Meldungen zum Kunstgeschehen

Eröffnungsrede zur Ausstellung: Sibylle Schlageter und Rolf Zimmermann. Zeichnungen und Malerei. Galerie Alfred Knecht, Karlsruhe, bis 9. April 2009

. Lassen Sie mich mit den zwei Abbildungen aus der Einladungskarte beginnen... In nahezu trauter Zweisamkeit stehen auf der einen Seite der Papierstapel »Am Boden« – so der Titel der Arbeit von Sibylle Schlageter –, auf der anderen Seite drei »Tüten«, ein Bild des Malers Rolf Zimmermann. Die verhaltene Farbigkeit, die mit Entschiedenheit angedeutete Räumlichkeit und das Interesse für die Dingwelt haben einen verwandten Grund. Blättern wir nun noch nach biographischen Details, finden wir beide Künstler als Studenten an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe, fast zeitgleich – mit einer kleinen Handvoll Jahren Altersunterschied überschneidet sich ihr Studium in den späten 60er-Jahren, einer unruhigen Zeit, politisch riskant, aber mit dem Sehnsuchtsblick auf Neuland. Das hört sich ein bisschen danach an, als könnte man hier geradlinig bis in unsre Gegenwart fortfahren.

Aber wie es mit ersten Eindrücken oft so ist: Die eingangs anvisierten Arbeiten sind eine Zufallsbegegnung, und zugegeben: sie passen erstaunlich gut zueinander. Nur verlaufen die Spuren draufhin auf unterschiedlichen und je kurvenreichen Bahnen. Es ist mir wichtig, Sie ein Stück weit auf diesen Wegen zu begleiten, um etwas von der Faszination dieser Kunst und womöglich der Kunst überhaupt zu vermitteln, einer Kunst jedenfalls, die in unendlichen Facetten und Nuancen unser Dasein betrachtet und immer wieder neu entwirft...

Zurück zu den Tüten. Rolf Zimmermann, der – um genau zu sein – nicht an der Karlsruher Akademie, sondern an deren Außenstelle in Freiburg studierte, wurde von Peter Dreher geprägt. Ich sage das bewusst so, weil jede Prägung zugleich ihr Gegenstück herausfordert...: Berühmt wurde Dreher mit seiner Dauerserie »Tag um Tag guter Tag«, für die er seit nunmehr 35 Jahren immer wieder (Gott bewahre, nicht wirklich Tag um Tag) ein schlichtes Wasserglas malt, fotografisch genau ...

Als Rolf Zimmermann bei Dreher studierte, lagen die Serien noch nicht vor, aber die Akribie, mit der er die Dinge anging, auf der Leinwand fixierte, zeigte mittelfristig Wirkung. Zunächst grenzte sich Zimmermann nämlich von seinem Lehrer ab, indem er die schlichten Gegenstände seiner Stillleben ganz und gar malerisch auffasste, hierbei weniger den französischen als den deutschen Impressionisten verbunden, Corinth, Liebermann zum Beispiel, die nicht so farbanalytisch, sondern emotionaler an die Malerei herangingen. Graugrün und Umbra dominierten damals Zimmermanns Palette, und wir begegnen ihr heute wieder. Sowohl in der Palette wie in der gestisch betonten Malerei blieb sich Zimmermann vor allem in der Landschaft treu – in kleinen Formaten gelingen ihm hinreißend-urwüchsige Naturbilder, die sich vehement von den nüchternen Horizontlandschaften Peter Drehers unterscheiden, und die sich den freien Pinselstrich des Frühwerks lebendig erhalten. Näher kommt ihm Rolf Zimmermann schon in seinen jüngeren Stillleben. Die Tüten-Bilder wie übrigens auch Arbeiten aus der hier auch gezeigten Glühbirnenreihe sind – ohne dass sie sich ins Inflationäre ausbreiten würden – in greifbarer Präzision wie die Dreherschen Trinkgläser dargestellt. Dass Zimmermann hier nichts dem Zufall überlässt, zeigen die gründlichen Zeichnungen, die jene Acryl- beziehungsweise Eitempera-Versionen vorbereiten und eine intensive Betrachtung der Motive voraussetzen.

