Andreas Schumacher (Hg.): Venezia 500 - Die sanfte Revolution der venezianischen Malerei. Hirmer Verlag

Keine Gondeln, kein Blick von der Rialto Brücke auf den Canal Grande, kein Bild vom Markusplatz. Dennoch transportieren die unter dem Katalog- und Ausstellungstitel „Venezia 500“ versammelten Bilder das Lebensgefühl der Gesellschaft in der Lagunenstadt um 1500. Die arkadischen Landschaften und idealisierten Porträts spiegeln in unsicheren Zeiten die Sehnsucht einer hochgebildeten Gruppe von Kunstliebhaber:innen nach Harmonie zwischen Natur und Kunst, Individuum und sozialer Rolle. Torsten Kohlbrei hat sich von den Katalogautor:innen der Alten Pinakothek in die eleganten Kreise der venezianischen Kunstenthusiasten einführen lassen.

Cover © Hirmer Verlag
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Wie ist das wohl gewesen im Haus von Gabriele Vendramin, wenn sich der Hausherr und sein Freundeskreis trafen, über Poesie sprachen und angesichts von Gemälden mit kunstvollen, aber auch schlüssellosen Bildrätseln den eigenen freien Blick einübten. War das mehr als Vergewisserung der gesellschaftlichen Rolle, die nicht nur vom „cortegiano“, sondern auch von der fortschrittlichen Elite Venedigs „sprezzatura“ verlangte, jene lässige Anmut, der machtvolle Statussymbole wenig galten und die auf eine so stille wie selbst bewusst präsentierte Individualität baute?
Andreas Schumacher hebt in seinem Katalogbeitrag hervor, dass die jungen Sammler nicht leichtfertig einer Mode folgten. Für ihre zur Schau getragene Innerlichkeit nahmen sie den konservativen Vorwurf eines eleganten Eskapismus und der Vernachlässigung ihrer Pflichten im politischen, wirtschaftlichen sowie militärischen Kampf Venedigs um Souveränität in Kauf.

Blick ins Buch © Hirmer Verlag
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Wenige Katalogseiten später erfahren wir von Chriscinda Henry, dass sich Besucher wie Albrecht Dürer, der gleich zweimal in der Stadt arbeitete (1494/95, 1505-07), sehr beeindruckt zeigten von den Treffen der Kunstfreunde und wohl auch wenigen Kunstfreundinnen, die enge Konventionen hinter sich ließen und einen freundschaftlichen Austausch lebten: „Hy pin jch ein her, doheim ein schmarotzer.“
Die „Ridotti“ genannten Zusammenkünfte, bei denen auch über Naturwissenschaft und Medizin diskutiert wurde, waren wohl vieles zu gleich: modische Attitüde, elitäre Weltflucht und aufregende Entdeckungsreise zur eigenen Individualität durch ästhetische Differenzerfahrung.
Bis heute in Erinnerung geblieben sind von den Sammlerkreisen die Namen der bildenden Künstler sowie ihre Arbeiten. Und um die geht es dem Kurator und Herausgeber Andreas Schumacher vor allem. Das beim Leser geweckte Interesse an den Treffen der kunstsinnigen Gruppen ist sozusagen ein Nebenprodukt fürs breite Publikum. Im Vordergrund steht ein Forschungsprojekt an der Alten Pinakothek, das in einen neuen Bestandskatalog der venezianischen Malerei des 15./16. Jahrhunderts münden soll.
Die Ausstellung und der acht Aufsätze umfassende Katalog versteht sich daher als ein erster, unvollständiger Einblick in die neugewonnenen Erkenntnisse der interdisziplinären Teams. So hebt Chriscinda Henry am Umgang der venezianischen Meister mit „arkadischer Ikonographie“ und antiken Skulpturen die „Selbstreferenzialität, eine Vorliebe für Materialität und eine Neigung zur illusionistischen Kombination verschiedener künstlerischer Medien zu komplexen Montagen“ hervor.

