Buchrezensionen

Avery, Charles und Finn, David: Bernini, 3. Auflage, Hirmer Verlag, München 2007.

Vermutlich hat die Virtuosität in der Behandlung des Materials, die Sicherheit in der Darstellung von Anatomie und Perspektive, die sich aus einer jahrhundertealten Werkstattorganisation entwickelte, niemals einen solchen Gipfel erreicht wie in der Kunst des römischen Hochbarock. Und auch wenn dies nicht so wäre: Wer von Gianlorenzo Bernini spricht, muss in die Vollen greifen. Da helfen nur noch Superlative.

Kein Mensch, welcher jemals einer Stadt,  und noch dazu dieser urbs aeterna, so nachhaltig ihr Gesicht gegeben hätte. Kein Mensch, der mit so großem Recht als der letzte uomo universale gelten könnte: ein Tausendsassa in Architektur, Städteplanung, Malerei, Dekoration, im Theaterdichten und in der Bildhauerei. Schon mit seinem Eintrittsbillet in die Ahnenreihe der italienischen Ausnahmebildhauer, schon mit den mythologischen Figurengruppen, die Anfang der 20er Jahre des 17. Jahrhunderts entstanden und heute alle in der Villa Borghese zu besichtigen sind, scheint Bernini der Widerspenstigkeit des Marmors zu spotten.

Er forderte förmlich die großen Vergleiche innerhalb der italienischen Tradition seit der Antike heraus und hatte kein bisschen Angst davor, sich an ihnen messen zu lassen: Sein David legt es darauf an, neben den des Donatello und Michelangelo gestellt zu werden (und natürlich auch neben den Borghesischen Fechter, welcher kurz zuvor in Porto d\'Anzo gefunden worden war). Die Raptusgruppe mit Proserpina wäre ohne Giambolognas Raub der Sabinerin in der Florentiner Loggia die Lanzi nicht denkbar. Aber sie ist mehr als eine Kompilation schamloser Anleihen, — eben keine figura serpentinata mehr, hat alle gequälte Verschraubtheit hinter sich gelassen. Schon hier zeigt sich Bernini als Environment-Spezialist, der auf die aktive Rolle des Betrachters spekuliert und ihn in eine Raumplastik einbindet. Schier unbeschreiblich virtuos ist die Oberflächenbehandlung des Marmors, wenn der triebvergessene Gott der Unterwelt der etwas üppigen Demetertochter in die weichen Oberschenkeln greift oder wenn das rauschende Haar und die sich verzweifelt reckenden Hände der Daphne sich in den Lorbeerbaum verwandeln. Auch hier ist die Plastik so komponiert, dass der Betrachter, ganz im Sinne der »Metamorphosen« des Ovid, sie nur im Weitergehen erlebt. Dabei wendet sich der Gegensatz von polierten und rau belassenen Steinpartien an seinen Tastsinn, der nach Hilfe schreiende Mund der Nymphe evoziert seinen Gehörsinn. Sinnlichkeit und Kalkül, Dynamik und Statuarisches, illusionistische Verleugnung des Materiellen einerseits und Bewusstmachen der Materialität seines Werkstoffs andererseits, ein nie so dagewesener Sinn für den transistorischen Moment einer hochdramatischen Situation — das alles wurde oft genug an Bernini gerühmt und lässt sich etwa auch in anderen großen Monographien nachlesen (Karsten; Zitzelsperger, Kuhn, Wallace und natürlich die nach wie vor maßgeblichen Veröffentlichungen von Rudolf Wittkower und John Pope-Hennessy seien hier erwähnt).

