Rezensionen

Christian Bauer (Hg.): Erwin Osen. Egon Schieles Künstlerfreund. Hirmer Verlag

Das Buch ist ein Hochgenuss. Herausgeber Christian Bauer zeigt Erwin Dominik Osen (1891-1970) als Exzentriker einer neuen Zeit. Dabei gelingt es, das Besondere jener Jahre nachzuempfinden, als das Neue der Secession noch wirklich neu war. Es ist das Originäre, was sich hier in einer „Klasse für sich“ offenbart. Osen avanciert zum Star und versprüht eine fremde und doch lebensnahe Sphäre, die vom Hirmer Verlag in Szene gesetzt wird. Erwin Osen ist eben nicht nur der Künstlerfreund Egon Schieles, das wird nach der Lektüre klar. Osen ist Ideengeber, Verführer, Kenner und eben wohl auch Genie. Von seiner schöpferischen Kraft künden nicht nur Malereien und Zeichnungen, sondern auch sein Kunstverständnis für das Ballett und seine soziale Kompetenz, die hier in einem Licht erscheint, welches ihn als Star der Provokation outet. Melanie Obraz folgte den Spuren dieser facettenreichen Persönlichkeit.

Cover © Hirmer Verlag
Cover © Hirmer Verlag

Osen wurde diffamiert, bevor ihm Anerkennung zu Teil wurde. So ist auch nicht nur der intensive Eindruck, den er auf Egon Schiele machte, in diesem Buch das Thema, sondern seine Lebensgeschichte, die als Teil einer neu sich etablierenden Künstlerschaft zur Darstellung kommt. Deutlich wird, dass Osen keine Randfigur der Secession ist. Von seiner künstlerischen Tätigkeit gingen entscheidende Impulse aus, wie es die im Buch abgebildeten Zeichnungen, Malereien und Fotos seiner Auftritte als Pantomime und Tänzer verdeutlichen. Als Cover ist dann auch das von Schiele gemalte Portrait des Mimen Erwin Osen ausgewählt, welches den Stil der Secession auf den sogenannten Punkt bringt: Keine Schnörkel, keine ästhetisch anbiedernden Schönheitsinterpretationen zeigen sich hier. Darüber hinaus thematisiert Christian Bauer die „spirituelle Bilderwelt des Erwin Osen“ und betont dessen Begabung, die Intensität der Natur darzustellen. Südseemotive, Portraits und Zeichnungen bekannter Bauwerke, wie Notre Dame in Paris, stellen Erwin Osen in ein geradezu betörendes Licht und stellen die Frage, warum er nicht längst so bekannt ist wie Schiele, zumal er auch als Fotograf und Filmschaffender in Erscheinung trat.

Erwin Osen und Käthe Brzezinski, (Iby Chong), um 1913, Privatbesitz
Erwin Osen und Käthe Brzezinski, (Iby Chong), um 1913, Privatbesitz


Bemerkenswert sind auch die Zeichnungen seiner Tänzerinnen und überhaupt seine Sicht, die er dem weiblichen Geschlecht entgegenbrachte. Die Portraits wie auch die Filme, in welchen er das Bild der Frau „ins Licht rückte“, bekunden ein intensives Schauen in die seelischen Zustände der femininen Persönlichkeit. Vielleicht darf man sagen, dass er mit den Augen des Menschen seine Portraits erschuf und nicht so sehr mit jenen eines Mannes. Osen bringt das Feminine auf diese Weise in einem neuen Glanz und eigener Ausdrucksstärke zur Geltung.
Auch zeigt sich hier das pulsierende Wien, das damals mit 2 Millionen Einwohner:innen eine Metropole war und neuen Entwürfen in den Künsten eine Plattform par excellence ermöglichte, die nicht selten von einem Fluidum der Provokation gekennzeichnet waren. Künstler wie Schiele und eben auch Oser profitierten davon. Es fand sozusagen eine Symbiose zwischen Künstlern und Metropole statt. Das Buch illustriert so auch die Kunst jener Zeit als lebendigen Organismus, in dem Osen als enfant terrible eigener Art seine Auftritte genießen durfte, war doch das künstlerische Leben in den Salons immer wieder auf Erneuerungen aus. So zeichnet sich auch eine Dynamik ab, in welcher Frauen ihre Emanzipation als Künstlerinnen ausprobieren konnten. Eine reiche Anzahl von Fotodokumenten unterstreicht das Kunstschaffen jener Zeit.
Darüber hinaus wendet sich das reich bebilderte Werk auch heiklen Themen wie der Transsexualität, der Homoerotik und deren Diffamierung zu, die oft in einer Pathologisierung gipfelte. Auch Osen war als Patient betroffen und fertigte Portraits seiner Leidensgenossen an und damit entsteht das eindrucksvolle Bild einer unverstandenen und doch nicht hoffnungslosen Kunst, die sich zur Aufgabe gemacht hatte, nicht zu ducken und in der Flut der Vorurteile unterzugehen. Deutlich wird, dass Osen provoziert, aber die Provokation gründet tief in seiner Persönlichkeit und zeigt die Verwundbarkeit und die Wunden, die auch aus dem nicht entgegen gebrachten Verständnis resultierten. Die Zeit der Secession war immer wieder als Aufbruch gekennzeichnet, womit jedoch nur bewiesen war, dass es keine Lösungen und grundsätzlichen Erkenntnisse gab, die von einem breitgefächerten Publikum adaptiert wurden.

