Ausstellungsbesprechungen

Außer Kontrolle! Farbige Grafik & Mail Art in der DDR, Staatliches Museum Schwerin / Güstrow, bis 14. Februar 2016

Zum Auftakt des langfristig angelegten Projektes »Land der Grafik« präsentiert das Schweriner Museum eine aus 130 farbigen Grafiken bestehende Ausstellung, die es dank langjähriger Sammeltätigkeit ganz allein aus dem eigenen Bestand bestreiten kann. Dazu kommt im Güstrower Schloss eine Präsentation, die sich auf »Grenzüberschreitungen«, also vor allem auf Performances und Happenings konzentriert. Stefan Diebitz ist nach Schwerin gefahren.

Außer Kontrolle? Das meint natürlich die Politik als das eigentliche Thema der beiden Ausstellungen. Warum also eine mögliche subversive Bedeutung der Grafik? En passant erfährt man den ebenso plausiblen wie höchst profanen Grund in einem Katalogbeitrag der Kuratorin Kornelia Röder: »Für eine Auflage von unter 100 Abzügen benötigte man in der DDR keine Druckgenehmigung. Damit eröffneten sich im Zuge der wachsenden Gesellschaftskritik in der Künstlerschaft Spielräume für die Bearbeitung politisch unbequemer Themen«.

Wie sehr die »staatlichen Organe« (eigentlich ein doller Ausdruck!) alle Bilder und Drucke fürchteten, erfuhr der Berichterstatter schon als Schüler, als er im Rahmen des kleinen Grenzverkehrs nach Mecklenburg einreiste. Einer seiner Freunde trug nämlich eine Rolle bei sich, ein Poster. Ah, Conterbande! Das ging natürlich nicht. Sofort war das staatliche Organ an der Grenze alarmiert, aber es (das Organ) entspannte sich dann doch, als es das verdächtige Blatt inspizierte und ein grinsendes Skelett mit der Unterschrift »Rauchen ist gesund« erkannte.

Ein rauchendes Skelett konnte man durchgehen lassen, ohne dass die Grundfesten des Staates erschüttert wurden. Und die in Schwerin ausgestellten, ja noch zu DDR-Zeiten vom Museum angeschafften Grafiken konnte man offenbar ebenfalls akzeptieren, denn wenn sie vielleicht auch nicht immer ganz im Sinne der staatlichen Organe waren, so waren sie doch nicht so richtig aufsässig. Oder die staatlichen Organe hatten sie nicht richtig verstanden.

Schon seit 1975 sammelt das Museum farbige Grafik, und immerhin vier Ausstellungen gab es noch bis 1989 (die letzte im Sommer unmittelbar vor dem Zusammenbruch der DDR). Eine neue Ausstellung bietet sich jetzt einerseits wegen der hohen Qualität der Sammlung, andererseits wegen ihrer politischen, gesellschaftlichen und historischen Bedeutung an. Der technisch durchweg hohe Standard der insgesamt einhundertdreißig Blätter lässt sich vor allem auf eine für die DDR typische, künstlerisch anspruchsvolle Ausbildung zurückführen: Die Künstler konnten etwas und beherrschten eine Reihe von Techniken, die ein näheres Hinschauen lohnen. So ist es nicht allein wegen der Farbe eine bunte Ausstellung, sondern auch dank der Themenvielfalt und der technischen Raffinesse.

Eine wesentliche Rolle spielte natürlich das für Diktaturen typische Verklausulieren, das von Kornelia Röder im Katalog als »subversiver Verständigungscode« angesprochen wird. »Sowohl die griechische Mythologie als auch die Bibel beflügelten die Fantasie der Künstler.« In dieser Ausstellung ist das wichtigste Beispiel dafür (und wie die meisten anderen Mythen in seiner Bedeutung leicht zu verstehen) der Sturz des Ikarus, der zum Beispiel von Klaus Süß in einem schönen Farblinolschnitt dargestellt wurde.

Auch religiöse Motive wie der »Schmerzensmann« tauchen wiederholt auf – schließlich muss man nicht einmal fromm sein, um ein solches Bild zu verstehen. Endlich wurden die Städte und ihre Zerstörung ebenso dargestellt wie die Landschaft – letztere besonders eindrucksvoll durch Farbradierungen von Gerenot Richter, der ein besonderes Geschick für die Darstellung von umgeknickten oder sonst beschädigten Bäumen besaß. Bei seinen Kopfweiden imponieren besonders die Details: an der borkigen Rinde beweist sich der Künstler.

Schließlich gab es selbst in der DDR Abstraktion, trotz allen Kampfes gegen den Beelzebub des »Formalismus«. Und es findet sich in der Ausstellung auch ein Kapitel über die »Romantik als Resonanzraum und Projektionskulisse«. Wolfgang Mattheuers sehr schönes und poetisches Blatt, eine Feier des nächtlichen Blau (»Mond über der Stadt«), gehört in diesen Kontext; auf dem Plakat und dem Katalog wirbt es für die Ausstellung.

Ganz anders die Mail Art, die in den siebziger Jahren begann, als man noch nicht herumreisen durfte und statt dessen also selbstgefertigte Postkarten verschickte: einige davon recht witzig, manche auch (bemüht) tiefsinnig. Man glaubt kaum, dass es so wenige Jahrzehnte her sind, dass man noch auf diese großväterliche Art Netze knüpfen musste.

Seinen Höhepunkt erreicht diese Ausstellung aber nicht in der Grafik, sondern wohl mit und in dem Revolutionspanorama, das Joachim John 1989 für das Foyer des Mecklenburgischen Staatstheaters Schwerin gemalt hatte und von dem man ein gutes Drittel jetzt im letzten Raum an der Stirnwand bewundern kann. Die Französische Revolution hatte sich im letzten Sommer der DDR zum zweihundersten Mal gejährt, und das Theater feierte dieses Jubiläum unter anderem mit »Figaros Hochzeit«, Beethovens »Fidelio« und Schillers »Wilhelm Tell«. Die vielen Figuren des Panoramas, die eigentlich eher auf die russische Oktoberrevolution zielen, fordern zum Umherschauen und Entdecken auf, und weder ist es schwierig, einzelne Figuren wiederzuerkennen – Stalin oder Lenin zum Beispiel sind leicht zu identifizieren – noch Bezüge zur Kunstgeschichte herzustellen; die fahnenschwingende barbusige Allegorie der Freiheit aus dem berühmten Bild von Eugene Delacroix lässt sich kaum übersehen. Das Panorama ist ein grau getöntes, mit wenigen blassroten Fahnen aufgehübschtes, vielfiguriges Mosaik, in dem der Künstler seiner Fantasie die Zügel schießen ließ und in dem man gut umherschauen kann.

Als der noch jugendliche Rezensent das erste Mal Schwerin besuchte, war es eine graue und eher traurige Stadt, obwohl auch damals der See im Sonnenschein blinkte; heute ist es auch bei schlechtem Wetter bunt und prächtig. Seine Kunst war es schon damals, wie ich erst jetzt erfahre.

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