»Utopisch« nennen wir Ideen, Vorstellungen, Konzepte, die uns realitätsfern scheinen. Wir verbinden damit ideale Verhältnisse, die zumeist literarisch beschrieben sind. Das Mittelalter und seine Idealentwürfe bleiben oft außen vor ebenso wie praktische Auswirkungen solcher Konzepte. Genau in diese Lücke schlägt der Sammelband. Ulrike Schuster hat darin interessante Gedanken entdeckt.
Das Thema der Utopie ist zeitlos aktuell. Gerade in Zeiten wie diesen wächst die Sehnsucht nach idealen Orten! Während seiner langen Geschichte hat man Utopia in fernen Ländern verortet, auf entlegenen Inseln, in den geistigen Gefilden eines Platons und Aristoteles, in den staatstragenden Gedanken der gelehrten Humanisten. Neu dagegen ist die Schwerpunktsetzung auf dem Mittelalter.
Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes ist das renommierte Forum Mittelalter an der Universität Regensburg, wo man seit vielen Jahren innovative Wege in der Forschung zur Stadtgeschichte beschreitet. Bislang traute man der mittelalterlichen Epoche die Kraft zum utopischen Gestalten nicht so recht zu. Es galt das Diktum von der gewachsenen Stadt, worunter man gemeinhin ein regelloses Durcheinander von Bauwerken, ohne stringente Raumplanung verstand. Davon kann jedoch keine Rede sein, weshalb die Fachwelt schon seit geraumer zeit gegen diesen Topos ankämpft.
Mittelalterliche Städte unterlagen sehr wohl raumplanerischen Gedanken. Eindrucksvoller Beleg dafür sind die großartigen italienischen Stadtanlagen wie Siena, Bari oder Palermo, die Francesca Bocchi in ihrem Beitrag beleuchtet. Auf die Region des Alpenraums bezogen, erläutert Armand Baeriswyl das Prinzip der Städtegründung anhand der sogenannten Zähringerstädte. Ähnlich wie die Staufer oder die Wittelsbacher in Deutschland, engagierte sich das Geschlecht der Zähringer ab dem frühen 12. Jahrhundert in einer Gründungswelle und förderte damit die wirtschaftliche Entwicklung auf dem Gebiet der heutigen Schweiz.
Die Zähringersiedlungen orientierten sich an einem durchgehenden Achsenkreuz und einem modularen Grundraster für die Überbauung der Stadt. Baeriswyl setzt sich allerdings sehr kritisch mit den Termini von »Wachstum« versus »Planung« auseinander: Mittelalterliche Stadtplanung verlief grundsätzlich rational nach geometrischen Grundverständnis, so sein Resümee. Andererseits wurde aber versucht, bestehende Strukturen so weit als möglich zu berücksichtigen und einzubeziehen. Nur in den seltensten Fällen geschahen Stadtgründungen im völlig unbesiedelten Niemandsland. Sinnvollerweise erfolgten sie dort, wo bereits Infrastruktur vorhanden war, und die Neusiedlungen fügten sich ein in bestehende Verkehrswege, Flussübergänge, ältere Siedlungskerne und Grundstücksgrenzen. Die Unregelmäßigkeiten im Stadtgrundriss sind also kein Zeichen von mangelnder Planung, sondern zeugen, ganz im Gegenteil, von einem bedachten Vorgehen.
Die urbane Infrastruktur war durchaus reichhaltig, wie Frank G. Hirschmann in seiner Analyse von Königs- und Bischofspfalzen zwischen dem 10. bis 12. Jahrhundert konstatiert. Neben Sakralbauten verfügten die Städte bald schon über karikative Einrichtungen wie Hospitäler. Man erneuerte das Straßen- und Brückennetz aus römischer Zeit oder errichtete sie neu, aber auch Mühlen und künstliche Wasserläufe gehörten bereits zum öffentlichen Bauprogramm. Insbesondere den Stadtmauern maß man einen außerordentlich hohen Stellenwert zu, hatten diese neben der militärisch-strategischen Schutzfunktion zudem eine sakrale Bedeutungsebene, dienten als Verweis auf die Himmelsstadt.
In die Frühzeit der Utopie führen die Aufsätze von Dieter Mertens und Dominik Maschek. Sie widmen sich den griechischen Kolonien im archaischen Zeitalter. Nach Schachbrettraster in gleichmäßige Parzellen aufgeteilt, schien der Traum von der Gleichheit aller Neubürger zum Greifen nahe. Trotzdem wurde er bereits in seinen Anfängen unterlaufen. Die Diskrepanz zwischen »erdachtem, erzähltem und gebautem Raum« lieferte schon im Altertum den Stoff für Auseinandersetzungen. Das Thema gab Anlass zu Satire und Spott, doch es verstand sich auch als Mahnung vor der Hybris und der Megalomanie. Reinhold Bichler betrachtet das Phänomen der despotischen Herrschaft im Spiegel phantastischer Stadtanlagen. Babette Edelmann-Singer beschreibt die Stadtgestaltung unter Kaiser Nero, die als urbanistische Utopie gleichermaßen fungierte wie als politische Dystopie.
Tobias Nicklas, Reinhard Meßner und Bianca Kühnel setzten sich mit demjenigen Themenkomplex auseinander, der die Utopie des Mittelalters schlechthin verkörpert: das Himmlische Jerusalem und dessen Niederkunft auf Erden. Auf dieses Ereignis bezog man sich beispielsweise im Kirchweihritual oder in Jerusalembildern im Rahmen von Prozessionen.
Den Abschluss des Sammelbandes bilden Hubertus Günthers Betrachtung über die utopischen Städte Sforzinda und Plusiapolis des Renaissance-Baumeisters Antonio Averlino, genannt Filarete. Günther verschreibt sich der Rehabilitierung eines Vielgescholtenen, der schon von seinen Zeitgenossen belächelt wurde. Im Abstand der Jahrhunderte leuchtet ein milderes Licht auf Filarete. Dieser war ein großer Visionär und ein begabter Zeichner, nur leider grottenschlecht im schriftlichen Ausdruck. Wer sich durch seinen holprig verfassten Text hindurchkämpft, wird dabei tatsächlich auf verborgene Schätze stoßen. Ob man ihn deshalb sogar höher einschätzen sollte als seinen berühmten Zeitgenossen Alberti, darüber mag die Fachwelt sich streiten.
Lesenswert sind die versammelten Beiträge allemal. Sie werfen ein neues Licht auf den komplexen Diskurs der Utopie, in dem das letzte Wort noch lange nicht gesprochen, die letzte Analyse noch nicht geschrieben ist.