Ausstellungsbesprechungen, Meldungen zum Kunstgeschehen

Elger Esser – Eigenzeit. Kunstmuseum Stuttgart, bis 11. April 2010

Die erhabensten Augenblicke erreicht die Kunst im Zusammenspiel von elementarer Größe und persönlicher Neigung – einem solch pathetisch angereicherten Statement darf man heutzutage durchaus misstrauen. Umso überraschender ist es, wenn genau dieser Eindruck entsteht: Die Fotografien von Elger Esser kommen daher wie aus einer anderen Welt. Freilich, die teils großformatigen Küstenlandschaftsmotive und Stadtbilder, die im Stuttgarter Kunstmuseum in retrospektiver Fülle gezeigt werden, sind über die Titel klar zuzuweisen. So heißen die Arbeiten lakonisch nach dem, was sie darstellen: Blois, Lyon, Paris, Biarritz, Saint-Malo, auch weniger vertraute, doch keineswegs fiktive Namen finden sich wie Pont Saint-Nicolas oder Saint-André de Cubzac usw. – nur legt sich über die topographisch so eindeutigen Aufnahmen eine Patina, die einerseits die Aufnahmen scheinbar auf alt trimmen, ihnen andrerseits etwas Malerisches verleihen. Wie auch immer, dadurch rücken die Fotos in eine Ferne, die den Urheber anonymisieren. Zugleich wirft die Spurensuche, die hinter den Motiven offenbar wird, ein Licht auf die individuellen Ausdrucksmöglichkeiten des Künstlers. Günter Baumann berichtet für uns von der Ausstellung.

Zwei Dinge hat Esser, der noch bei dem genialen Fotografen-Paar Bernd und Hilla Becher in Düsseldorf studiert hat, im Visier: die Eigenzeit und die verlorene Zeit. Der Begriff der Eigenzeit ist der Physik entlehnt und bezieht sich auf die Einsteinsche Relativitätstheorie, darüber hinaus unterstellt er semantisch auch so etwas wie die eigene Zeit, will sagen die zeitliche Gegenwart des Künstlers. Hier ist sie wieder, die postromantische Verquickung von überindividueller Größe und personalisierter künstlerischer Freiheit. Das andere ist Essers ausdrückliche Beschäftigung mit Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Daher verwundert es nicht, dass im Begleitprogramm auch auszugsweise Lesungen aus diesem monumentalen Romanprojekt durchgeführt wurden. Der melancholische Grundton reflektiert sozusagen auch die Ästhetik des 19. Jahrhundert, dem die Fotografien durchweg verpflichtet sind, womit der Eindruck des Déjà-vu nicht nur die Wahrnehmung des Betrachters betrifft, sondern auch eine Art kollektives Erinnern umfasst: Die Verwendung von Heliogravüren und handkolorierten Schwarzweiß-Prints evoziert eine bestimmte und bestimmbare Zeit, die die Fotografie als Kulturgut geschaffen hat (von einigen Drucktechniken abgesehen, lässt sich der »Geburtsvorgang« der anderen künstlerischen Gattungen nicht so deutlich beschreiben).

Allerdings ist der 1967 in Stuttgart geborene Elger Esser kein Nostalgiker. Dass er ohne digitale Eingriffe auskommt, liegt im Trend der gegenwärtigen Fotografie. Außerdem verlässt er mit seinen überdimensionalen Vergrößerungen klassischer Postkartenmotive die Gesetzmäßigkeiten des 19. Jahrhunderts und begibt sich vielmehr auf die zeitgemäße Augenhöhe eines Gerhard Richter - der sich von der Malerei auf die Fotografie zubewegt, wie sich Esser gerade andersherum orientiert (die übermächtige Körnung vergrößerter und zumal verblasster Details verzaubert das technisch erzeugte Faktum der sichtbaren Welt ins Fiktive des Malerischen). Man merkt, dass Esser neben der sachlichen Dokumentation und Reduktion der Becher-Schule auch die Reise- und Werbefotografie in sein Schaffen einbezieht, immerhin war er in diesem Metier auch schon tätig. Das poetische Spiel mit der Erinnerung hat also hier ganz nüchterne Wurzeln.

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