Am Vorabend des Ersten Weltkriegs war Europa Schauplatz einer wegweisenden Medienrevolution. Mit ihren Bildplakaten, Büchern, Zeitschriften und Manifesten veränderte die Avantgarde, von Jugendstil bis Dadaismus, für immer unser Verständnis der Kunst. Die Ausstellung zeigt sowohl ihre öffentliche, dynamische Seite in Reklame und Publizistik, als auch ihre intime Seite in Form von Künstlerbriefen. Pia Littmann und André Bischoff berichten.
Man neigt dazu, die Geschehen in Kunst und Gesellschaft um 1900 als Naturgewalten gleiche Phänomene zu etikettieren: der Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Oder komplexe Zusammenhänge formelhaft zu stilisieren: die Avantgarde. Bestechend nüchtern präpariert die Ausstellung im Kulturforum nun einige der Akteure heraus und überlässt das Publikum dem Rausch der Bilder.
Neben der zentralen Schau des Deutschen Historischen Museums zum Ersten Weltkrieg widmet sich eine Reihe weiterer Häuser dem Oberthema »1914: Aufbruch, Weltbruch«. Kunstbibliothek und Staatsbibliothek zeigen mit »Avantgarde!« Arbeiten und Schriften aus eigenem Bestand.
Die Ausstellung ist bipolar aufgebaut: Im oberen, schwarz bespannten Saal sind vorrangig bunte Jugendstil-Plakate (1890-1914) zu sehen, im darunter liegenden weißen Saal maßgeblich schriftliche Quellen zu den späteren Avantgarden (1909-1918). Zunächst geht es um die Ausweitung der Kunst in den öffentlichen Raum und in die Massenmedien. Der obere Saal macht daraus ein veritables Seherlebnis: Effektvoll buhlen die zu Bilderblöcken gefügten Plakate vor tief dunklen Wänden um die Aufmerksamkeit des Betrachters. Viele dieser Lithografien kennt man, sogar zigfach: Die fröhlich-frivolen Frauen der noch sehr verspielten Werbeplakate Jules Chérets oder die Industriedesigns von Peter Behrens, die das energetische Fließen geometrisch fassen.
Neben Revuen, Kaufhäusern und Schuhen zeigen die Bilder vielfach Flugzeuge, Fernreisen und Zündkerzen – der Bezug zum Oberthema Krieg, es ist wohl dieser: Die Gesellschaft wird ganz buchstäblich mobiler, energetischer, tänzelnder und brodelnder, dabei aber auch fragiler, schwelgerischer und hysterischer. Dies kann nur typografisch und kompositorisch beruhigt, befriedigt, begriffen werden.
Die mediale Entfesselung der Künste zeigt sich in den die Bilderberge gliedernden Überschriften wie »Propaganda«, »Reklame« oder »Revue Blanche«. Letztere ist eine der zahlreichen Zeitschriften, die Kunst und Literatur jetzt auch in die Häuser trugen. Die dezent inszenierten Möbel des Jugendstils dokumentieren zudem, wie der private Raum so zu einem stillen Gesamtkunstwerk werden konnte.
Der obere Saal überwältigt durch die schiere Menge gezeigter Plakate und ihrer Farben, Stilisierungen, Geometrien und Typographien. In Schwarzweiß rückt dagegen der zweite Teil die kleinformatig geschriebenen und gedruckten Worte in den Mittelpunkt, mit denen der ideelle und wirtschaftliche Kampf um die Etablierung der folgenden Stile geführt wurde. Denn hier steht der Betrachter vor »Le Cubisme«, dem »Blauen Reiter«, der »Brücke«, vor »Futuristy« und seinem italienischen Bruder im Geiste »Il Futurismo«, der »Aktion« und noch weiteren. Vor allem aber steht er vor: dem »Sturm«! In Schaukästen werden die überwiegend papiernen Quellen ans Licht gebracht: Gespräche, Notizen, Einladungen, Eröffnungsreden, Manifeste, Werbe- und Propagandaaktionen.
