Ausstellungsbesprechungen

Die Essenz der Dinge – Design und die Kunst der Reduktion, Museum August Kestner Hannover, bis 26. Juni 2011

Mit dem Neuen Italienischen Design in seinen Spielarten von Alchimia und Memphis schien die letzte Stunde des Funktionalismus geschlagen zu haben. Nicht mehr der Gebrauchswert eines alltäglichen Gegenstandes schien das Maß der Dinge zu sein, sondern sein „künstlerisches“ Auftreten, sein grelles, nicht selten auch provozierendes Äußeres. Inzwischen haben sich die Wogen geglättet und die Frage nach dem Wesen eines Gebrauchsgegenstandes, nach der „Essenz der Dinge“, hat erneut Konjunktur. Dies ist auch die Kernfrage einer Ausstellung, die derzeit im August Kestner-Museum in Hannover zu besichtigen ist. Rainer K. Wick hat sich für PKG umgeschaut.

In einem Prolog und zwölf Kapiteln beleuchtet die Ausstellung das »Design und die Kunst der Reduktion« – so der Untertitel – unter ökonomischen, funktionalen, ästhetischen und ethischen Aspekten. Gezeigt werden Nutzobjekte, die gestaltet wurden, um eine bestimmte, ihnen zugedachte Aufgabe optimal zu erfüllen und dabei zugleich ästhetischen Ansprüchen gerecht zu werden. Ein so verstandenes Design wird gemeinhin als „funktionalistisch“ bezeichnet, ein Begriff, der sich von dem Ende des 19. Jahrhunderts geprägten, berühmt gewordenen Satz »form follows function« des amerikanischen Architekten Louis Sullivan herleitet. Seit den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts, dem Bauhaus und seiner großen Schar sympathisierender Adepten, wurde dieses Credo zur vorherrschenden Designideologie, die erst mit dem Aufstieg der Postmoderne gründlich erschüttert wurde.

Dass es sich immer noch lohnt, genau hinzuschauen, was es mit der Kunst der Reduktion auf sich hat, stellt die Hannoveraner Ausstellung überzeugend unter Beweis. Besonders interessant ist das, was den Besucher im einführenden, unter der Überschrift »Prolog« firmierenden Teil der Ausstellung erwartet. Denn hier handelt es sich nicht primär um eine Parade der Großmeister des Designs, sondern um Schlaglichter auf eine »Designgeschichte ohne Namen«, um einen klassisch gewordenen Begriff des Kunsthistorikers Heinrich Wölfflin abzuwandeln. Unübertroffen hinsichtlich ihrer Funktionalität bei gleichzeitiger formaler Reduktion präsentieren sich ein altsteinzeitlicher Faustkeil (gerühmt als »Schweizer Messer der Steinzeit«), ein Eierkarton aus Pappe, ein Topfuntersetzer aus geflochtenem Metalldraht, ein Sparschäler, eine japanische Schere und manch andere nützliche „tools of everyday“. Selbst wenn der Name des Entwerfers bekannt ist (wie im Fall des seit 1947 unveränderten Sparschälers von Alfred Neweczerzal), handelt es sich um Objekte, die eher der Kategorie des so genannten anonymen Designs zuzurechnen sind und eine »personalisierte Autorenschaft gar nicht nötig zu haben« scheinen, da sie durch »die unaufdringliche Unterstützung menschlicher Alltagshandlungen« überzeugen, so Wiebke Lang im begleitenden Katalogbuch.

Aber auch an den Highlights der Designgeschichte ist in Hannover kein Mangel. Dargestellt wird das Prinzip der Reduktion in erster Linie am Beispiel des Sitzmöbels. Das ist weder neu noch originell, gelten Stühle und Sessel doch seit eh und je als bevorzugte Objekte, um designgeschichtliche Entwicklungen zu demonstrieren. Erinnert sei nur an die zahlreichen Ausstellungen und einschlägigen Publikationen, die sich in der Vergangenheit diesem Gegenstand gewidmet haben. Verständlich und nachvollziehbar wird diese Akzentuierung natürlich, wenn man sich die Tatsache bewusst macht, dass die Ausstellung von dem 1950 gegründeten Unternehmen Vitra konzipiert wurde, einem der global agierenden Möbelhersteller.

Als Paradebeispiel eines minimalistischen, vom Ballast des Historismus unbeschwerten Entwurfs figuriert in der Hannoveraner Ausstellung Thonets legendärer Bugholzstuhl No. 14 von 1859, mit dem die Industrialisierung der Möbelproduktion begann.

Ein anderes frühes Beispiel für ein vorbildlich reduziertes Möbeldesign ist der handwerklich gefertigte Shaker-Schaukelstuhl aus den späten 70er Jahren des 19. Jahrhunderts. Wenn Reduktion Verknappung der Form, Verringerung des Möbelvolumens, Entmaterialisierung und Transparenz bedeutet, dürfen in der Ausstellung selbstverständlich Designklassiker wie Gerrit Rietvelds »Rot-Blauer« von 1918 oder Marcel Breuers »Wassily« von 1925 nicht fehlen. In der Bauhaus-Zeitschrift Nr. 1 von 1926 findet sich unter der Überschrift »Ein Bauhaus-Film, fünf Jahre lang« eine Fotomontage, die die Etappen der Entmaterialisierung des Mobiliars an einer Reihe von Stühlen demonstriert, die Breuer zwischen 1921 und 1925 entworfen hat. Das letzte Bild in dieser Reihe markiert als utopisches Ziel das Sitzen auf einer „elastischen Luftsäule“ – ein Ziel, das in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts in der Form des aufblasbaren Luftkissensessels aus transparentem Kunststoffmaterial annähernd erreicht werden konnte, wie das in der Ausstellung gezeigte Exemplar »Blow« des italienischen Designerteams De Pas, D’Urbino, Lomazzi und Scolari von 1967 belegt. Als Beitrag zum Thema Transparenz sei auch der aus vernickeltem Streckmetall gefertigte Armlehnsessel »How High The Moon« von Shiro Kuramata aus dem Jahr 1986 und – ironisch verfremdet – der aus einem Einkaufswagen umgeformte Armlehnstuhl »Consumer’s Rest« von Stiletto (Frank Schreiner) aus dem Jahr 1983 erwähnt.

Begleitet von dem gediegenen, aber recht teuren Katalogbuch, ergibt die Ausstellung mit ihren mehr als 150 repräsentativen Objekten eine höchst instruktive Lektion nicht nur zur Designgeschichte, sondern im erweiterten Sinne zu einer Kulturgeschichte des Alltags.

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