Ausstellungsbesprechungen

Aus der Eröffnungsrede: innenaussen - 4. Biennale der Zeichnung, Kunstverein Eislingen, bis 25. Juli 2010

2004 gründete Paul Kottmann die Biennale der Zeichnung in Eislingen. Seither ist diese Biennale, die in jeder Auflage ein anderes Thema bedient, ein Geheimtipp unter Insidern. In diesem Jahr hat man das „Innenaussen“ im Visier, also die Begrenzung und Durchdgringung von Räumen. Günter Baumann hat sich in seiner Eröffnungsrede ausführlich mit dieser besonderen Funktion der Linie beschäftigt.

[…] Die gezogene Linie bezeichnet immer etwas, das Wörtchen liegt dabei bedeutsam auf der Zunge: »etwas be-zeichnen«, verwandt mit dem hintersinnigen Wörtchen »be-greifen«, bei dem man auch mit einer kleinen Vorsilbe aus einem geradezu handgreiflichen Verb ein abstraktes Tun machen kann. Bleiben wir kurz auf der sprachlichen Ebene. Wir kennen feste Verbindungen wie »ein Porträt zeichnen«, das freilich im engeren Sinn für die künstlerische Arbeit steht, aber auch übertragen verwendet wird: So lesen wir im Kontext von Biographien oft, dass ein Autor und Filmregisseur das Bild eines bestimmten Menschen gezeichnet oder die Lebenslinien nachgezeichnet habe; wohlgemerkt, es ist in diesem Zusammenhang kaum die Rede davon, dass dieses mediale Bild gemalt würde. Etymologisch ist das »Zeichnen« mit »zeigen« und »ziehen« verwandt, das eine verweist auf den Zeichencharakter, auf die genaue oder auch semiotisch relevante Darstellung (das meint abstrakte Schaubilder, Kommunikationsmodelle usw.), das andere assoziiert unter anderem das konkrete Linienziehen, das, was wir gemeinhin unter Zeichnen verstehen. Dass beides ineinandergreift, ahnen wir, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Vermittlung des Zeichnens als Zeichenunterricht, nicht als Zeichnungsunterricht, geschweige denn als Zeichnenunterricht benannt wird; Letzteres wäre sogar ein semantisch falsches Wort.

[…] Zeichnen ist nicht nur auf Linien und Zeichen zu reduzieren. Das Malerische spielt deutlich mit herein. Auch da will ich kurz die durchaus spannenden sprachlichen Verknüpfungen andeuten. »Malen« meint im Althochdeutschen so viel wie »mit Zeichen versehen«, bis heute hat sich das in dem Wort »Mal« erhalten (man denke an die Wendung, jemand trage ein »Mal« auf der Stirn, habe ein Wundmal oder ähnliches). Würden wir uns bis in prähistorische Zeiten zurücktasten und eine der wunderbaren Höhlenmalereien ansehen, wäre die Grenzverwischung von Zeichnung und Malerei eklatant. Die eigentliche Malerei spaltete sich im Laufe der Zeit von ihrem zeichnerischen Ursprung ab und entfaltete ihre Qualitäten in der Bemalung von Schilden und Schildern, die vor allem bunt und weniger linear daher kam. Es ist kein Witz, diese Verbindung ist verbürgt, erhalten nicht zuletzt in der niederländischen Sprache, wo das Wort für Malen »schilderen« heißt, das wir wiederum nur noch im Sinne von »schildern, erzählen« kennen. Etwas in »düsteren« oder auch »rosaroten« Farben malen, sprich schildern kann auch die Stimmung einer Erzählung wiedergeben. Das als Unterschied zur Charakterzeichnung.

