Ausstellungsbesprechungen

Antike Plastik 5.0:// Dokumentationsmedien in der Archäologie, Akademisches Kunstmuseum Bonn, bis 21. Dezember 2014

Schon kurz nachdem die Ausstellung »Ferne Zeit« ihre Pforten geschlossen hatte, wurde in der letzten Oktoberwoche in den Hallen des Akademischen Kunstmuseums am Bonner Hofgarten eine neue Schau eröffnet, deren Titel etwas kryptisch anmutet, aber auch neugierig macht: »Antike Plastik 5.0://«. Rainer K. Wick erklärt, was dahinter steckt.

Abgesehen davon, dass man das »5.0« als Anspielung auf das 50-jährige Bestehen des Kölner Forschungsarchivs für Antike Plastik, das maßgeblich an der Konzeption und Gestaltung der Bonner Ausstellung beteiligt ist, verstehen kann, mag man spontan an das aktuelle Hightech-Großprojekt »Industrie 4.0« denken, in dem es um die fortschreitende Informatisierung der Fertigungstechnik geht. Der Doppel-Slash erinnert an die Computersprache. Damit wird ein Gegenwartsbezug, ja eine Zukunftsperspektive angedeutet, die dem verbreiteten Klischee, Archäologie sei eine Angelegenheit rückwärtsgewandter Eskapisten, die in der Erde buddeln und sich in verstaubten Archiven verkriechen, Hohn spricht. Tatsächlich bedient sich die heutige Archäologie modernster naturwissenschaftlicher Methoden, und die Archäoinformatik, also die elektronische Datenverarbeitung in der Archäologie, ist längst zur Selbstverständlichkeit geworden. Die Bonner Ausstellung thematisiert in vier Etappen die historische Entwicklung der Dokumentationsmedien in der Archäologie von den großen Stichwerken des 17. Jahrhunderts über den Gipsabguss und die Fotografie bis hin zu avancierten Darstellungstechniken wie 3D-Simulationen und 3D-Modellen.

Im Rahmen der Forschung wie auch der Vermittlung ihrer Erkenntnisse ist sowohl für die Kunstgeschichte als auch für die Archäologie die angemessene Visualisierung der relevanten Gegenstände von ausschlaggebender Bedeutung.

Schon seit der Renaissance war die Vervielfältigung von Abbildungen antiker Kunstwerke in Form von Kupferstichen allgemein verbreitet. Diese Stichwerke, voluminöse Folianten mit in den Text eingebundenen Grafiken oder separaten Tafelabbildungen, bedienten antiquarische Interessen, fanden Zuspruch bei Sammlern und dienten bildenden Künstlern als Formenschatz. Noch lange bevor sich die klassische Archäologie als akademische Disziplin herausbildete, schuf der französische Gelehrte Bernard de Montfaucon mit seinem ab 1719 publizierten mehrbändigen Stichwerk »L’Antiquité expliquée et représentée en figures«, das Illustrationen von knapp 40000 Objekten enthält, die bedeutendste Bildersammlung antiker Skulpturen seiner Zeit. Andere Autoren folgten seinem Beispiel, und im 19. Jahrhundert wurde der Kupferstich mehr und mehr vom Stahlstich und dann auch von der Lithografie abgelöst.

