Rezensionen

Beate Reifenscheid (Hg.): Yoon-Hee - Katalog zur Ausstellung im Ludwigmuseum Koblenz. Wienand Verlag

Die expressiven Skulpturen, der aus Nordkorea stammenden Künstlerin Yoon-Hee (*1950), bezeugen ihre schöpferische Fähigkeit, Exponate als Übergangsstadien zwischen Natur und artifizieller Technik zu installieren. Die Farben der Erde wie auch Silber- und Goldtöne dominieren ihre Arbeiten, die von einer dynamisch aufgeladenen Energie durchströmt zu sein scheinen. Skulptur erfährt in dieser künstlerischen Sichtweise eine neue Dimension wie auch Definition. Melanie Obraz wurde mit dieser kraftvollen Aussage konfrontiert.

Yoon-Hee ist nicht nur als eine Künstlerin zu bezeichnen, die sich der plastischen Arbeiten widmet, sondern eine wahre Skulpteurin, die sich der Aufgabe in einer Weise hingibt, die den Drang nach Freiheit und ebenso die Verbundenheit zu einer Tradition erahnen lassen, die sich so nur bei einer Künstlerin ergeben kann, die in zwei Welten lebte.
1950 in Nordkorea geboren, verließ sie das Land und erhielt ihre Ausbildung in Seoul/Südkorea. Natürliche wie auch technisch-künstliche Assoziationen gehen von ihren Arbeiten gedanklich auf die Betrachter:innen über. Kraft verbindet sich mit Zartheit und Dynamik mit einer Ruhe, die deklamatorisch anmutet, ohne übertrieben zu wirken. Ihre Skulpturen bemächtigen sich der Ausstellungsräume deshalb in einer vehementen Weise, die eine gewaltige Explosion an Emotionen mit sich führt.

S. 6/7 Saisie d’instant, 2011–2012 Ausstellungsansicht I Installation view, non finito, 2022 Ludwig Museum, Koblenz, Deutschland I Germany Foto: Bernard Borgeaud © Yoon-Hee 2022
S. 6/7 Saisie d’instant, 2011–2012 Ausstellungsansicht I Installation view, non finito, 2022 Ludwig Museum, Koblenz, Deutschland I Germany Foto: Bernard Borgeaud © Yoon-Hee 2022

So wird die innere Verwandtschaft zur Philosophie des Zen Buddhismus erkennbar, zumal das Starre und Blockhafte ihrer Skulpturen dem Fluiden und Dynamischen nicht nur gegenüberstehen, sondern den Prozess der intellektuellen wie auch seelischen Auseinandersetzung der Künstlerin zeigen. Yoon-Hee kündet so von diesen fast heiligen Momenten. Der Herstellungsprozess bleibt für eine Momentaufnahme stehen, um sich den Betrachtern:innen mitzuteilen.
Ihre Werke bezeugen den Übergang zwischen Leben und Tod und stellen eine reale wie auch metaphysische Ebene nebeneinander. In diesem Sinne zeigen die Exponate „Improvisation“ (2018-2021) Kegelformen, die Häutungen sowie die Oberfläche als einen Schutzmantel erkennen lassen. Yoon-Hee verdeutlicht wie sich das Grundlegende und Substanzielle der Natur selbst enthüllt. Dabei ist sie die Mittlerin, die einen Weg andeutet und so sind die Betrachter:innen aufgefordert, jenen Weg selbst zu gehen.
Ihre Werke tragen die Namen „Saisie d’instant“ und „Le Transi“ und sollen in erster Linie als Identifikationen dienen. Doch damit will Yoon-Hee keineswegs den Blick der Rezipient:innen lenken oder beeinflussen, sondern vielmehr auf den speziellen Übergangszustand zwischen Realität und Geist hinweisen. Natur und Artifizielles gehen in ihren Werken eine Symbiose ein und so ist hier kein romantisch geprägter Gegensatz sichtbar, wie er in der westlichen Welt der Romantik zu verorten ist. Objekte wie auch Zeichnungen der Künstlerin halten den entscheidenden Moment fest, in dem sie ihre Emotionalität in den Ausdruck der Skulptur oder Zeichnung einfügt. Darin manifestiert sich der Augenblick des Erlebnisses, welches sich zwischen Kunst und Natur auftut und in den Zeichnungen in Form der Spirale, des sich immer wieder Kehrenden, andeutet.

