Der Film ist eine Legende, seine Macher haben sich in die Annalen der Filmkunst eingeschrieben – »Letztes Jahr in Marienbad«. Im Katalog zur Ausstellung kann man den Film eingehend erkunden und seine Wirkung auf die Kunst der Gegenwart bewundern. Stefanie Handke hat sich in das Werk vertieft.
Kaum ein Film steht so für die Avantgarde und für die Verbindung von Film und Kunst wie »Letztes Jahr in Marienbad«. Mit ihm schufen Regisseur Alain Resnais und Drehbuchautor Alain Robbe-Grillet ein revolutionäres Meisterwerk der Filmkunst und einen weiteren Versuch, den Noveau Roman auf die Leinwand zu bringen. Dass der Stil des Films bis heute einzigartig ist und die Kunst der Gegenwart beeinflusst, beweisen Katalog und Ausstellung.
So präsentieren sich hier neben Modellen, Drehbuchausschnitten, Kinoplakaten und schließlich Filmstills auch eigenständige Kunstwerke, die den Einfluss des großen Films nur schwer leugnen können. Geordnet sind sie nach inhaltlichen Gesichtspunkten, wobei auf Originaldokumente rund um den Film »Räumlich-Illusionistische Bildwelten« folgen. Diese beweisen wie sehr »Marienbad« sich in der Kunst bedient hat. Die Standbilder zeigen dabei die ganz eigene und zugleich von Künstlern wie Piero della Francesca und Paul Delvaux beeinflusste Ästhetik: die Perspektive der Filmaufnahmen und natürlich die Abkehr von klassischen stringenten Erzählstrukturen. Die berühmte Einstellung im Park des fiktiven Hotels steht dabei symbolhaft für den gesamten Film: sie vereint eine strenge Perspektive mit irritierenden Aha-Momenten (etwa, wenn der versonnene Betrachter feststellt, dass die Bäume des Parks keine Schatten werfen, die Protagonisten aber schon). Als Antwort auf die Gartenbilder aus dem Film können dabei die abgebildeten Fotografien von Eugène Atget verstanden werden, die stille, fast schon surreale Aufnahmen der Parks von Versailles und Saint-Cloud zeigen. Betrachtet man Magrittes »Le grand siècle« (1954), erscheint das Werk die im Film evozierte Einsamkeit regelrecht vorauszunehmen. Der Katalogteil thematisiert sodann das Verhältnis zwischen Kunst und Wirklichkeit (z.B. mit Gerhard Richter oder Patrick Faigenbaum). Eng verbunden damit ist die Wahrnehmung der Zeit im Film, vor allem die Erzählstringenz. Immer wieder ist der Zuschauer mit Rückblenden konfrontiert, mit unterschiedlichen Orten bis er zuletzt nicht mehr zwischen filmischer Realität, Erinnerung und Traum (oder Wahnvorstellung?) unterscheiden kann.
Dem »Tableau vivant und Film still« ist ein eigener Bereich gewidmet und der Leser ist verwundert, ist das Filmstill doch eigentlich nur die statische Abbildung einer bewegten Kunstform. Oder nicht? Nein! Cindy Sherman bewies bereits Ende der 1970er Jahre nämlich, dass es sich hier um eine eigene Kunst handeln kann. Ihre »Untitled Film Stills« sind mitnichten filmischen Vätern und Müttern entnommen, sondern eigens inszeniert und obendrein voller Zitate oder eher Erinnerungen an die eigenen Kinoerfahrungen Shermans. Ähnlich der Erzählstrategien des Noveau Roman und seiner filmischen Umsetzungen sind dagegen die Arbeiten David Claerbouts undXang Fudongs, die in ihren Arbeiten die Aufmerksamkeit des Zuschauers von der scheinbaren Handlung weglenken (Claerbout) oder ganz auf eine einzige Person fokussieren (Fudong).
Oft diskutiert wurde die üppige Ausstattung des Films und die prächtige Umgebung der Handlung. Die Drehorte, Schloss Nymphenburg und Schloss Amalienburg, waren dabei eine bewusste Wahl des Regisseurs Resnais, denn ihr Reichtum an Rocailles ermöglichte es, Resnais Wunsch, den Inhalt auch durch die Form und die filmische Ausstattung zu vermitteln, zu verwirklichen. Künstler wie Robert Longo (»Untitled (Opera Chandelier«, 2011), Jeff Koons (»Christ and the Lamb«, 1988), Rodney Graham (»Actor/Director«, 1954)oder Pablo Bronstein (z.B. »Theatre Section with Stage Design for an Oliver Cromwell Ballet«, 2014).
