KunstGeschichten

KunstGeschichte: Kohlenbrenners Entführung

Kunst kommt von Können, aber auch Bestechung kann Ungeahntes leisten. Schlitzohren solcher Art lassen sich dann auch nicht von einer Entführung einschüchtern. Lesen Sie dazu die amüsante neue KunstGeschichte von Erich Wurth.

Doktor Josef Kohlenbrenner, Jahrgang 1931, dünn wie ein magersüchtiger Teenager und manchmal von einer geradezu infernalischen Bosheit, war ein begnadeter Künstler. Er hatte ein arbeitsreiches, aber bequemes Leben voller Erfolge hinter sich. Nach dem Krieg schaffte er es, ohne Reifeprüfung zum Studium an der Universität Wien zugelassen zu werden, indem er behauptete, die diesbezüglichen Dokumente wären in den letzten Kriegstagen beim Einmarsch der sowjetischen Truppen verloren gegangen und diese Behauptung mit einigen Einweckgläsern, gefüllt mit bestem Schweineschmalz, glaubhaft untermauerte.

Das Schmalz, das er von einer Tante aus dem Weinviertel bezog, der es gelungen war, ihre Sauen vor den Besatzungstruppen zu verbergen, stellte zu jener Zeit einen beträchtlichen Schwarzmarktwert dar und ermöglichte es Josef, sein Studium der Philosophie in Rekordzeit zu absolvieren. Schon während seiner Studentenzeit begann er recht erfolgreich zu malen.

Was die Philosophie betraf, war er eine komplette Niete, denn er dachte gar nicht daran, sich in die wenigen benutzbaren, meist überfüllten Hörsäle der Universität zu quetschen, sondern trat zu den Prüfungen ganz einfach an, ohne etwas gelernt zu haben, dafür aber mit einer gehörigen Portion Selbstbewusstsein und jener Anzahl von Schmalzgläsern, die der Anzahl der Prüfer entsprach. Was aber die Malerei anbelangte, da konnte er tatsächlich was!

Er war ein Naturtalent, was das Zeichnen betraf, und fertigte auch sehr treffende Karikaturen und Porträts an. Allerdings war mit dieser Art von Kunst in den späten Vierziger- und frühen Fünfzigerjahren nicht allzu viel zu verdienen und Josef probierte einige Zeit herum, bis er seinen persönlichen Stil gefunden hatte: Abstrakt, aber mit gegenständlichen Elementen, wobei ein sehr naturalistischer, nackter, menschlicher Körper nie fehlen durfte und die Arbeit einen Namen aus der griechischen Mythologie bekam – wie etwa „Ganymeds Amphore“ oder „Penelopes Versuchung“.

Das in Zeiten der Lebensmittelmarken nahezu unerhältliche Schweineschmalz von Josefs Tante veranlasste einige namhafte Kunstexperten, Kohlenbrenners Werke mit sehr wohlwollenden Kritiken zu bedenken, was in diesem Fall aber nicht als Verfälschung von Tatsachen bezeichnet werden konnte – denn die Bilder waren tatsächlich gut. Die positiven Rezensionen beschleunigten lediglich die Aufnahme Kohlenbrenners in den Kreis der anerkannten Künstler und bald entwickelte er ein untrügliches Gespür für den höchsten Preis, der für ein bestimmtes Kunstwerk zu erzielen war. Dabei war Doktor Josef Kohlenbrenner öffentlichkeitsscheu und lebte sehr zurückgezogen.

Zu Anfang der Fünfzigerjahre heiratete er eine blutjunge Schauspielerin, der am Theater eine große Karriere vorausgesagt wurde und bezog mit ihr eine feudale Villa in der Cottage des achtzehnten Bezirks, nahe dem Türkenschanzpark, in dessen weitläufiger Anlage man Josef nachmittags oft spazieren gehen sehen konnte. Er malte hauptsächlich nachts.