Blick ins Buch © Hirmer Verlag
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Johannes Grave geht dem „genuin venezianischen Bildverständnis“ nach, das sich durch „Prozessualität und Performativität eines Schauens, Deutens und Denkens“ äußert, dabei die eindeutig dechiffrierbare Botschaft dem individuellen Seeerlebnis unterordnet. Einen wichtigen Impuls für dieses fast zeitgenössisch anmutende Bildkonzept findet er überraschenderweise in der spätmittelalterlichen Praxis der Allegorese, die jedem Objekt eine Vielzahl an sich gelegentlich sogar widersprechenden Bedeutungen zuwies: „ein Löwe konnte sowohl für Christus als auch für den Teufel stehen.“
Catherine Whistler lenkt die Aufmerksamkeit auf Giulio und Domenico Campagnolo. Anhand der Blätter von Vater und Adoptivsohn sowie des zeitgleich tätigen Tizian wird der experimentelle Umgang mit dem Medium Druckgraphik herausgearbeitet.
Antonio Mazzotta beschäftigt sich mit einem „Bildnis eines jungen Mannes“ aus der Alten Pinakothek und sieht hier nicht die Hand von Palma il Vecchio, sondern argumentiert für eine Zuschreibung an Giorgione. Er zeigt, dass dieses „ritratto di spalla“ auf eine von Leonardo, der sich 1500 in Venedig aufhielt, erfundene, häufig rezipierte Bildformel zurückging. Das „Schulterblick-Porträt“ Giorgiones hat – so das Forschungsergebnis von Mazzotta – dann seinerseits verschiedene Arbeiten der venezianischen Malerei inspiriert.
Johanna Pawis gibt einen direkten Einblick in die Forschungen der Alten Pinakothek und fasst die Analysen zu drei Bildern zusammen, deren Zuschreibungen zu Tintoretto, Veneto und Giorgione diskutiert werden.
Nach dem die Schwerpunkte des forschenden Interesses zunächst auf arkadische Landschaften und männlichen Selbstdarstellungen gelegt werden, richtet Theresa Gatarski den Blick auf die belle donne, einen Bildtypus, der Frauen sinnlich, selbstbewusst darstellt. Die Halbfigurenbildnisse wurden von Giorgione eingeführt („Laura“, 1506) und bisher ist anscheinend nicht zu klären, ob es sich um geschönte Bildnisse oder pure Erfindungen der männlichen Fantasie handelt. In jedem Fall fügen sich die „lyrischen Porträts“ in den Grundton der venezianischen Malerei ein, der mit einer gewissen Deutungsoffenheit sehnsüchtig auf die individuelle Begegnung von Harmonie und Schönheit ausgerichtet war. Sie lieferten Kontrastbilder zu einer unsicheren Gegenwart, in der Venedigs Zukunft als politisches und wirtschaftliches Kraftzentrum angesichts des Verlusts seiner oberitalienischen Gebiete ab 1509 und der Verlagerungen von Handelsströmen infolge der Entdeckung Amerikas sowie der Seeroute nach Indien bedroht war.

Henry Kaap stellt eine weitere bella donna vor. Anhand des um 1585 vom römischen Maler Scipione Pulzone gemalten Bilds der Bianca Capello zeigt der Autor wie Porträts im öffentlichen Diskurs genutzt wurden. Er verweist dabei auf „Politiken der Verbundenheit“, die genealogische Bezüge strategisch aufscheinen ließen und durch die Mobilität der Kunstwerke sowie die Entsendung von Künstlern an fremde Höfe zum kalkulierten Austausch zwischen politischen und künstlerischen Einflusssphären beitrugen. Mit den „Poetiken des Begehrens“ erinnert er an Präsentationsformen, bei denen die Betrachter zunächst einem verdeckten Bild begegneten, das dann theatral überhöht enthüllt wurde. Die Inszenierung einer Arbeit oder auch einer ganzen Sammlung unterstützte dabei eine Kunstanschauung, die den Betrachter fesseln und seinen Alltag vergessen lassen sollte.
Annette Kranz blickt aus der Perspektive deutscher Auftraggeber auf die venezianische Kunstszene und verfolgt das nordalpine Interesse an einem Porträt von Bellini, Catena oder Paris Bordone und Leandro Bassano. Warum wünschten insbesondere die reichen Kreise aus der Handelsmetropole Augsburg ihr Bild mit venezianischer Handschrift gemalt? Venedig definierte im 16. Jahrhundert die künstlerische „bench mark“ für Porträts. Es passte also ins politische Kalkül, wenn Mitglieder der Familie Fugger durch ambitionierte Malerei ihren Ausnahme-Status verewigt sehen wollten.
Mit dem Blick aus dem Norden schließt sich der Kreis der Betrachtung. Nach 256 Seiten spürt der Leser den Nachdruck und die Sorgfalt, mit der das Forscherteam sein Projekt vorantreibt. Gut, dass wir ihren Diskurs verfolgen dürfen. Gut, dass es noch Museen gibt, die außeruniversitäre Forschung betreiben. Und schön, dass wir dank dieser augenöffnenden Arbeit ahnen können, was die Betrachter vor 500 Jahren sahen: Menschen mit einem Traum. Persönlichkeiten, reich an Rätseln.

Titel: Venezia 500. Die sanfte Revolution der venezianischen Malerei.
Verlag: Hirmer, München (für Bayerische Staatsgemäldesammlungen)
Beiträge von: T. Gatarski, J. Grave, C. Henry, H. Kaap, A. Kranz, A. Mazzotta, J. Pawis, A. Schumacher, C. Whistler
256 Seiten, Farbig und s/w
Sprache Deutsch
ISBN: 978-3-7774-4174-0

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