Buchrezensionen

César Aira: Eine Episode im Leben des Reisemalers, Matthes & Seitz 2016

Eine alles verändernde Katastrophe im Leben des deutschen Malers Moritz Rugendas schildert die Novelle des argentinischen Erfolgsautors César Aira. Stefan Diebitz hat das schmale, aber sehr anregende Werk gelesen.

Airas kleiner Roman genügt in jeder Hinsicht der berühmten Definition der Novelle durch Goethe, denn das Buch arbeitet zwar eingangs die kunstgeschichtliche Bedeutung Alexander von Humboldts und des mit ihm befreundeten, ihm persönlich verpflichteten Landschaftsmalers Moritz Rugendas (1802–1858) heraus, konzentriert sich aber sonst ganz auf »eine unerhörte Begebenheit«, deren Schilderung die zweite Hälfte der Novelle bestimmt.

Auch über den bloßen Plot hinaus ist das Buch eine Reflexion über das Selbstverständnis eines Künstlers, vor allem über seine Begegnung mit der lebendigen Natur. Wenn Aira Rugendas‘ Arbeitsweise beschreibt, hat er offensichtlich immer Alexander von Humboldt im Hinterkopf. Diesem waren die Kupferstiche für seinen vielbändigen Reisebericht enorm wichtig, und er stürzte sich nicht allein in Unkosten für sie, sondern stand nach langen Jahren der Arbeit an seinem Hauptwerk wegen der exorbitanten Summen, die er für sie zahlen musste, sogar kurz vor dem finanziellen Ruin. So musste er sich andere Wege der Finanzierung suchen und fand diese in der Förderung einzelner Künstler durch den König auch wirklich.

Die Kupferstiche in seinen Werken waren weit mehr als bloße Illustrationen, denn das ästhetische Erleben gehörte für Humboldt zu den originären Zugängen zur Natur. Anders, als uns das Daniel Kehlmann in seinem Roman »Die Vermessung der Welt« suggeriert, kam es ihm nicht etwa auf die Vermessung der Natur an, nicht darauf, sie in Zahlen einzufangen, sondern es ging ihm ganz im Gegenteil darum, sie visuell zu erfassen. Sein Konzept der Naturwissenschaft, die Pflanzengeografie, zielte auf die Physiognomie einer Landschaft. Für ihn war das Sehen wichtig, nicht das Messen und Zählen. Aira drückt das sehr schön aus, wenn er schreibt, dass es Humboldt um die »Summe der in einem umfassenden Gemälde zueinander in Beziehung gesetzten Bilder« ging.

Der Schlüssel zu einer Landschaft, zitiert Aira Humboldt, ist das »naturhafte Wachstum«. Deshalb stand die Pflanze im Mittelpunkt von Humboldts Interesse, und deshalb glaubte er an die Bedeutung aller Bilder, denn es ist ja mehr die Flora als die Fauna, die den optischen Eindruck bestimmt. In jedem Fall waren die Bilder für ihn mehr als bloße Illustrationen, sondern im Grunde das Ziel seines ganzen Unternehmens, denn er wollte im Bild das Wesen einer Landschaft erfassen. In seinen »Ansichten von der Natur« gab er ja auch selbst eine Art verbale Landschaftsmalerei, wenn er die typischen Landschaften der Erde in einer sehr anschaulichen und lebhaften Weise schilderte, und er hoffte, wie er am Ende seines Lebens im »Kosmos« schrieb, dass seine eigene Epoche die »Landschaftsmalerei zu einer neuen, nie gesehenen Herrlichkeit« führen werde. Deshalb war ein begabter Maler wie Rugendas mehr als ein bloßer Zuträger.

Aira stellt Rugendas als einen großen Maler dar, aber es ist nicht ganz sicher, dass das wirklich zutrifft. Er war sicherlich begabt und hat ein dank seines Fleißes, seiner guten Technik und seines Auges großes und beachtliches Werk hinterlassen, aber er besaß auch schwache Punkte, zu denen ganz unbedingt die Darstellung von Menschen gehörte; immer wieder findet man Bilder, in denen die Figuren verzeichnet sind. Genrebilder, die er häufiger malte, waren deshalb vielleicht nicht seine ganz große Stärke.

Aber es gelang ihm ein ums andere Mal, ganz im Sinne Alexander von Humboldts die Atmosphäre einer Landschaft einzufangen – nicht allein die typische Linie eines Gebirgszuges oder die Gestalt einer einzelnen Pflanze, sondern vor allem auch das Zusammenspiel, das Zusammenfließen verschiedener Grüntöne und das charakteristische Blattwerk Südamerikas unter einem für die Landschaft typischen Himmel. Aira spricht von dokumentarischen Arbeiten, und es ist ja auch wahr, dass Zeichner in der Zeit vor der Fotografie diese Funktion in einem Expeditionskorps besaßen, aber die Kunst Rugendas‘ ging weit über das bloß Dokumentarische hinaus. So gibt es von ihm etliche Arbeiten, die in ihrer leuchtenden Farbigkeit auf den Impressionismus vorausdeuten.