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Das vorliegende Buch ist aber in jedem Sinn so etwas wie eine Standardedition. Denn es setzt sich nicht (nur) mit Einzelaspekten auseinander, sondern wagt, so sehr sich der Gegenstand dagegen auch wehrt, einen lückenlosen Überblick. In 12 Kapiteln wird ein chronologischer Durchgang des Gesamtœvres und zugleich ein themenzentrierte Betrachtung unternommen. Wäre das nicht überaus gelungen, so wäre es mittlerweile nicht wiederholt aufgelegt worden. Dabei ist das Büchermachen ja ein Metier, das ganz eigenen Gesetzen gehorcht. Denn entweder sind sie die Früchte einer oft mühseligen Forscherarbeit, oder sie erscheinen, weil ein Verleger den richtigen Riecher für die richtigen Lücken des Marktes hat. Ungewöhnlich dagegen der Werdegang dieser Veröffentlichung: Charles Avery, langjähriger Konservator für Plastiken am renommierten Victoria and Albert Museum in London, war während eines Besuchs in New York so von den Photographien des auf Skulpturen spezialisierten Amerikaners David Finn begeistert, dass spontan die Idee zu einem gemeinsamen Bernini-Projekt geboren wurde. Beide Seiten, die der kunsthistorischen Durchdringung wie der Bildqualität, kamen also synergetisch zusammen. Die Qualität der Bilder zeigt sich in ihrem Informationsgehalt, und nicht, wie heute leider oft genug zu finden, in dem vermeintlich originellen, völlig neuen und verfremdenden Blick oder in einer  unsinnigen Detailvergrößerung. Mit einer sorgsamen Ausleuchtung, welche Sinn für plastische Werte verrät, und zugleich mit einem Streulicht, welches die Gesamtwirkung in den Mittelpunkt stellt, bringen sie die Bildwerke optimal zur Sprache und treten in den Dienst des Textes. Dazu dieser typisch britische Sprachstil: kundig, schnörkellos, unprätenziös.

Die erstmals 1977 bei Thames and Hudson erschienene Monographie war so erfolgreich, dass sie nach einer Überarbeitung zum 400. Geburtstags des Künstlers im Jahre 1998 nun noch einmal in einer preiswerten Paperback-Ausgabe im Hirmer-Verlag erschienen ist.

Da es bekanntlich immer auch der Herren eigener Geist ist, er sich im Geist der Zeiten spiegelt, erscheint dem Verfasser dieser Zeilen das letzte Kapitel als das originellste. Hier geht es (das war vor 30 Jahren noch ganz neu) um die Bozetti, die Arbeitsmodelle und Skizzen in Ton, welche die Inspirationsphase, den ersten großen Gesamtentwurf und die aufkeimenden Opusphantasien des Künstlers einfangen. Die meisten von ihnen sind »beim Herumräumen von einem Raum in den anderen« ohnehin achtlos zerstört worden, wie die Söhne Berninis freimütig zugaben (vgl. Avery/Finn, S.251). Neben dem, was im feinen Londoner Victoria and Albert noch lagerte, photographierte David Finn eigens die Modellini des Fogg Museums of Art in Cambridge, Mass. Wie es eine Ästhetik des Fragments gibt, so weiß erst unsere Zeit die Erscheinung des Flüchtigen und Fragilen, das Skizzenhafte und das Vage als künstlerische Qualität sui generis zu schätzen. Hier, ohne das große Heer an Werkstattgehilfen im Hintergrund, glauben wir am reinsten die Handschrift des Meisters lesen zu können. Faszinierend auch, wie Avery der Meißeltechnik und dem Sinn für das Aperçu in den Karikaturen nachgeht. Deshalb, so atemberaubend der Blick auf die Kolonnaden des Petersplatzes auch sein mag, so monströs der Baldachin oder die Cathedra Petri im Innern, so lieblich und erquickend die Brunnen Roms an heißen Sommerabenden, so wenig jugendfrei die Entzückung der Heiligen Theresa in der Cornaro-Kapelle von Santa Maria della Vittoria. Am unwiderstehlichsten erscheint Bernini in diesen kleinen Fingerstudien, die an Rembrandts Zeichnungen, an Fragonard, Manet und Daumiers Pinselstrich denken lassen.

 

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