Welche Vielfalt steckt in diesen abgestellten oder umgefallenen Papiertüten, in den abgelegten oder ausrangierten Glühbirnen... Schauen Sie sich die technische Brillanz an, mit der Zimmermann das Papier der Tüten in Falten legt, man glaubt es knistern zu hören! In einer anderen Arbeit macht Zimmermann einen Joghurtbecher zum kleinen flüchtigen Star inmitten einer steinigen Umgebung. Die von Licht und Schatten vorgegebene, gestisch ausgeführte Modulation gibt den aufs Wesentliche, aufs Eigentliche reduzierten Dingen eine Dramatik, die dem Betrachter eine über den bloßen Gegenstand hinausgehende Bedeutung mehr als nahe legt.

Die Glühbirnen, die Zimmermann liebevoll wie einen wirklichen Glaskörper behandelt, in dem sich filigranes Metall in den Raum windet und biegt, stoßen uns sogar im bildlich-wörtlichen Sinn darauf. Dabei will ich den Kalauer eines von der EU verordneten Todesstoßes für die energieverschleudernde gute alte Glühbirne nicht überstrapazieren. Aber als Nachfolgerin der Kerze nimmt die von Thomas Alva Edison perfektionierte und unter dem Basispatent Nummer 223898 zum Siegeszug angetretene Glühfadenlampe in der Ikonographie auch den Platz als Vergänglichkeitssymbol ein. Und selbst die Tage der Tüten und Plastikbecher sind, unter uns, gezählt. Was immer sie enthalten – ihres Sinns entleert, werden sie Altmüll sein. Und weil Rolf Zimmermann sie als Modell zur Kenntnis genommen hat, bewahren sie eben doch noch einen Rest an Bedeutung, und läge der nur darin, auf die Vergänglichkeit der Dinge hinzuweisen.

An dieser Stelle fällt es mir nicht leicht, auf Zimmermanns großformatige Bildserien zu sprechen zu kommen. Weder in der Detailbeobachtung, noch in der malerischen und kompositionellen Umsetzung und schon gar nicht in der ikonographischen Symbolik ist das ein Problem. Nur muss ich die wertfreie Dingwelt auf den vom Schicksal bedrohten Menschen übertragen. Rein verstandesmäßig haben wir den Schritt ja schon vollzogen: Wer die Hingabe an diese banalen Motive erkannt hat, wer irgendwann mit einem niederländischen Stillleben aus dem 17. Jahrhundert konfrontiert wurde, sieht schnell, dass die Dinge ohnehin stellvertretend für menschliche Belange, wenn nicht für den Menschen selbst stehen. Es ist unser Licht, das erlischt, es ist unser Körper, der in sich zusammenfällt. Vanitas – »es ist alles eitel«, das ist: nichtig, wie es seit Martin Luther heißt.

Emotional gestaltet sich der Perspektivwechsel vom Gegenstand zum Menschen schwieriger. Zwischen 1989 und 1992 schuf Rolf Zimmermann nach historischen Fotos mehrere Zeichnungen und zehn Gemälde, die sich mit der Nazi-Vergangenheit seines Onkels in Polen beschäftigten, nachdem sich diese von grausigen Ahnungen in der Jugendzeit zur fast sicheren Gewissheit in den 1980er-Jahren rekonstruieren ließ. Ich will an dieser Stelle nicht weiter auf diesen emotional fesselnden, ergreifenden Zyklus eingehen... Nur soviel: In verfremdende Grün- und Grautöne getaucht, präsentieren sich die amateurhaften Schwarzweißfotografien auf einer ganz anderen, ästhetischen Ebene, aber die Nazischergen zeigen zähnefletschende Fratzen, die anonymisierten Opfer weisen Einschusslöcher im Gesicht auf. Im Ergebnis mischen sich die tragisch-grotesken Wahn- und Wahrbilder der deutschen Verbrechen im Dritten Reich mit der Menschenauffassung von Otto Dix und Francis Bacon zu beklemmenden Szenerien.

