August Sander: Menschen des 20. Jahrhunderts. Schirmer/Mosel

Im ausgehenden Mittelalter wurde es Mode, zusammen mit den Totentänzen eine repräsentative Darstellung aller Bevölkerungsschichten und Stände zu geben. Die Botschaft war klar und nicht zuletzt auch sozialkritisch gemeint: Der Tod ergreift sich mit eiserner Faust jedermann, ganz egal, ob arm und blutjung oder reich und bedeutend. Der rücksichtslose Machtanspruch des grausigen Knochenmanns ist totalitär und egalitär und damit, wie im Grimmschen Märchen vom »Gevatter Tod«, zumindest sub specie aeternitatis ein Garant für Gerechtigkeit. Etwas von diesem Geist hat auch August Sanders' epochales Werk »Menschen des 20. Jahrhunderts«. Denn so umfassend der Titel ist, so ambitioniert war von Anfang an der Anspruch des berühmten Photographen. Er wollte nicht mehr und nicht weniger als ein repräsentatives Gesamtbild der deutschen Gesellschaft seiner Zeit zu geben. Niemand sollte ausgeschlossen sein und niemand war ihm zu gering, um nicht groß, beherrschend und dauerhaft im Bild festgehalten zu werden. August Sander wollte sämtliche Berufsgruppen und sozialen Klassen gleichermaßen vertreten sehen, auch wenn (oder gerade weil) der alte, fest gefügte Obrigkeitsstaat in der Zeit der Weimarer Republik längst zu zerbröckeln begann. Walter Kayser erinnert nochmals an das Werk dieses herausragenden Künstlers und die editorische Leistung eines in jeder Beziehung gewichtigen Katalogs.

cover © Schirmer/Mosel
cover © Schirmer/Mosel

Der Blick zurück auf die Geschehnisse vor genau einhundert Jahren, zu jenen äußerst widersprüchlichen »Roaring Twenties« des 20. Jahrhunderts, entspricht dem Bedürfnis nach einem »fernen Spiegel« (Barbara W. Tuchman). Er dient der Selbstvergewisserung in instabilen Zeiten. Wo stehen wir heute vor einem Horizont voller Wetterleuchten, der überall gigantische Herausforderungen erahnen lässt? Hilft uns die Rückwendung zu jener ersten deutschen Republik, die sich nicht nur wegen der idealistischen Werte der deutschen Klassik »Weimarer« nannte, sondern weil ihre verfassungsmäßige Gründung in der Hauptstadt Berlin angesichts anhaltender Straßenkämpfe zu unsicher erschien? Gebeutelt und aufgerieben von revanchistischem Nationalismus, Putschversuchen, Reparationszahlungen und galoppierender Inflation auf der einen Seite und mutigen Demokraten, kulturellem Aufbruch und Frauenwahlrecht andererseits? Könnte uns Heutigen da ein Anknüpfen an die Moderne des Bauhauses, an die »Neutöner« der Zwölftonmusik oder die Neue Sachlichkeit nicht von Nutzen sein?

Der Photograph August Sander (1876–1964) ist mehr als ein unübertroffener Porträtist jener Zeit gewesen. Notgedrungen, denn seine Dokumentation der im 2. Weltkrieg total zerbombten Stadt Köln, die Landschafts– und Industriearchitekturaufnahmen traten später an die Seite der in den zwanziger Jahren angefertigten Bildnisse. Zentral bleiben aber ohne Zweifel seine »Menschen des 20. Jahrhunderts«, ein »work in progress«, welches in der Geschichte der Photographie seinesgleichen sucht. Hunderte von Aufnahmen umfasst es, beschäftigte es ihn doch über Jahrzehnte hin und erwies sich als prinzipiell unabschließbar. Als 1929 unter dem Titel »Antlitz der Zeit« gerade einmal 60 Aufnahmen als erste Auswahl erschienen, schrieb niemand Geringeres als Alfred Döblin einen einleitenden Essay und erkannte, dass hier jemand mit seinem Gesellschaftspanorama »Soziologie schrieb, ohne zu schreiben«.
Nun legt das Münchner Verlagshaus Schirmer/Mosel, das sich in den zurückliegenden Jahrzehnten immer wieder mit großartigen Publikationen verschiedener Aspekte des photographischen Œuvres von August Sander angenommen hat, erneut eine Gesamtausgabe der »Menschen des 20. Jahrhunderts« vor. Ein gigantisches Buch zu einem gigantischen Werk, das in Koproduktion zeitgleich als amerikanische Ausgabe bei Aperture und als französische Ausgabe bei Édition de la Martinière erscheint. Anlass ist eine große Ausstellung im Pariser Centre Pompidou, welche soeben unter dem Titel »Allemagne / Années 1920 / Nouvelle Objectivité / August Sander« eröffnet wurde. Dass August Sanders Porträts im Mittelpunkt der Schau stehen, ist ein Beleg dafür, dass diese zu einem kulturhistorischen Zeugnis sui generis geworden sind.