Seine Popularität beschränkte sich auf Fachkreise und die Boulevardblätter ließen ihn als unergiebig in Ruhe, obwohl seiner Frau Natalie einige Skandale nachgesagt wurden. Unter anderem hieß es, sie wäre mit Humphrey Bogart und Billy Wilder gesehen worden. Josef schien es egal zu sein (was es tatsächlich aber nicht war) und in den Siebzigerjahren erlosch auch das Interesse der Öffentlichkeit an Natalie, als sie sich schließlich von der Bühne zurückzog.

Josef Kohlenbrenner malte weiter und verdiente weiter. Jetzt, mit achtzig, verfügte er über ein Vermögen, das zügig auszugeben ziemliche Mühe verursacht hätte. Auch Natalie, die sich redlich anstrengte, schaffte es nicht und erreichte nur, dass ihre beträchtlichen Ausgaben wenigstens den Erträgen des gut angelegten Kapitals und den Einkünften aus Josefs Malerei die Waage hielten.
Josef verließ die Villa kaum mehr. Arthrose in den Kniegelenken machte ihm zu schaffen und der verdammten Diabetes wegen musste er die früher häufigen Besuche in Konditoreien und Kaffeehäusern auf ein Minimum reduzieren. Natürlich hatte ihn dieser Verzicht nicht nur sehr schlank, sondern auch sehr missmutig gemacht. Seine Ehe – eine in den ersten Jahren durchaus leidenschaftliche, sehr intensive Beziehung – bestand praktisch nur mehr auf dem Papier. Zum Glück erlaubte es die Größe der Villa, dass Natalie und Josef einander leicht aus dem Weg gehen konnten.

Entführt wurde Doktor Kohlenbrenner an einem milden Tag im Spätsommer anlässlich eines Besuches beim Arzt.

Arthrose in Kombination mit beträchtlichem Vermögen führt naturgemäß zu einer kostspieligen Behandlung durch einen renommierten Spezialisten, meist in Form sündhaft teurer Injektionen, die über mehrere Wochen regelmäßig verabreicht werden müssen. Josef hatte sich soeben eine Spritze im Wert von mehreren hundert Euro geholt und die Sprechstundenhilfe gebeten, ihm ein Taxi zu rufen, das ihn vom Stadtzentrum nach Währing zurück bringen sollte. Einen eigenen Chauffeur beschäftigte Josef nicht – Taxifahrten kamen wesentlich billiger und die Wünsche seiner Frau Natalie, die aus Prestigegründen gern einen livrierten Fahrer zur Verfügung gehabt hätte, waren ihm völlig egal.

Das Taxi stand bereits da, als Josef am frühen Nachmittag das stattliche Ringstraßengebäude in der Reichsratstraße verließ, in dem die Privatpraxis des Herrn Primar untergebracht war. Josef freute sich, dass eine recht hübsche junge Frau von etwa 30 Jahren am Steuer saß. Trotz seines Alters fühlte er sich zum anderen Geschlecht immer noch sehr hingezogen, besonders wenn es sich um eine attraktive Vertreterin dieses Geschlechts handelte. Aufgrund seiner zurückgezogenen Lebensweise genoss er die seltenen Kontakte zu Frauen umso mehr, auch wenn es nur mehr rein geistige Kontakte waren.

„Bringen S’ mich bitte in die Sternwartestraßen, schöne Frau“, sagte er sehr freundlich. „Am besten fahr’n S’ über die Währingerstraßen.“
„I kenn den Weg, Herr Doktor“, antwortete die Fahrerin. „Aber i bring Sie net hin. Sie fahr’n jetzt einmal zu uns!“ Gleichzeitig gab es in der Tür ein klickendes Geräusch und Josef saß in der Falle. Die Tür war verriegelt, das Taxi fuhr los.
„Entschuldigen, bitte!“, sagte Josef und versuchte, die verriegelte Tür zu öffnen. „Was soll i bei Ihnen machen?“
„Nix“, antwortete die Fahrerin und bog noch bei gelb in die Landesgerichtsstraße ein. „Warten, bis das Geld da is.“
„Welches Geld?“, rief Josef und rüttelte an der Tür.
„Das Lösegeld, das Ihr’ Frau für Sie zahlen wird“, erklärte die Fahrerin und Josef sah, dass sie ihn freundlich im Innenrückspiegel anlächelte.