Hier sehen Sie Beispiele aus dem zweiten großen Zyklus Rolf Zimmermanns mit dem Titel »Asylbewerber warten«, entstanden in den 1990er-Jahren. Erneut fällt die fast schmerzhaft gute Beherrschung der sogenannten Peinture auf, mit der Zimmermann ans Werk geht. Die reduzierte Farbskala – wieder dominierten Grau und Grün – gleicht er aus in vielfach abgestuften Tonvaleurs. Die Kleidung ist realistisch aufgefasst, der Raum klar definiert. Aber das macht uns unruhig – in allzu friedvoller Ausgewogenheit stehen die Personen da, wie auf einem anderen hier in der Galerie gezeigten Bild Leute an einer Haltestelle zufällig beieinander stehen und warten. Die einen warten auf einen Bus oder eine Bahn, die anderen auf eine bessere Zukunft. Befremdlich sind die Insektengesichter, die zum einen die betroffenen Menschen anonymisieren und verfremden – »Du, die sehen alle gleich aus«, »Du, schau mal, wie die aussehen!« –, zum anderen aber auch die menschenverachtende Verunglimpfung von Asylbewerbern wie überhaupt von fremdländischen, auch andersdenkenden Menschen als niedere Lebewesen zum Ausdruck bringen...

Sollte Kunst insgesamt politisch sein? Darf Kunst Politik machen? Ich bin nicht ganz so bang über die Situation. Spätestens mit der sozialen Plastik von Joseph Beuys und bis in die Gegenwart hinein wissen wir, dass politische Konzepte ungebrochen die Kunst beleben, wenn auch zuweilen mehr im Verborgenen, als uns lieb sein kann. Denn selten genug übernimmt die Kunst den Part der Anklägerin. Ich denke mir, dass die Krisen in der Wirtschaft oder in der katholischen Kirche – um nur zwei Beispiele herauszugreifen – zukünftig wieder einen politisch motivierten Realismus hervorbringen werden, jenseits von einem sozialistischen oder kapitalistischen Realismus. Rolf Zimmermann wird dabei sein.

Ernst ist das Leben, ernst ist auch – entgegen dem landläufigen Ideal – die Kunst. Wir täten ihr aber auch völlig unrecht, wenn wir sie mit einem solchen Ansinnen vorschnell in eine womöglich agitatorische Ecke stellten. Hier ergreife ich die Möglichkeit, Ihnen auch die Arbeiten Sibylle Schlageters vorzustellen. Mit dieser außergewöhnlichen Zeichnerin kehren wir auch wieder zur Ausgangssituation zurück, die uns bei Zimmermann schon umtrieb. Auch Schlageter beschäftigt sich mit einem stark reduzierten Formenrepertoire: aufgefächerte Bücher, gestapelte Papierblätter, Kreis und Rad. Spartanisch reduziert ist auch die Farbigkeit, mehr noch als bei Rolf Zimmermann...

... Wenn Zimmermann mit einem fulminanten Farbengespür den Raum gestaltet, entwirft die studierte Bildhauerin Schlageter ihn mit dem Zeichenstift, dem sie auch die minimalistische Kolorierung unterordnet.

Trotz des Wechsels vom Bildhauerhandwerkszeug zu Graphitstift, Kreide und Pinsel ist sich die Künstlerin treu geblieben. Auch das ist eine Aufgabe der Kunst: die akribische Erkundung der Dinge, der Grundkoordinaten, welche die Welt zusammenhalten. Den Weg dafür hat sicher ihr Lehrer Hans Kindermann schon geebnet. Selbst eher zurückhaltend, zog er als Rektor der Karlsruher Akademie die Fäden, öffnete souverän den Lehrbetrieb in den Zeiten des politischen Aufruhrs, indem er einerseits die solide Ausbildung sicherte und andererseits dafür sorgte, dass die Grenzen der Einzelgattungen durchlässiger wurden. Mit der Berufung von Horst Egon Kalinowski und Rainer Küchenmeister etwa festigte er den internationalen Ruf der Akademie, lange bevor Lüpertz & Co. einzogen. Davon profitierten freilich auch die Studenten, und es scheint mir so zu sein, dass Sibylle Schlageter in dieser Zeit des Aufbruchs zu der beschriebenen Erkundungstour aufbrach, die ihren Weg bis heute bestimmt.