Gerade diese klare Präsentation der einzelnen Quellen erlaubt es, ein differenziertes Bild der Verflechtungen der Akteure – Künstler, Galleristen, Kritiker- zu gewinnen. Als Knotenpunkt wird in deren Zentrum der Gallerist und Verleger Herwarth Walden mit seinem Monatsheft »Der Sturm« greifbar. Die an ihn adressierten Briefe bekunden, dass viele Künstler nach dem Aufgehobensein in einer der Bewegungen rangen. Oft sind die Schreiben ein intellektuelles Schaulaufen, formulieren wirtschaftliche Interessen, sind selbst Akteure emsigen Netzwerkens. Auch zeigt sich, dass die Ismen mit ihrem Label keine anderen Künste etikettiert wissen wollten: »Wir sind darüber hinaus äußerst ärgerlich, weil Du in Deinem Vortrag die Futuristen mit den anderen, die mit unserer Bewegung gar nichts zu tun haben, in einen Topf geworfen hast«, schimpft Marinetti von Mailand aus. Und aus Paris meldet Ludwig Rubiner: »Der Sturm ist hier den meisten unverständlich, dennoch kümmern sich alle Leute um ihn.« Die visionären Avantgarden, hier geben sie sich ernüchternd menschlich.
Während die Interessen der Ismen somit schlüssig aufbereitet werden, fehlen im oberen Saal die die Plakate leitenden kommerziellen und gesellschaftlichen Interessen. Man ist daher geneigt, sich den unteren Raum als eine Art verborgenes Betriebssystem der oben gezeigten Bilder vorzustellen. Tatsächlich stehen Kopf und Wurzelwerk jedoch in keinem zwingend kausalen Verhältnis. Hier kann man also spekulieren – oder auch ein wenig weiter mystifizieren.
»Der Fossiliensucher stößt auf einen geradezu komposthaften Befund von Plakaten, Flugblättern, Einladungen ...« heißt es im Katalog und auch ist da von einem »geologischen Zusammenhang« der Kommunikation von und über Kunst die Rede. So finden die Kuratoren trotz der peniblen Laboratmosphäre neue Sprachbilder aus der Natur für die Einheit des Mischmaschs schriftlicher und bildlicher Quellen unterschiedlichen Typs.
Nicht ohne Reiz erscheint das Thema so als terra incognita. Das ist zwar etwas irreführend, weil doch gerade der Inhalt der gezeigten Briefe besonders klar ist. Doch eine Ausstellung muss schließlich auch vermarktet werden und das wiederum ist sehr avantgardistisch. Mehr noch: Der Katalog beschreibt sich selbst als Avantgarde. Denn erstens plant man an der Kunstbibliothek ein »Zentrum der Avantgarden«. Zweitens erscheint die Kunstbibliothek den Kuratoren rückblickend bereits um 1900 als zentraler Teil des Kommunikationssystems Kunst. Und jede Avantgarde hat schließlich das Recht, mutig über das Ziel hinauszuschießen.
Bleibt zu fragen, wie sich die beiden Ausstellungsräume argumentativ zusammenfügen. Denn die fein aufbereiteten schriftlichen Quellen der Ismen begleiten oben schließlich die falschen Bilder. Nun, gemeinsam ist beiden Teilen zunächst der Anspruch in die breite Öffentlichkeit zu wirken. Dabei scheint der werbende Jugendstil eher auf die Dynamisierung der bestehenden Öffentlichkeit gerichtet. Dagegen gehen die verschriftlichten Ismen im unteren Teil a priori von einer dynamischen Gesellschaft aus. Die zuvor u.a. in der Werbung entwickelten Bildmittel werden aufgegriffen und weiter dynamisiert. Diese mediale Aktivierung betrifft zunächst das Verhältnis von Bild, Symbol und Schrift. Und schließlich ziehen sogar Geräusche ein: »Zang Tumb Tuuum« heißt ein im Jahr 1912 veröffentlichtes Buch von Marinetti, dem Begründer des Futurismus.
Gerade weil die Ausstellung mit zwei sinnlich und intellektuell so unterschiedlichen Polen um einen unsichtbaren Kern kreist, weil sie so spannungsreich und offen ist, endet der Besuch nicht mit dem Verlassen des Kulturforums. Er setzt sich im Kopf wie ein Ohrwurm fest. Text vergessen Fehlanzeige: Der Betrachter darf sich ein kostenloses, schlicht editiertes DIN A5- Heft mit Transkriptionen von Briefen aus dem Sturm-Archiv mit nach Hause nehmen. Die Moderne, sie lässt uns einfach nicht los.