Sprachlos sank Josef in die Lehne des Rücksitzes und blieb einige Sekunden still. Dann sagte er nüchtern und es klang tatsächlich wie eine emotionslose Feststellung: „Sie hab’n mi entführt. Gekidnapped wie seinerzeit das Lindbergh-Baby[1]. Werden S’ mi maxeln[2]?“
„Wemma ka Marie kriegen[3], bestimmt.“
„Also, schöne Verbrecherin, schaun S’ in’ Rückspiegel, da sehn S’ a Leich, die no a bissl zappelt. Weil mei Alte lasst garantiert nix aus für mi“, sagte Josef in Mitleid erweckendem Tonfall.
„Aber geh’n S’! Ihre Frau wird scho zahlen“, tröstete die Fahrerin.
„Ja. Den Pomfineberern[4] an Schmattes[5] wird s’ zahlen! Die tät hupfen vor Freud, wenn i a Bankel reiß!“
„Hat Sie denn Ihr’ Frau gar net gern?“, fragte die Entführerin ein wenig mitleidig.
„Das war einmal! Lang, lang is’ her! Da war i no ihr Schatzimausiburli. Heut bin i a debiler Tagerer[6] für mei Alte.“

Josef schmückte sein Klagelied noch weiter aus. Wie glücklich damals, in den Fünfzigerjahren, seine Frau mit ihm gewesen sei! Na ja, nicht ganz so glücklich, sonst hätte sie es wohl nicht mit dem Billy Wilder und dem Humphrey Bogart getrieben. Aber er könne die beiden Herren verstehen, seine Natalie wäre immerhin ein sehr schönes Tier gewesen, fast so schön wie seine Entführerin. Dass sich die Natalie den Billy Wilder angelacht hätte, könne er ja fast noch nachvollziehen, weil der wäre immerhin ein galizischer Jude gewesen und habe einmal auf dem Alsergrund[7] gewohnt, aber das verwöhnte New Yorker Arztbubi Bogart, das verzeihe er ihr nicht. Also wäre er, Josef Kohlenbrenner, ein ganz armer Hund mit Eheproblemen, krank und hinfällig, achtzig Jahre alt und deshalb möge doch seine Entführerin ein Einsehen haben und ihn nicht in irgendein Versteck, sondern nach Haus in die Sternwartestraße fahren.

Mittlerweile befand sich das Taxi bereits in der Nussdorferstrasse und fuhr in Richtung Klosterneuburg. In der Heiligenstädterstraße hielt die Entführerin das Taxi kurz in zweiter Spur an, entriegelte die Türen und ein junger Mann in Jeans und Turnschuhen drängte sich neben Josef auf den Rücksitz. In der Hand hielt er eine kleine, hässliche Pistole.
„Hat er Manderln g’macht, Petra?“, fragte er die Fahrerin. Die schüttelte den Kopf. „Jammern tut er, sonst is er ganz brav“, gab sie Auskunft.
Josef legte wieder los. Er sei zuckerkrank, habe kaputte Knie und Schwierigkeiten mit seiner Frau, die sich mit zweiundsiebzig noch als Jugendliche fühle. Na ja, sie habe sich gut gehalten und sähe höchstens aus wie einundsiebzig, aber nichtsdestoweniger wäre er, Josef, schon allein deshalb ein armes Hundsviech und müsse dringend nach Hause. Einen kranken, armen Zweiundachtzigjährigen entführe man nicht!
„Halt die Goschen“, sagte der neu zugestiegene junge Mann.