Sibylle Schlageter spürt mit fast mathematischem Kalkül den plastischen Formen nach, bis hin zur Darstellung des Naturraums. Die seit 1980 auch durch zahlreiche einschlägige Lehraufträge ausgewiesene Zeichnerin lotet innerhalb dieser intimsten aller künstlerischen Gattungen die objektivierbare Umgebung ihres Lebensraums aus, das heißt: Sie erkundet dessen Topographie und erfindet ihn auf dem Papier neu. Die Zeichnung nenne ich deshalb »intim«, weil man mit dem Stift viel weniger mogeln kann als mit dem Malerpinsel. Ich darf das in dieser Runde sagen, weil wir ja auch mit Rolf Zimmermann einen technisch versierten Spezialisten hier haben, der sich seiner ausgesprochenen »peinture« immer erst mit einer vorausgehenden Zeichnung auf die lineare Stimmigkeit hin vergewissert.

Kalkül und Intimität stehen in Schlageters Arbeiten nicht gegeneinander, sondern in einem mal nüchternen, mal sinnenhaft erfahrbaren Spannungsverhältnis zueinander. Nehmen wir die großformatige Zeichnung nebeneinander stehender Bücher, gewissenhaft in Draufsicht erfasst. Davon mal abgesehen, dass das Medium Buch in einer alten Symboltradition steht als Wissensspeicher und Denkfabrik – und nicht zuletzt auch als barockes Vanitas-Bild – , sehen wir zunächst ein sachliches Bild, ich will sogar behaupten: ein Bild, das in der Folge der Neuen Sachlichkeit zu sehen ist, die gerade hier, in Karlsruhe, in den 1920er-Jahren ein glanzvolles Zentrum hatte. (Es würde zu weit führen und soll nur als kleine Anmerkung im Raum stehen, dass auch die politischen Serien von Rolf Zimmermann in dieser Zeit wurzeln, in den neusachlichen Spielarten Verismus und Phantastischer Realismus.)

Assoziativ denken wir an eine Bibliothek, was ich schon richtig spannend finde: Da sind einmal geometrische Formen, die – obwohl nach hinten hin begrenzungslos – allein wegen des sinnlich-optisch begreifbaren runden Rückens als Bücher identifiziert werden; zum andern spiegeln diese sich nach unten, wie auch die Linearität nach oben mit einer groben Rasterung korrespondiert, die sich markant an der Doppellinie orientiert, welche das Bild kompositorisch drittelt und eine durch kühne Perspektive bedingte, räumliche Ecke bestimmt. Automatisch nehmen wir eine Architektur wahr, die sogar ihre Bestimmung gleich mit nahelegt...

Wichtig sind Schlageter ... die fließenden Grenzen zwischen organisch-naturnahen und konstruktiv-dinglichen Motiven. Wichtig sind ihr auch die Übergänge vom gezeichneten zum tatsächlichen Raum, den wir phantastischerweise erste bei mehrmaligem Hinsehen erkennen. Dieses spielerische Moment hat schon fast etwas von den spätbarocken Augentäuschungen innerhalb architektonischer Innendekorationen. Doch hat das mehr noch damit zu tun, dass Sibylle Schlageter in ihren jüngeren Arbeiten wieder auf plastische Formen zurückgreift, die ihr vom Studium her vertraut sind. Dem Schritt in die dritte Dimensionen folgt auch indirekt eine Öffnung zur sogenannten vierten Dimension, der Zeit, die sich in der wachsenden Bedeutung bewegter Motive wiederspiegelt.

Lassen Sie mich am Ende meiner Ausführungen noch einmal ein paar Gedanken herausgreifen, die die Arbeiten von Sibylle Schlageter und Rolf Zimmermann – so unterschiedlich sie sind – wieder in den Einklang bringen, den ich anfangs unterstellte. Beide Künstler schildern mit Akribie Zustände, die sie teils fotografischen Vorlagen, teils der Phantasie entnehmen, und zugleich vermitteln sie Prozesse: Zimmermann zielt in der politischen Aussage auf Anteilnahme und auf den dadurch in Gang gesetzten Denkprozess; in seinen Stillleben fordert er nicht minder, wenn auch versteckt in einer Dingsymbolik, den existentiell reflektierenden Betrachter. Hier trifft er auf verwandte Aspekte in den Zeichnungen Sibylle Schlageters, die tatsächlich auch auf topographisch reale, sogar fotografierte Motive zurückgreift und derart abstrahiert, dass sie über die konstruktive Schärfe der Darstellung eher intellektuelle als emotionale Prozesse anstößt. Der Zauber sowohl von Schlageters als auch von Zimmermanns Werk liegt jedoch in der Verknüpfung beider, die Sinne und den Verstand fordernder Haltungen...
 

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