Erwin Osen, Parsifal, Perücke: Die Maske des Klingsor, 1913, Privatbesitz
Erwin Osen, Parsifal, Perücke: Die Maske des Klingsor, 1913, Privatbesitz


Einmal mehr zeigt Osen, dass die Zeit eben noch nicht reif war und alles erst auf der Stufe der Vorbereitung ablief. Aus heutiger Sicht ist es eine spannende Epoche, doch die Realität jener Jahre Anfang des 20. Jahrhunderts gibt viele Rätsel auf und beschreibt dennoch eine Zeit, die uns heute bereits weit voraus zu sein scheint. Kunstpraxis und klinische Medizin schließen sich bei Osen nicht aus. Sie stehen in einer symbiotischen Beziehung und verdeutlichen, wie sehr die Künste hilfreich, schützend und weiterführend für den Menschen waren und sind. Seine Wirkungsstätte war einerseits das Varieté, der Salon und andererseits auch das Spital. Gegensätze, die sich bei Osen ineinander fügen.
Der verletzbare, entblößte Mensch, der Schutzlose, der jeder Hülle beraubte, steht bei Osen im Fokus und der Künstler bezeugt damit eine Gefühlsebene von höchster Empathie für eine Verwundbarkeit, die jeden Menschen in irgendeiner Weise betreffen kann. Der hier vorgestellte Mensch ist in seiner Verletzbarkeit nicht nur der Kranke, sondern derjenige, der ein Bildnis anbietet, welches zur Teilhabe auffordert. Damit stellt Osen das herausragende Thema der Wiener Moderne dar. Sehr kapriziös und in seiner Selbstdarstellung ein Könner, beweist Osen, dass Kunst immer auch einen psychologischen und vor allem einen soziologischen Aspekt aufweist. Bestimmt zeichnete er auch eine bizarre Seite in die Kunstwelt, durch welche sich diese einmal mehr neu erfand.

Erwin Osen, Porträt Johanna Klinger, Nr. 715/13, Steinhof, Pav. 5 („für Unruhige“), 1913, Privatbesitz
Erwin Osen, Porträt Johanna Klinger, Nr. 715/13, Steinhof, Pav. 5 („für Unruhige“), 1913, Privatbesitz


Einerseits traumatisiert und andererseits erfrischend leicht, sanft und transparent wie ein seidenes Blatt erscheinen seine Malereien, Zeichnungen, die selbstverständlich die Verbindung zu dem Pantomimen und Tänzer ebenso markieren wie die aporetische Ebene des Tragischen. So wird offensichtlich, dass Osen auch Egon Schiele mit und in seiner Exaltiertheit inspirierte. Der Mensch mit all seinen Facetten – eben auch seiner Sexualität, den erotischen Beziehungen, findet bei Osen eine Form, die sich jeglichen Feigenblattes verwahrt. Direktheit und schonungslose Wahrheit sind in Bildern eingefangen und warten auf das Publikum, um im Leben anzukommen und das Verhalten der Menschen zu beeinflussen. Der sich oft in ausdrucksstarken Posen präsentierende Osen bewies ein Talent, dass seine Mitmenschen zu einem neuen Blick auf die Welt ermunterte, um nicht müde zu werden, sich vorurteilslos einen eigenen Weg zu bahnen.
Ein Aufruf, der so auch heute und vielleicht für jede Zeit gelten kann.

Titel: Erwin Osen. Egon Schieles Künstlerfreund
Herausgeber: Cristian Bauer. Universität für Weiterbildung Krems
Beiträge von Christian Bauer und Friedensreich Hundertwasser
Text: Deutsch / Englisch
224 Seiten, 250 Abbildungen in Farbe
Verlag: Hirmer
ISBN: 978-3-7774-4139-9
Erstveröffentlichung: 2023

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