Sie studierte am Bauhaus, leitete ein visionäres Designunternehmen und wurde von den Nazis ins Exil gezwungen: Die Biografie von Margarete Heymann-Loebenstein (1899–1990) ist ein Stück deutsche Zeitgeschichte. Ihre kühnen und ausgefallenen Entwürfe für moderne Gebrauchskeramik machten sie in den 1920er Jahren international erfolgreich und begeistern bis heute. Ein reich illustrierter Band zeichnet nun ihr Leben und Werk auf Basis aktueller Forschung und unveröffentlichtem Archivmaterial nach. Katja Weingartshofer hat diese erste Monografie über die Künstlerin gelesen.
Konische Körper, kreisrunde Scheiben, knallige Primärfarben. Konstruktivistische Malerei? Nein, ein Mokka-Service! Margarete Heymann-Loebenstein verstand es wie kein:e andere:r avantgardistische Kunstströmungen in ihre Keramik-Entwürfe einfließen zu lassen. Am Bauhaus ausgebildet, gründete sie zusammen mit ihrem Ehemann Gustav Loebenstein und seinen Brüdern 1923 die „Haël-Werkstätten für künstlerische Keramik“ im brandenburgischen Marwitz, deren Produkte tonangebend für die moderne Steingutindustrie wurden.
Der Katalog „Margarete Heymann-Loebenstein. Keramik für die Avantgarde“ verbindet nun die Biografie einer bedeutenden Keramikerin mit ihren künstlerischen Einflüssen sowie der Geschichte der Haël-Werkstätten und ihrer Produkte. Ausgangspunkt bilden die Familiengeschichten Heymann und Loebenstein. Margarete Heymanns durchwachsene Zeit am Bauhaus, die ihre Arbeit für den Rest ihres Lebens prägen sollte, wird im Katalog lebhaft beschrieben: Dass Bauhäuslerinnen nur Zugang zu den „Frauenabteilungen“ Buchbinderei und Weberei gewährt wurde, nahm Margarete Heymann nicht hin. Sie protestierte und wurde nach dem Vorkurs in die Keramikwerkstatt aufgenommen. Nachdem ihre Probezeit nicht verlängert wurde, verließ sie die Schule und wurde 1922 künstlerische Mitarbeiterin der Steingutfabriken Velten. Johannes Itten, Leiter des Vorkurses am Bauhaus sowie Gertrud Grunow mit ihrer produktiven „Harmonisierungslehre“, spielten in dieser Zeit eine wichtige Rolle für die künstlerische Entwicklung der aufstrebenden Keramikerin und Unternehmerin.
Mit der Gründung der Haël-Werkstätten 1923 betrat Margarete Heymann-Loebenstein mit ihren Keramiken das Parkett der Avantgarde. Die Arbeitsteilung in der Firma war klar geregelt: Die Brüder Loebenstein waren für Finanzen und Vertrieb verantwortlich, Margarete Heymann-Loebenstein für die künstlerische Gestaltung der keramischen Erzeugnisse sowie die Kreation neuer Formen und Dekore. Besondere Bedeutung kam dem Glasur- und Labormeister Franz Eggert zu, der Margarete Heymann-Loebensteins brillante Entwurfsarbeit perfekt ergänzte.
Die ambitionierten Firmengründer:innen stellten ihre Produkte seit 1924 regelmäßig auf der Grassimesse in Leipzig aus. Die Produktpalette wurde ständig erweitert, dabei dem Zeitgeschmack angepasst und gezielt mit Werbung und Produktkatalogen vermarktet. Die Besonderheit der Haël -Werkstätten lag darin, dass sie sowohl avantgardistische Kunstkeramik als auch funktionale Produktlinien produzierten. 1925 und 1928 waren die Haël-Werkstätten als Mitglied im Deutschen Werkbund verzeichnet. 1928, nachdem Daniel und Gustav Loebenstein bei einem PKW-Unfall tödlich verunglückten, wurde Margarete alleinige Geschäftsführerin der Haël-Werkstätten.