Die Anordnung der Kunstwerke im Katalogteil des Buches korrespondiert dabei eng mit den Aufsätzen. So widmet sich Christoph Grunenberg dem »Marienbad Look« von surrealen Standbildern bis hin zu barocken Räumlichkeiten, die einen übertriebenen Luxus erzählt. Auch die Rezeption des Films ist ihm ein Thema. So erkennt er in der Pop Art, selbst in der Minimal Art den gleichen Hang zur Oberfläche, der über die Oberflächlichkeit hinausgeht: »In Marienbad werden enigmatische Bilder so selbstverständlich aneinandergereiht, wie auch die Objekte der Minimal Art in ihrer stillen Präsenz sich tautologisch der Interpretation verweigern.«
Sophie Rudolph setzt sich in Gänze mit dem Verhältnis von Kunst und Film in »Letztes Jahr in Marienbad« auseinander. Der Film als Kunstwerk an sich ist dabei nur ein Aspekt, wenn auch ein bedeutender: Sieht man sich das Meisterwerk an, so fällt die Langsamkeit der Einstellungen, die kühl-distanzierte, nichtsdestotrotz stille Erzählweise auf – dieser Film ist beileibe kein bloßer Zeitvertreib, er verlangt Auseinandersetzung, einen Blick für das Detail und intensive Beschäftigung. Auch vor dem Hintergrund einer Literaturkritik untersucht Rudolph Marienbad; als ein »unreiner Film« (cinéma impur) setzt er literarische Erzählweisen in Szene, ja er geht noch darüber hinaus und greif Erzählformen der bildenden Kunst auf – so erweitert die Autorin den Begriff des »cinéma impur«. In der berühmten Alleeszene, die so statisch ist und allein durch Kamerafahrten eine gewisse Dynamik erhält, erkennt sie Verwandtschaft zu Giacomettis »Platz« (S.59). Überhaupt gehen Literatur, Filmkunst, Landschaftsarchitektur, Malerei und Skulptur hier eine Symbiose ein wie sie sonst nicht zu finden ist und Hauptdarstellerin Delphin Seyrig wird oft genug gleichsam zu einer Skulptur.
Doch noch eine zweite Skulptur spielt eine Hauptrolle im Film, wie Steven Jacobs »Auch Statuen sterben in Marienbad: Die Skulptur in Letztes Jahr in Marienbad« darlegt. Gemeint ist die Skulpturengruppe, bestehend aus Mann, Frau und Hund, die laut Protagonist »A« Ort der ersten Begegnung mit »X« ist und über deren Identität sich das Filmpaar nicht einig werden kann. Bei der Skulptur handelt es sich nicht um ein Depotstück, sondern um ein von Filmarchitekt Jacques Saulnier geschaffenes fiktives Pappmaché-Werk, das aufgrund seiner Leichtigkeit leicht zu bewegen war und so noch viel leichter den Ort wechseln und so sie surreale Stimmung des Films verstärken konnte. Angelehnt ist es an ein Werk an Nicolas Poussin, das bis heute nicht genau bestimmt werden konnte, jedoch macht Jacobs noch weitere Verwandtschaften aus, sogar mit den im Schlosspark Nymphenburg stehenden Statuen.
Vielleicht ist aber auch »Letztes Jahr in Marienbad« selbst eine Skulptur, die »als ein ›skulpturaler Film‹ mit einer Gartenstatue als einem seiner Protagonisten« gesehen werden kann. Zuletzt bleiben, wie bereits bei Rudolph angedeutet, die Hauptfiguren selbst statuenhaft und auf einem Tableau vivant angeordnet, um das sich die Kamera bewegt. So erweckt der Film die Skulptur zum Leben – auch die geheimnisvolle Statuengruppe, die das Gespräch der Protagonisten anregt wie das auch in früheren Dokumentarfilem des Regisseurs Alain Resnais der Fall war.
Der Katalog zur Ausstellung widmet sich dieser Skulptur namens »Letztes Jahr in Marienbad« aus kunst- und medienwissenschaftlicher Sicht, zeigt dabei Einflüsse der Macher genau auf und kratzt trotzdem kaum am Mythos des Films. Auch wenn man die Ausstellung nicht besucht hat, ist er eine echte Bereicherung!