S. 209 Ausstellungsansicht I Installation view, Silence, 1999 Parc départemental de Trédrez-Locquémeau, Frankreich I France Foto: Bernard Borgeaud © Yoon-Hee 2022
S. 209 Ausstellungsansicht I Installation view, Silence, 1999 Parc départemental de Trédrez-Locquémeau, Frankreich I France Foto: Bernard Borgeaud © Yoon-Hee 2022

Yoon-Hees Werk bleibt nie stehen, obwohl es den Moment einfängt, weist es dem Blick einen neuen Weg und lockt in andere Dimensionen. Yoon-Hee, die seit 1983 in Paris arbeitet, verbindet die asiatische Sichtweise mit der europäischen Blickrichtung in eindrucksvoller und äußerst sensibler Weise. Die Gestaltung der Oberflächen sind ihr dabei sehr wichtig, denn dadurch kreiert die Bildhauerin eine Textur, die gleichsam herausfordert, eigene Gedanken zu entwickeln.
So zeigt sich erneut, dass ihre Werke nie einen Abschluss finden und nicht als fertig bezeichnet werden dürfen. Die Werke können auch als fragmentarische Aufzeichnungen gesehen werden, die Hinweise geben, ohne zu belehren. Sie zeigt hier ein a priori, auf welches aufgebaut werden kann. Einheit und Vielheit, Notwendigkeit und Zufall, werden nicht von vornherein in den Diskurs zwischen Betrachter:in und Werk eingebracht. Das Charakteristische in ihren Werken ist der Freiheitsgedanke, welcher ein Selbstdenken fordert. Die schöpferische Ausdruckskraft ist bei Yoon-Hee das Symptomatische, denn ihre Arbeiten sind ein gelungener Versuch das Unbedingte erfahrbar zu machen. Darin zeigt sich auch das experimentelle Moment, auf deren Basis Kritikfähigkeit bei den Rezipient:innen evoziert wird. Die eigene Interpretation ereignet sich in den Räumen zwischen dem Fragmentarischen als eine unendliche Erweiterung und ist eine den Betrachtern:innen überlassene Aufgabe. Darin kündigt sich das Unbeschreibliche und Geheimnisvolle an, was eben nie vollständig ausgefüllt wird. Jedes von Yoon-Hee erschaffene Werk ist eine Herausforderung an die Fantasie.

S. 240/241 Torsion brûlée, 1983 Ausstellungsansicht I Installation view, 1984 Galerie des Beaux-Arts, Paris, Frankreich I France Foto: Yoon-Hee © Yoon-Hee 2022
S. 240/241 Torsion brûlée, 1983 Ausstellungsansicht I Installation view, 1984 Galerie des Beaux-Arts, Paris, Frankreich I France Foto: Yoon-Hee © Yoon-Hee 2022

Wesentlich ist ihrer Kunst, dass die gesamte Wirklichkeit als ein beständig fließender Wandel, als ein dynamisches Wechselspiel von Polaritäten aufgefasst wird. Yoon-Hee sieht Gegensätze nicht als Antithesen, die einander nach dem Entweder-oder-Prinzip ausschließen. Sie kündet von einem Dualismus, der geheimnisvoll ist, aber kein dunkles mystisches Rätsel bleibt.
Das Unvollendete sticht zwar als das Charakteristische und Konzeptionelle in ihren Arbeiten heraus, aber nicht in dem Sinne, dass etwas fehlt. Sie greift nur in einen Moment des Zeitlichen ein, womit nichts Endgültiges verabschiedet ist. Das Anhalten der Dynamik, um das Festhalten an einer Energiequelle zu verdeutlichen, die sich aus dem Moment ergibt oder zumindest diesen Eindruck erweckt, bekunden zugleich auch die Markierungen der Schönheit im Werk von Yoon-Hee.

Die Ausstellung im Ludwigsmuseum Koblenz war als „non finito“ benannt und bekundete damit ein weiteres Mal die Offenheit des Gesamtwerkes. Der sich daran anschließende reich bebilderte Katalog kann als wegweisende Stellungnahme der Künstlerin gesehen werden. In englischer und deutscher Sprache wendet er sich polyglott an eine Leserschaft, die sich neuen Tendenzen öffnet und dem angezeigten Weg Yoon-Hees eigene Sichtweisen entgegenbringt: Alles ist getan, nichts bleibt unvollendet, um nicht dennoch weiter gedacht zu werden, denn der Fluss der Interpretationsmöglichkeiten geht in Yoon-Hees Kunst weiter.


Katalog zur Ausstellung im Ludwigmuseum Koblenz 2022
Titel: Yoon-Hee
Hrsg.: Beate Reifenscheid
Autor:innen: Beate Reifenscheid, Jinsang Yoo, Sim Eunlog, Airyung Kim, Colette Garraud, Philippe Cyroulnik, Jean Deloche
255 S. mit 127 farbigen Abbildungen
In deutscher und englischer Sprache
Wienand Verlag & Medien
ISBN 978-3-86832-717-5

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