Die in der Bonner Ausstellung aufgeschlagene Seite aus dem Stichwerk Montfaucons mit der Abbildung des berühmten »Sterbenden Galliers« (3. Jh. v. Chr.; Kapitolinische Museen, Rom) leitet zu einem zweiten für die Archäologie wichtigen Reproduktions-und Dokumentationsmedium über, zum Abguss. Neben Originalen aus dem griechisch-römischen Kulturkreis beherbergt das Bonner Akademische Kunstmuseum eine der größten, nahezu lückenlosen Sammlungen Deutschlands mit Gipsabgüssen antiker Bildwerke, so auch den gerade erwähnten Gallier. Gerade in dieser enormen Akkumulation maßgeblicher Plastiken aus griechischer und römischer Zeit wird die Bedeutung des Abgusses für Forschungs- und Lehrzwecke unmittelbar deutlich, denn »Abgüsse erlauben [...] den direkten Vergleich von Skulpturen, die im Original auf unterschiedliche Städte und Museen verteilt sind« und fördern so in besonderer Weise das „vergleichende Sehen«, wie Nele Schröder im Katalogbuch hervorhebt. Haben Gipse als Studienobjekte an Kunstakademien längst ausgedient – kritisiert wurde von der Avantgarde, dass die »Jungen zur masturbatorischen Imitation klassischer Modelle« gezwungen werden und dass die Akademien nichts anderes als »Leichenhallen« seien, in deren »kalten Räumen [sich] nur Tote« befinden und in die kein »Hauch der Außenwelt« eindringe (nach Pevsner, Die Geschichte der Kunstakademien) – spielt der Abguss in der Archäologie nach wie vor eine unverzichtbare Rolle. Er macht die Dreidimensionalität und den Maßstab einer Skulptur unmittelbar erfahrbar, auch ihre räumliche Präsenz, was weder der Stich noch die Fotografie leisten können, und die Reproduktion der Oberfläche ist überaus genau. Allerdings zeigt der Gipsabguss nur die reine Form, also weder Materialeigenschaften noch Farbspuren. Das kam den ästhetischen Maximen der Klassizisten um 1800 zweifellos sehr entgegen, ließ den Abguss antiker Bildwerke später aber in Misskredit geraten.

Zweidimensional wie der Stich ist auch die Fotografie. Erfunden vor 175 Jahren, eroberte sie in einem rasanten Siegeszug nahezu alle Lebensbereiche und wurde schon früh im Rahmen von geografischen oder ethnologischen Erkundungen, botanischen Expeditionen und archäologischen Kampagnen zu einem unentbehrlichen Hilfsmittel der Forschung. Bevor handlichere Kameras zur Verfügung standen galt es, schwere, mit Glasnegativen zu bestückende Plattenkameras und die erforderliche Dunkelkammerausrüstung oft durch unwegsame, kaum oder noch gar nicht erschlossene Gebiete zu transportieren und vor Ort in Stellung zu bringen, doch schien das Versprechen der Fotografie, objektive Bilder zu liefern, all diese Mühen aufzuwiegen.

Für die Archäologie wurde die Fotografie zu einem maßgeblichen Dokumentationsmittel – und ist es bis heute, im Zeitalter der Digitalfotografie, geblieben. Früh entstanden umfangreiche fotografische Bildarchive bedeutender Kunstschätze. So schufen die Florentiner Fratelli Alinari seit Mitte des 19. Jahrhunderts mehrere 10000 fotografische Platten, die italienische Stadtveduten, Straßenzüge, Plätze, einzelne Gebäude, archäologische Stätten und antike Skulpturen zeigen. Heute sind sie unschätzbare Dokumente eines gigantischen, zum Teil schon untergegangenen, zum Teil gefährdeten Kulturerbes. Für die deutsche Kunstgeschichte wurde der 1913 von dem Kunsthistoriker Richard Hamann gegründete »Photographische Apparat«, heute Bildarchiv Foto Marburg, zu einer Fundgrube, die auch umfangreiches Bildmaterial zur antiken Kunst enthält. Wie unterschiedlich, und das heißt subjektiv, antike Skulpturen fotografiert werden können, macht ein Vergleich etwa zwischen den teilweise heroisch anmutenden Bildern Walter Heges aus den 1930er Jahren und den surrealistisch inspirierten Fotos von Herbert List aus derselben Zeit schlagartig deutlich.