Was heißt das nun im Hinblick auf die Zeichnung? Verkürzt kann man sagen, dass die faktisch auftretende Linie als eine Grundvoraussetzung der zeichnerischen Gattung Träger von abstrakten Zeichen ist, die im Einzelfall gegenständlich, figurative Inhalte wiedergibt, während das malerisch-narrative Element emotionale Werte mit einbringt. Betrachten wir die verdichteten Arbeiten eines Thomas Cena, eines Johannes Alexander Kraut oder Frank Gerritz, so können wir gar nicht immer sagen, wo die Linie endet und die Fläche beginnt. […] keine der anderen Künste vermittelt so direkt wie die Zeichnung jenen Zusammenfall gegensätzlicher Geisteshaltungen: hier die Reflexion, denn wie frei oder überlegt der erste Strich auch immer gewesen ist, bereits der zweite will überlegt sein, und sei es als Akt des Unterbewusstseins – die Malerei ist da freier, die Grafik ist dagegen weniger frei –; dort die Intimität des Ausdrucks, die ihr Pendant in der Handschrift, das heißt, dem Schreiben hat – der Stift ist Zeichen- und Schreibgerät zugleich, der Pinsel, Spachtel oder Stichel kann zeichnerisch eingesetzt werden, dient aber nur im Ausnahmefall auch zum Schreiben.

[…] in mir taucht […] der Verdacht auf, dass mit dem Schwund der Handschriftlichkeit die Zeichnung vollends aus dem Schatten der Begleit-, Vorbereitungs- und Illustrationskunst herausgetreten ist. Meine verehrten Damen und Herren, auch diese vierte Biennale der Zeichnung ist ein Gradmesser dafür, dass sich die Zeichnung voll emanzipiert hat. Mehr noch, sie zeigt auch, dass sie mittlerweile eine wesentliche, wenn nicht die eigentliche Antriebskraft für die Kunst ist: Sie haben beim ersten Rundgang sehen können, mit welcher Leichtigkeit die Künstler von hier aus das Terrain der Malerei, der Skulptur, der Architektur und Installation erobern, um ganz neue Impulse zu setzen. Das ist kein Wunder, bietet das Medium der Zeichnung doch nahezu unendlich viele Möglichkeiten: Inhaltlich-thematisch umfasst es abstrakte Studien, impressionistische Bildfindungen, gegenständliche Parallelwelten; technisch wird es unterstützt von Feder, Grafit und Kugelschreiber, Blei-, Bunt- und Filzstift, Kohle oder Kreide, Aquarell- und Temperafarbe, Tusche, Lack oder Klebeband und Stoff und nicht zuletzt die Bildträger selbst, sei es Papier oder Polystyrol, die aus der Fläche heraustreten, mit der Schere oder von Hand bearbeitet, nur noch indirekt oder virtuell daran erinnern, dass auch hier Zeichnung zelebriert wird. Wenn das alles Zeichnung ist, wenn offenbar alles Zeichnung werden kann, was ist dann die Zeichnung? Wenn ich das nur wüsste. Nehmen Sie hier die Bettkasten-Installation von Peter Riek, die die Zeichnung in einen Kunstraum transponiert, oder die Raumimagination von Caroline Bayer auf der gegenüberliegenden Seite, wo die Linie selbst einen fiktiven Raum vorgibt. Zeichnung kann Objekt sein oder Konzept. Sehen Sie sich um: Wo beginnt, wo endet das Natur- oder Architekturvorbild in den metamorphotisch-überwachsenen Arbeiten von Nanne Meyer, in den nur scheinbaren Landschaftsmotiven von Uwe Schäfer oder in den existenzialistischen Gedankenräumen von Konrad Hummel? Vielleicht sind Sie mit mir einer Meinung, dass es bei der Vielfalt an Ausdrucksformen und an unterschiedlichen Temperamenten die Summe aller Wahrnehmungen sein muss, die uns ahnen lässt: Das ist Zeichnung, ein widersprüchliches Konstrukt, das einmal die Autonomie des Zeichens feiert, ein anderes Mal von der Setzung des Künstlers herrührt.