Na, sie würden schon sehen, was sie sich eingehandelt hatten! Den morgigen Tag werde er nicht überleben, denn er brauche sein Insulin und sei immerhin schon vierundachtzig. Jemand in seinem Zustand wäre als Geisel völlig ungeeignet.
„Sie kriegen schon ihr Insulin. I bin g’lernte Krankenschwester“, sagte Petra und fuhr den Wagen in flottem Tempo weiter stadtauswärts.
„Kidnapperin san sie nur im Nebenberuf?“, fragte Josef interessiert.
„Halt die Pappen, sonst fangst a Tetschen[8], dass dir vierzehn Tag die Birn wackelt!“, verlangte Petras Komplize.
„Also, i möcht’ scho bitten! So geht man net um mit an armen, leidenden Sechsundachtzigjährigen!“, beschwerte sich Josef. Da aber sein Sitznachbar keinen sehr guten Eindruck auf ihn machte, zog er es doch vor, einige Minuten still zu sein. Erst als das Taxi Nussdorf passiert hatte und über die vierspurige Bundesstraße am Fuß des Leopoldsberges entlang fuhr, meldete er sich wieder:

„So a Achtundachtzigjähriger hat seine Bedürfnisse. Hoffentlich hab’n S’ des bedacht, sonst kriegen s’ gar nix! Für a tote Leich zahlt keiner was!“
Petra am Steuer kicherte. „Pass auf, in einer halben Stund is er über hundert. Der altert im Minutentakt.“
„Na ja, i bin fast neunzig! Auf das müssen S’ Rücksicht nehmen, schöne Frau Kidnapperin!“, beschwerte sich Josef.
Der junge Mann neben ihm zog plötzlich ein schwarzes Tuch aus der Tasche seiner Jacke und verband Josef die Augen.
„Hallo, hallo, was machen S’ denn da?“, protestierte dieser, wehrte sich gegen diese Behandlung und drückte die Hände seines Mitfahrers zur Seite.
„Opa, wenn jetzt net gleich a Ruh is, kriegst ane in die Beisserln, dass d’ des Klavier[9] wegschmeißen kannst! Kapiert? Und bei uns daheim gibt’s kan Pappenschlosser[10]!“, drohte der Kidnapper. Josef war ruhig und ließ sich das Tuch um den Kopf legen. „Mir wird aber schlecht, wenn i beim Autofahr’n nix seh!“, raunzte er.
„Mir wurscht“, sagte der andere. „Aber wennst mi anspeibst, gibt’s Fotzen!“
Der Rest der Fahrt verlief ruhig. Josef stöhnte zwar mehrmals, sagte aber nichts mehr.

Etwa zwanzig Minuten später hielt das Taxi und der Mann neben Josef nahm ihm die Augenbinde ab. Das Auto stand in einer schmalen Gasse inmitten von Kleingärten. Josef wurde von seinem Begleiter etwas unsanft aus dem Wagen gezerrt und zu einer Tür im Maschendrahtzaun eines Grundstücks geführt, wobei er sich bemühte, einen möglichst hilflosen Eindruck zu machen. Vor der Gartentür, die von Petra bereits aufgeschlossen worden war, blieb Josef stehen und betrachtete das Gebäude, das im Zentrum des Schrebergartens auf etwa zwei Meter hohen Pfählen stand – ein Zeichen dafür, dass die Donau nahe sein musste.

„Na, komm scho, Opa!“, drängte der Entführer.
„Lassen S’ mich wenigstens die Hütten genau anschauen“, verlangte Josef. „Is ja immerhin mein Sterbehaus. Weil das überleb i eh net, was Sie da mit mir aufführen. Schließlich bin i schon neunzig!“
„Jawohl!“, sagte der Entführer. „Wenn dei’ Alte net brennt[11], hast dein’ letzten Dreck g’schissen, Opa!“
„Sei ruhig, Franzi!“, mahnte Petra. Und zu Josef sagte sie: „Jetzt kommen S’! Sie kriegen a eigenes Zimmer mit Vollpension bei uns.“
„Gibt’s Gelsen da?“, erkundigte sich Josef.
„So viele, dass s’ di aussaufen werden bis zum letzten Tropfen, wenns’d des Fenster net zu lasst!“, erklärte Franz und grinste boshaft.
„Ka angenehmer Tod“, stellte Josef resignierend fest und ließ sich widerwillig in Richtung auf das Holzgebäude zu schieben.