Dass Letztere – obwohl künstlerisch herausragend – den Ansprüchen des Archäologen nicht gerecht werden können, liegt auf der Hand. Denn dem Wissenschaftler muss an einer möglichst neutralen, objektiven und dabei detailreichen Wiedergabe seines Gegenstandes gelegen sein. Ernst Langlotz, von den 1940er bis in die 1960er Jahre Ordinarius für Archäologie an der Universität Bonn, forderte eine fotografische Praxis, die der von den griechischen Künstlern angeblich beabsichtigen ästhetischen Wirkung gemäß sein sollte und »kritisierte bereits 1929 entstellende, künstliche Beleuchtung, schwarze Hintergründe und handretuschierte Konturen«, so Frank Rumscheid im Katalogbuch. Die Bonner Ausstellung zeigt aus der Sammlung des Akademischen Kunstmuseums den Marmortorso einer Apollon- oder Dionysos-Statuette und dazu vier Aufnahmen vor unterschiedlichen Hintergründen mit variierenden Brennweiten und bei verschiedenen Lichtverhältnissen, die belegen, dass Fotos keine mechanische Reproduktionen sind, sondern grundsätzlich Interpretationen des jeweiligen Objektes.

Mit der digitalen Revolution, die in der Mediengeschichte einen immensen Quantensprung darstellt, haben die Praktiken der Visualisierung und Dokumentation auch in der Archäologie eine enorme Erweiterung erfahren. Das Spektrum reicht von der gigantischen, im Netz öffentlich zugänglichen Objekt- und Bilddatenbank ARACHNE – der Name erinnert an die mythologische Figur einer Weberin, die von Athena in eine Spinne (griech. arachne) verwandelt wurde – über Laserscans, die mit Hilfe einer 3D-Brille das auf dem Screen erscheinende Objekt räumlich-plastisch in allen nur erdenklichen Positionen und Drehungen erfahrbar machen, bis hin zu dreidimensionalen, mit 3D-Druckern generierten Reproduktionen. Gegenüber dem klassischen Gipsabguss hat dieses Verfahren – nach Paul Scheding und Michael Remmy im Katalogbuch – den prinzipiellen Vorteil, dass sich die »Objekte völlig berührungslos und somit zerstörungsfrei digital [...] dokumentieren« lassen. Hier eröffnen sich für die Archäologie neue Perspektiven, ist doch das herkömmliche Abformen in Gips immer schwieriger geworden, da Abgussgenehmigungen kaum mehr erteilt werden. Die in der Bonner Ausstellung gezeigten Beispiele lassen hinsichtlich der Qualität der 3D-Ausdrucke allerdings noch manche Wünsche offen, und selbst wenn angesichts der rasanten Entwicklung auf dem Gebiet der digital gesteuerten Fertigung zeitnah technische Verbesserungen zu erwarten sind, wird es doch noch eine Weile dauern, bis hochwertige lebens- oder gar überlebensgroße »Drucke« antiker Plastiken möglich sein werden, die mit den klassischen Gipsabformungen konkurrieren können.

Anzumerken bleibt zum Schluss, dass die Ausstellung im Akademischen Kunstmuseum das Ergebnis einer intensiven Zusammenarbeit des Archäologischen Instituts der Universität Bonn und des eingangs bereits genannten, seit 50 Jahren existierenden Forschungsarchivs für Antike Plastik an der Universität Köln ist, das heute als CoDArchLab (Cologne Digital Archaeology Laboratory) firmiert. Letzteres betreibt die erwähnte ARACHNE-Datenbank, die mit ihren rund 2 Millionen Bilddaten im Jahr 2013 von mehr als 250000 Besuchern genutzt wurde. Die Ausstellung adressiert nicht nur das im engeren Sinne archäologisch interessierte Publikum, sondern dürfte auch dem Kunsthistoriker lohnende Einblicke in Fragestellungen und Entwicklungen einer der Grenz- bzw. Nachbarwissenschaften der Kunstgeschichte bieten.

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