Sekretärin beim WDR in Köln, 1931, cover © Schirmer/Mosel
Sekretärin beim WDR in Köln, 1931, cover © Schirmer/Mosel

Einerseits einzigartige Persönlichkeiten darzustellen, die zugleich aber Typen und Repräsentanten sind, – darin liegt die Spannung dieser Aufnahmen. Hunderte von Einzel– und Gruppenportraits sind in Mappen geordnet, die meistens nur Berufsbezeichnungen angeben. Fragt man sich, warum diese Portraits trotzdem so ungeheuer »sprechend« sind, dass man den individuellen Lebenshintergrund dieser Menschen zu imaginieren meint, so spielt sicherlich die Herkunft des Photographen eine prägende Rolle. August Sander wurde am 17. November 1876 als Sohn eines Bergmanns in Herdorf im Siegerland geboren und arbeitete bis zu seinem 18. Lebensjahr wie sein Vater ebenfalls unter Tage. Man empfindet bei jeder einzelnen dieser Aufnahmen, welche Würde jedem Gegenüber entgegengebracht und wie sehr jede Form von Arbeit mit Respekt betrachtet wurde. Zunächst waren es die Bauern des benachbarten Westerwaldes, die Sander in einer ersten »Stammmappe« porträtierte; und obgleich er in der Regel als »Kölner« Photograph apostrophiert wird, blieb er die meiste Zeit seines Lebens bis zu seinem Tod 1964 den einfachen Leuten verbunden und in dem kleinen Westerwälder Dorf Kuchhausen wohnhaft. Später berichtete er über diese erste Zeit: »Ich habe mir die Leute gesucht, wenn mir etwas fehlte, um die Lücken auszufüllen so nach und nach, bin auch lange gereist, über Städte und Dörfer gewandert ... Wenn man zu den einfachen Leuten kam und sie beschwerten sich, sie wären nicht gut oder so ähnlich, dann sagten die unverbildeten Bauernfrauen: Du bist wie du bist.« Bezeichnend ist auch, mit welchen Worten dieser »Balzac der Photographie«, wie ihn ein französischer Kritiker treffend nannte, sein Berufsverständnis kurz und bündig in einem Satz zusammenfasste: »Das Wesen der gesamten Photographie ist dokumentarischer Art.« Die Unvoreingenommenheit des Künstlers schlägt sich nieder in einer kompositorischen Klarheit des Bildaufbaus, die im Nachhinein eine erstaunliche Ähnlichkeit hat mit den Bildnissen seiner zeitgenössischen Malerkollegen Otto Dix, George Grosz, Franz Radziwill oder Christian Schad. Auch der Maler Otto Dix soll, als er 1926 die berühmt–berüchtigte Journalistin Sylvia von Harden zu Sitzungen in sein Atelier bat, zu ihr gesagt haben: »Sie repräsentieren ein ganzes Zeitalter.«

Jungbauern, 1914, cover © Schirmer/Mosel
Jungbauern, 1914, cover © Schirmer/Mosel

Die Arbeit mit seinem Medium empfand August Sander instinktiv als »Handwerkertätigkeit« mittels Großformatkamera und keinen anderen Mitteln als dem natürlichen Licht und klarer Anordnung zum Zwecke einer dokumentarischen Sozialstudie. Zeit seines Lebens blieb er aus Überzeugung bei seinem bevorzugten Verfahren: Gelatinesilberabzüge von Glasplattennegativen und Planfilm. Und ebenso entschieden bekannte er sich politisch zur Sozialdemokratie. Folgerichtig fiel er bald nach der »Machtergreifung« der NSDAP in Ungnade. Sein Sohn Erich starb 1944 im Gefängnis, nachdem er als Sozialist verhaftet und zehn Jahre lang inhaftiert worden war; das Buch »Antlitz der Zeit« wurde eingestampft und die Druckstöcke vernichtet.

Die »Menschen des 20. Jahrhunderts« wurden nach und nach in sieben große Gruppen eingeteilt, angefangen mit »Der Bauer«, »Der Handwerker«, »Die Frau«, »Die Stände«, »Die Künstler«, »Die Großstadt« und »Die letzten Menschen« überschrieben. Interessant, wie sich zu den Berufssparten mit ihren zahlreichen Unterabstufungen mehr und mehr Themen wie Krankheit und Behinderung aufdrängten. Allerdings funktionierte jede früher einmal gültige hierarchische Ordnung nur noch zum Schein, denn die Bilder sind Indizien einer Umbruchszeit.
Das kann eine kurze exemplarische Betrachtung des Bildes »Jungbauern« zeigen, ein sehr frühes Gruppenporträt aus dem Jahre 1914, welches nicht ohne Grund das Cover ziert. Mit stolzer Lässigkeit, ja, nahezu dandyhaft, präsentieren sich die vielleicht gerade einmal 20–Jährigen vor dem heimatlichen Acker. Die Horizontlinie lenkt kompositorisch den Blick des Betrachters auf die drei Köpfe. Selbstbewusst und fest, mit einem Anflug von provokanter Herausforderung wendet sich ihr Blick dem Betrachter zu. Der weiße Kragen, die etwas kokett verschobenen Hüte, die sonntäglichen Anzüge, die Zigarette im Mundwinkel und nicht zuletzt die Spazierstöcke in ihrer Rechten lassen sie eher als Städter erscheinen. Vielleicht sind sie auf dem Weg vom Land in die Großstadt (oder doch Jugendliche, die sich längst nach städtischen Modemaximen ausrichten), – wäre da nicht die fast lächerliche Uniformität ihres Aussehens, die groben Hände und die verschmutzen Schuhe auf dem Acker.

