Vorlesungen statt, und für Konzerte und Ausstellungen aller Art eignet sie sich schon ihrer Leere wegen. Kein Gottesdienst, kein Gestühl! In diesen Wochen dient sie einer Installation Thomas Zipps. Stefan Diebitz hat die Prozession zur Einweihung und die Ausstellung besucht.

1966 geboren, ist Thomas Zipp, Maler und Performance-Künstler, seit vielen Jahren auch international aktiv; dazu lehrt er seit 2008 an der Universität der Künste in Berlin. In der Ankündigung des Projektes hieß es, dass seine Arbeiten »von einem intensiven Dialog zwischen Geschichte, Naturwissenschaft, Psychologie und Religion, sowie von Philosophie, Gesellschafts- und Kunstgeschichte geprägt« sind. Nicht schlecht! Hier scheint es einen gewissen Drang zum Großen und Ganzen zu geben, aber vorsichtshalber wird trotzdem noch einmal nachgelegt: »Vorstellungen von Gut und Böse, Wahrheit und Unwahrheit, Norm und Abweichung, Körper und Geist, Besessenheit, Ekstase, Spiritualität und Sexualität sind Zipps Inspirationsquellen.« Ohne jede Ironie: Dieser völlig maßlose Anspruch kennzeichnet das ganze Projekt, dessen Thema man gar nicht zu nennen weiß. Sind es etwa (psychiatrische) »Störungen«? Es findet sich auch ein Tisch mit psychiatrischer Fachliteratur, und dazu sollen Vorträge zum Thema die Installation begleiten.

Bei dem Titel »White Rabbit (Luther)« wird mancher an einen Song denken, den Jefferson Airplane in Woodstock zum Besten gegeben haben. Ein Drogensong, der der Gruppe so viel Ablehnung wie Zustimmung eintrug: »One pill makes you larger / And one pill makes you small«. Tatsächlich aber scheint es eher das Häschen aus »Alice in Wonderland« zu sein, das für den Titel Pate stand.

Worum also geht es überhaupt? Bei der Vorstellung war zunächst vom Unterbewusstsein die Rede und davon, dass es uns alle furchtbar kränkt, weil wir »nicht mehr Herr im eigenen Haus« sind. Ja, und auch Luther hat in seiner Schrift »De servo arbitrio« die Freiheit des Menschen bestritten. Wäre dies das Missing Link zwischen Freud und Luther? Denn in Form zweier einander gegenüberstehender Büsten stellen die beiden Herren eine gewisse Polarität her, der eine ohne Gesicht (Luther), der andere mit einem leuchtenden Augenpaar.

Eigentlich muss Luther ja schon deshalb eine Rolle spielen, weil wir das Jahr der Reformation feiern, und auch die Installation Zipps zieht mit und gliedert sich ein. Um in dieser Kirche das Maß der Religiösität voll zu machen, wurde sogar noch ein zusätzliches Taufbecken aufgestellt. Dann kanns ja losgehen! Schließlich und endlich, um endgültig dem Jahr der Reformation zu huldigen, finden sich an den Pfeilern der Kirche Texte. Und was für welche!

Es sind nämlich die 95 Thesen, die Luther der Sage nach als Gründungsdokument der Reformation an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg genagelt hat. Lesen kann oder soll man sie in einer von Zipp selbst entwickelten Schrift, deren Buchstaben alle runden Teile fehlen. Das ist deshalb nicht ganz unwichtig, weil man die Thesen schon dieser eigenwilligen Schrift wegen kaum entziffern kann; bei der Eröffnung habe ich jedenfalls niemanden gesehen, der sich in sie vertieft hätte. Außerdem sind die Thesen, die Luther ja ursprünglich auf Latein verfasste, in St. Petri auf Englisch zu finden. Auf den Gedanken, des Reformators in einer deutschen Kirche mit einer englischen Übersetzung zu gedenken, muss man wirklich erst einmal kommen.

Auf jeden Fall kann von einer Auseinandersetzung mit diesen Thesen, die ohnehin größtenteils mehr Theologen interessieren werden als das gemeine Publikum (zum Beispiel den theologisch gänzlich ungebildeten Rezensenten), keinesfalls gesprochen werden.