Gleich zu Beginn des Buches spricht Aira die vielen Werke von Rugendas in Privatsammlungen Argentiniens an, aber die naheliegende Vermutung, diese Arbeiten seien während seines Aufenthaltes vom Künstler selbst erworben worden, bestätigt sich nicht. Vielmehr hatte sich die Berliner Nationalgalerie 1907 unter der Leitung von Hugo von Tschudi von zahlreichen Bildern getrennt, die daraufhin in die Völkerkundesammlung übergingen. Aber auch dort blieben sie nicht, sondern wurden 1926/27 nach Südamerika verkauft.

Aira stellt Rugendas nicht nur als einen großen Maler dar, sondern darüber hinaus als den Erfinder der Ölskizze. »In jenen Jahren hatte Rugendas ein innovatives Verfahren entwickelt, die Ölskizze. Das bedeutete eine Neuerung, welche die Kunstgeschichte als solche verzeichnet hat.« Nein, das hat sie nicht. Werner Busch hat in seinem maßgeblichen Aufsatz »Die autonome Ölskizze in der Landschaftsmalerei« ganz andere Künstler angesprochen, ältere und auch wohl berühmtere, und Rugendas hat er mit keinem Wort erwähnt. Dass der »junge deutsche Maler keine anderen Vorgänger als ein paar englische Exzentriker mit Turner als Vorbild« hatte, ist deshalb definitiv falsch.

Airas Buch ist auch eine Reflexion über sein eigenes Kunstverständnis, und er kommt auf die Ölskizze zu sprechen, weil sie sein eigenes Verfahren charakterisiert. Denn dieser Autor ist bekannt für seine Kurzromane, von denen er gelegentlich mehrere in einem Jahr publiziert, und er kokettiert damit, niemals Korrektur zu lesen. Wenn das wirklich stimmt, dann verhält er sich wie ein Maler, der Ölskizzen anfertigt, ausstellt und verkauft, ohne diese sorgfältig und zeitaufwendig zu Ölgemälden auszuarbeiten. Dann porträtiert er in Rugendas sein eigenes Arbeiten.

Niemals Korrektur zu lesen ist aber schon eine fragwürdige Sache. So finden sich innerhalb weniger Zeilen – es handelt sich tatsächlich um einen einzigen Absatz! – folgende Beschreibungen von zwei Gesichtern: »ausdruckslos«, das »Gesicht von der Mantille verhüllt«, »die absurden Grimassen«. Ja, was denn nun? Und auch Übersetzer und Lektor ist einiges vorzuwerfen: zahlreiche Trennungsfehler, »Persöhnlichkeit« könnte man eventuell anders schreiben, und noch immer gilt die alte Regel: »wer brauchen ohne zu gebraucht, braucht brauchen gar nicht zu gebrauchen« (»was er nicht sagen brauchte«).

Die »unerhörte Begebenheit« dieser Novelle ist ein schweres Gewitter, in das Rugendas in der Mitte des Buches gerät; gleich zweimal wird er von einem Blitz getroffen, und nach dem zweiten Mal geht das Pferd mit ihm durch, während sein Fuß noch im Steigbügel festsitzt, und schleift ihn hinter sich her. Als Folge dieses Unglücks ist sein Gesicht schrecklich entstellt, so dass er vom Autor als »Ungeheuer« bezeichnet wird:

»Denn sein Gesicht war schwer in Mitleidenschaft gezogen. Eine große Narbe lief von der Mitte der Stirn bis zu einer Schweinchennase, deren Löcher auf unterschiedlicher Höhe saßen, und von der Narbe bis zu den Ohren zog sich ein feines Gewirr roter Blitze. Der Mund hatte sich zu einer Rosenknospe zusammengezogen, verknittert und verknautscht. Das Kinn war nach rechts gewandert und ein einziges suppenlöffelgroßes Grübchen.«

Dazu kommen allerheftigste neuralgische Schmerzen, denen er nur mit Morphium und anderen schweren Mitteln begegnen kann; die Drogen sind dem Autor ein willkommenes Hilfsmittel, die Geschichte um surreales Geschehen wie um surreale Fantasien zu erweitern. Nach dem Unfall hat sich Rugendas‘ Leben in jedem Fall dramatisch verändert, und das ist neben seiner künstlerischen Begegnung mit der Natur das zweite große Thema des kleinen Romans, der in allerlei turbulent-absurden Szenen endet.

Airas Buch ist energisch und konzentriert auf den Punkt erzählt – in seinen besten Passagen erinnert es an klassische Literatur. Dazu ist es wirklich verdienstvoll, auf Moritz Rugendas hinzuweisen, dessen Werke zuletzt 2010 in Berlin unter dem Titel »Kunst um Humboldt« zu sehen gewesen sind, zusammen mit Arbeiten von Ferdinand Bellermann und Eduard Hildebrandt. Allerdings zeigte die Berliner Ausstellung fast ausschließlich seine mexikanischen Ansichten, nicht solche aus Argentinien, wo die Handlung des Romans angesiedelt ist. Dieses Bändchen enthält eine ganze Reihe von Illustrationen, aber weil sie klein sind und schwarzweiß und zum Text nicht passen (zum Schluss findet sich sogar eine Meeresbucht mit Segelschiffen!), hätte man sehr gut auf sie verzichten können.

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