Abgeordneter (Demokrat), 1927, cover © Schirmer/Mosel
Abgeordneter (Demokrat), 1927, cover © Schirmer/Mosel

Die Diskrepanz zwischen Schein und Sein deutet hier wie in vielen anderen Bildern eine Zeit im Umbruch an. Gleichwohl blieb Sanders Anspruch einer möglichst totalen Bestandsaufnahme, und nach heutigem Geschmack etwas unreflektiert umschrieb er seine umfassende Intention mit den Worten, er hoffe »eine wahre Psychologie unserer Zeit und unseres Volkes zu geben«. Dass er dabei jeden Menschen »unbedingt wahrheitsgetreu« getroffen sehen wolle, spürt man in der Bildregie: Die Modelle verharren fast immer in statuarischer Monumentalität und Stille. Alles ist auf den einen Menschen ausgerichtet, der da ganzfigurig oder im Dreiviertelausschnitt steht oder aber ruhig sitzt. In jedem Fall haben die Porträtierten Raum um sich. Fast alle sind zentriert in der Mittelachse des Bildaufbaus und schauen mit größter Offenheit und Direktheit in die Kamera. Sander belässt die Dargestellten in ihrer vertrauten Umgebung und gibt ihnen höchstens Accessoires ihrer Tätigkeit mit. Es sind keine Schnappschüsse, sondern die Dargestellten haben sich gesammelt und begegnen der Linse offen und selbstbewusst. Nichts ist gekünstelt, alles zielt auf die menschliche Begegnung und Würde, bei prominenten Künstlern, Industriellen und Politikern genauso klar und aufwändig wie bei Landstreichern, bei Nationalsozialisten in Uniform oder namenlosen Zwangsarbeitern und Verfolgten. Die Lichtregie ist bewundernswert klar, scharf umrissen und in nuancenreichen Abstufungen von Schwarz–Weiß und Sepiatönen.

In zwei einleitenden Beiträgen führt Gabriele Conrath–Scholl zunächst in die editorische Neuausgabe des gesamten Projekts »Menschen des 20. Jahrhunderts« ein und gibt dann einen historischen Überblick zu der Entwicklung des zentralen Werkkomplexes. Die Herausgeberin ist wie niemand sonst berufen, ist sie doch, nachdem sie zunächst selbst Photographie und Kunstgeschichte an der Kunstakademie in Düsseldorf studierte, seit 1996 wissenschaftliche Mitarbeiterin und seit 2007 Leiterin der Photographischen Sammlung/SK Stiftung Kultur in Köln.

Maler Anton Räderscheidt, 1926, cover © Schirmer/Mosel
Maler Anton Räderscheidt, 1926, cover © Schirmer/Mosel


Es dauerte einige Zeit bis der große Edward Steichen, Direktor der photographischen Abteilung des New Yorker Museum of Modern Art, Sanders internationalen Ruhm begründete, indem er einige seiner Photographien in die legendäre Ausstellung »The Family of Man« aufnahm.
Noch immer aber gilt, was Walter Benjamin in seiner »Kleinen Geschichte der Photographie« von 1931 schrieb, frisch unter dem Eindruck, den damals »Das Antlitz der Zeit«, jener Vorgeschmack dieses Panoramas, auf ihn gemacht hatte: »Aller Kunstfertigkeit des Photographen und aller Planmäßigkeit in der Haltung des Modells zum Trotz fühlt der Beschauer unwiderstehlich den Zwang, in solchem Bild das winzige Fünkchen Zufall, Hier und Jetzt, zu suchen, mit dem die Wirklichkeit den Bildcharakter gleichsam durchgesengt hat, die unscheinbare Stelle zu finden, in welcher, im Sosein jener längst vergangenen Minute das Künftige noch heute und so beredt nistet, dass wir, rückblickend, es entdecken können«.

August Sander: Menschen des 20. Jahrhunderts. Gesamtausgabe
Hg. von Die Photographische Sammlung / SK Stiftung Kultur
Mit Texten von Gabriele Scholl und Susanne Lange
808 Seiten, 619 Tafeln in Duotone Schirmer & Mosel, München 2022
ISBN 978–3–8296–0500–7
128, – € / 131,60 (Ö) / CHF 147, –

Diese Seite teilen

Besuchen Sie uns