Zu den Texten an den Pfeilern kommen dann noch die Porträtbüsten sowie einige großformatige Bilder an den Wänden. Auch wurde Gestrüpp abgeladen und von Schülern in weißen Schutzanzügen kleingeschnippelt. Schließlich und endlich war es Zipp schon vor Jahren gelungen, nach ihrer Verschrottung die Kappen von Cruise-Missiles zu erwerben, und so hat er nicht Schwerter zu Pflugscharen, wohl aber Cruise-Missiles zu Vasen umfunktioniert. Ja, und es gab auch noch bunte Ballons. Und eine Maschine, die Kirchenläuten imitierte.

Ich selbst glaube an schlechterdings überhaupt nichts, sondern in mir erstreckt sich eine Wüste des Unglaubens, aber es verstört mich trotzdem, wenn man eine alte, sogar eine sehr alte und sehr ehrwürdige Kirche einfach nur als einen Behälter nimmt, um in ihr ein Publikum mit seinen Sachen bekannt zu machen – äh, um den Raum zu bespielen. Wie wäre es, wenn man sich einmal ernsthaft auf das Gebäude als Kirche einließe, wenn man diesen Haufen Steine also nicht nur als ästhetisches Erlebnis nähme, als einen interessant gegliederten, unnötig großen und nur schwer beheizbaren Raum mit schönen Lichteffekten, sondern wenn man ihm das Offensichtliche zugestünde, nämlich dass er zur Feier und für die Anbetung eines Gottes errichtet wurde?

Vielleicht sollte man es wenigstens überhaupt einmal wieder versuchen, religiöse Inhalte im Bild zu erfassen? Sieht denn niemand, dass die weißen Wände und die Pfeiler nicht allein dieser Kirche nach Bildern und Plastiken geradezu schreien? Wie kommt es, dass unsere Zeit, obwohl doch viele Menschen sich selbst als gläubig ansehen, diesen Glauben nicht mehr bildhaft werden lassen kann? Hat das mit der Kraftlosigkeit und Beliebigkeit des Glaubens zu tun, mit der Bilderfeindlichkeit der Reformation oder mit der Impotenz einer Kunst, die keine einprägsamen und berührenden Bilder mehr schaffen kann? Man darf hier an die Plastiken Ernst Barlachs und Gerhard Marcks‘ erinnern, welche die Fassade der Lübecker Katharinenkirche – nein, schmücken wäre nicht das richtige Wort, das ich aber nicht finden kann. Vielleicht: die von einer gotischen Fassade auf uns herabschauen.

Macht es nicht eines der Merkmale der europäischen Kultur aus, dass sie das Leiden des Menschen Gestalt werden ließ? Dass sie eindrucksvolle Symbole fand und den Menschen über das Bild zu erreichen versuchte, mit Geschichten, Gesichtern und Gesten? Auch profane Kunst, Literatur und vor allem der Film sind davon durchtränkt. Was aber finden wir, wenn wir St. Petri besuchen? Es sind weiße Mauern mit einem dünnen Farbstreifen an den Pfeilern in schwindelnder Höhe, und an einer Stelle wird der Toten des Ersten Weltkrieges gedacht. Das war es aber auch schon.

Der leichtfertige Umgang mit der Religion und mit ihren Symbolen, der dieses Projekt auszeichnet, steigerte sich noch einmal, als die Installation am 19. Februar mit einer Prozession eröffnet wurde, die vom Pavillon der Overbeck-Gesellschaft durch die Lübecker Altstadt zu St. Petri führte. Für diesen Marsch konnte der Künstler achtzehn Schüler gewinnen, denen man ein Instrument in die Hand drückte, damit sie ordentlich Krach machten. Nun, das hat funktioniert; so etwas muss man den Kindern nicht zweimal sagen. So kam ein schöner lauter Zug zusammen, und am Straßenrand blieben die Leute stehen und wunderten sich. Vorneweg aber ging eine junge Frau und schwenkte eine Weihrauchampel. Wurde in ihr wirklich Weihrauch verbrannt, durchzog dieser Geruch ein erstes Mal seit 1530 wieder die Petrikirche, ohne dass er, für viele ein Symbol des Katholizismus, irgendwie beachtet oder gar für anstößig befunden wurde? Nein, es war so unecht wie das Glockenläuten aus der Maschine.

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