[…] Die Linie ist auch eine Meisterin der Kommunikation: Abgesehen von der Bewegung, die aus dem Handduktus oder der bloßen Gestik kommt, folgt jeder Strich in der Regel aus einem anderen, oder der eine fügt sich zufällig zum andern. Eine Komplizenschaft der Schraffur, Struktur und Textur. Der Zeichnung ist es vergönnt, mit denkbar geringem Aufwand oder aber mit einem Maximum an Graustufen Räume darzustellen. »innenaußen« ist diese vierte Biennale überschrieben, womit sie sich der räumlichen Darstellung verschrieben hat. Wie sehr hier die Zeichnung bei sich selbst ist, zeigt der Vergleich zu den drei Vorgängerausstellungen. Die erste Biennale war überschrieben mit der Aufbruchsformel »zeichnung entdecken«. Es liegt fast in der Natur der Sache, dass es zugleich darum ging, den Menschen beziehungsweise sich selbst zeichnend zu entdecken, hieß auch: sich im Raum zu positionieren. Die zweite Biennale wurde dann folgerichtig »menschenbilder« genannt, eine rein figurative Schau, die auch nicht umhin kam, Körper und Raum aufeinander in Beziehung zu setzen. Ganz im Gegensatz dazu lotete die dritte Biennale mit der Frage »was ist hier zu sehen?« die Tiefen und auch die Oberfläche der Abstraktion aus, und siehe da: Auch hier entstanden zwangsläufig vorwiegend reflexive wie fiktive Räume.

In diesem Jahr liegt der Schwerpunkt auf der körperlichen, sinnlichen und faktischen Raumerfahrung. Wir wissen alle, dass der Raum ohne Koordinaten nicht greifbar ist und erst in der Begrenzung oder Durchdringung entsteht. »innenaußen« meint auch das zeichnerische Denken im Raumgefüge. Längst hat sich die Gattung von der rein mathematisierten Perspektivenräumlichkeit und der Geometrie entfernt. Vielmehr ist es das bewegte Spiel mit Licht und Schatten sowie die Sichtbarmachung jener Koordinaten, die in minimalistischer Strenge das Bild zieren. Raum und Gegen-Raum wird heute in all seinen komplizierten Strukturen und in all seiner Relativität gesehen, was der Philosoph Michel Foucault einmal auch als »schwimmendes Schiff Raum« beschrieben hat. Wie Entdeckungsreisende erkunden die heutigen Zeichner den Raum, die Linie dient dabei der Vergewisserung, der Umschreibung. Von dem Bildhauer Richard Serra ist das Bonmot überliefert, Zeichnung sei »eine andere Art von Sprache«, und ihn interessiere daran »die Möglichkeit des inneren Monologs« im Entstehungsprozess der Kunst. »Das Zeichnen«, so Serra, »bringt eine eigene Art des Ordnens mit sich.«

An zeichnerischen Sprachen mangelt es nicht. Zu den naturnahen Arbeiten gesellen sich in diesem großen Raum noch die verfremdeten Blätter von Eberhard Knauber, Thomas Cena und Frauke Schlitz, den makro- und mikroskopischen Naturraum assoziieren gegenüber Sebastian Rug, Johannes Schießl und Andreas Opiolka. Am Pfeiler positionieren sich Fritz Panzer mit einer plastischen Zeichnung und Ulrich Klieber auf der anderen Seite, dessen Zeichenbücher den Übergang zur Malerei markieren. Im hintersten Kabinett sehen Sie Innenräume von Astrid Brandt und Rolf Urban, Außenräume von Monica Ursina Jäger und Othmar Eder sowie einen minimalistischen Innen-Außenraum von Frank Gerritz, dessen Square-Serie Begegnungen abstrakter Formen genauso sind wie Plätze oder ein Spiel von Vorder- und Hintergrund. Die beiden kleineren Kabinette lassen eine experimentell-konstruktive Handschrift erkennen bei Pauline Kraneis, German Stegmaier und Philip Loersch, ganz aus dem Gestus gewonnene Raumfindungen erkennen wir bei Sibylle Schlageter, Barbara Camilla Tucholski und Alexander Johannes Kraut. Gezeichnete Architekturen ganz unterschiedlicher Abstraktionsgrade folgen im vorderen Kabinett mit Silke Schatz, Hannes Steinert und Mathias Völcker. Zu den einzelnen Viten der Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieser vierten Biennale verweise ich am Ende meiner Ausführungen auf den Katalog – denn alle Lebensläufe haben es verdient, dass man mehr als einen Halbsatz darüber verliert. Was die ausgestellten Arbeiten angeht, so denke und hoffe ich, dass jeder seine persönliche Favoritenliste finden wird.

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