Herwarth Walden stellte 1925 erstmals Keramiken der Haël-Werkstätten in der Sturm Galerie aus, obwohl er bis dato keine angewandte Kunst in seiner Galerie präsentierte. Im Exkurs zu Sturm und Bauhaus wird im Katalog der Frage nachgegangen, wie Herwath Walden zur angewandten Kunst stand und wie sich Margarete Heymann-Loebenstein als Künstlerin in diesem Kontext positionierte. Avantgardistische Kunstkeramik wurde zum Alleinstellungsmerkmal der Haël-Werkstätten. So kam es auch zu einer Zusammenarbeit mit dem Plastiker Ewald Mataré, dessen Oeuvre im Katalog im Kontext nationalsozialistischer Kunstpolitik besprochen wird.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten entschloss sich die jüdische Künstlerin und Designerin dazu, ihren Betrieb zu verkaufen und das Land zu verlassen. Es kam zu einem Verkauf der Werkstätten an den NSDAP-Funktionär Heinrich Schild, der die Geschäftsführung übernahm und Hedwig Bollhagen als künstlerische Leiterin einsetzte. Der Verweis im Katalog, dass sich Bollhagen nie zu den Umständen des Erwerbs der Haël-Werkstätten äußerte, zeigt auf die bisher unkritische Auseinandersetzung mit Bollhagen, eine ebenso prägende Keramikerin des 20. Jahrhunderts wie Heymann-Loebenstein. Aufschlussreiche Quellen über Margarete Heymann-Loebensteins letzte künstlerische Tätigkeiten in Deutschland, wie die Gründung eines „Kinder-Studios“ und die Teilnahme an einer Atelierausstellung des Jüdischen Kulturbundes 1935, ergänzen das Kapitel ihrer Flucht aus Deutschland. 1936 flüchtete Margarete Heymann-Loebenstein mit 250 Zeichnungen und 250 Haël-Keramiken nach England. Sie ließ sich in Stoke-on-Trent nieder, einer der wichtigsten britischen Produktionsstätten für Steingut. 1937 gründete sie die Firma „Greta Pottery Ltd.“, im selben Jahr wurde sie künstlerische Beraterin für den Keramikhersteller Minton. Sie entwickelte Produkte unter dem Markennamen „Greta“, darunter adaptierte Haël-Entwürfe. Nach dem Krieg zog sie mit ihrem Ehemann Harold Edward Suter Marks nach London, wo sie 1990 verstarb.
Margarete Heymann-Loebensteins Leben und Werk wird als Seismograf der (Kunst-) Geschichte des 20. Jahrhunderts betrachtet. Ganz gleich ob ihr Oeuvre im Kontext der Kunst der Avantgarde, der politischen Wirren der Weimarer Republik bzw. des Nationalsozialismus oder historischer Glasurtechniken betrachtet wird – der umfassende Katalog hält nicht nur einen profunden Überblick, sondern auch die neueste Forschung zu den jeweiligen Themen bereit. Die Beiträge bestechen durch Klarheit, die sich auch in der typografischen Gestaltung mit markanten Halbgeviertstrichen zu Beginn eines jeden Absatzes zeigt. Dies begünstigt das Querlesen. Doch einmal angefangen, belässt man es bei diesem Katalog sicherlich nicht beim Querlesen.
Titel: Margarete Heymann-Loebenstein - Keramik für die Avantgarde
Herausgeber:innen: Erhard Gerwien, Anna Grosskopf, Tobias Hoffmann
Beiträge von: T. Beck, K. Bilang, M. Friedlander, E. Gerwien, A. Grosskopf, K.-E. Kraack, M. Kufferath, E. Otto, R. Rebbelmund, U. Röthke, C. Steckner, V. Zelinsky
Verlag: Hirmer
224 Seiten, 150 Abbildungen in Farbe
22 x 26 cm, gebunden
ISBN: 978-3-7774-4242-6