Auf der hölzernen Treppe zum Gebäude stützte sich Josef schwer auf Petra und bemerkte: „Da werd’n S’ es aber net leicht hab’n mit meiner Leich, da runter.“
„Des pack i schon“, sagte Franz. „Du bist eh nur Haut und Baner[12].“
Dann wurde Josef seine Bleibe angewiesen. Durch einen kleinen Vorraum, in dem eine Tiefkühltruhe stand, ging es in Josefs neues Domizil. Es war ein sehr kleines, altmodisch eingerichtetes Zimmer mit Bett, Esstisch, zwei Stühlen und einem alten Bauernschrank, der (wie Josef später herausfand) mit den unterschiedlichsten Dingen voll geräumt war – von Kartons, angefüllt mit alten, vergilbten Schwarzweißfotos bis zu Nippfiguren.

Josef raunzte. Kein Fernseher, kein Radio, keine Bücherwand! Wie sollte er sich da die Zeit vertreiben? Zahlen würde seine Frau nämlich nicht so schnell – wenn überhaupt! Franz schnauzte ihn unfreundlich an: Das wäre jetzt alles unwichtig. Er müsse das geliehene Taxi zurückbringen und außerdem vorher noch Josefs Frau verständigen und ihr Anweisungen geben.
„Anweisungen!“, wunderte sich Josef. „Wenn S’ der a Anweisung geben, fahrt s’ Ihnen mit’n Arsch ins G’sicht!“
Franz fischte ein Handy aus der Hosentasche, setzte sich auf das für Josef vorbereitete Bett und rief trotzdem an.

Frau Natalie Kohlenbrenner war gar nicht leicht zu erreichen. Sie sei beschäftigt und werde zurückrufen, hieß es zunächst. Als Franz dem Hausmädchen klar gemacht hatte, dass die gnädige Frau nicht zurückrufen könne und es um ihren Mann ginge, bequemte sich Frau Natalie schließlich missvergnügt ans Telefon.
Franz erklärte, er habe den Doktor in seinem sicheren Gewahrsam und wenn Frau Kohlenbrenner etwas daran gelegen sei, ihren Mann noch einmal lebend zu sehen, möge sie fünfhunderttausend Euro in gebrauchten Scheinen vorbereiten. Sie werde noch Anweisungen erhalten, wie und wo das Geld zu übergeben sei.

Frau Natalies Antwort ließ nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig: Wenn der alte, dürre Bettbrunzer[13] bereits so vertrottelt wäre, sich von Kidnappern fangen zu lassen, solle er selbst sehen, wie er da wieder rauskomme. Sie, Natalie, wäre keinesfalls bereit, für diese unnötige Schießbudenfigur, von der sie ohnehin schon lang nichts mehr habe, auch nur einen Cent auszugeben.
Franz wandte ein, dass der Doktor Kohlenbrenner doch immerhin ein bedeutender Maler wäre.
Das möge schon sein, gab Frau Kohlenbrenner zu, aber es mache nichts. Werke toter Maler würden immer bessere Preise erzielen als solche lebender. Da Josef noch immer aktiv sei – „aber nur in der Malerei, im Bett schon seit fünfzehn Jahren nicht mehr!“ - habe sie noch eine ganze Menge Bilder auf Lager und sie wünsche dem Herrn Kidnapper viel Vergnügen beim Abmurksen. Man müsse dem Josef nur einmal „kräftig eine auflegen“, dann fiele das Gerippe von selber auseinander. Damit legte Frau Kohlenbrenner auf.

Franz sah nicht gerade intelligent drein, aber möglicherweise erweckte sein Gesichtsausdruck seiner Nachdenklichkeit wegen auch nur einen falschen Eindruck. Er unterrichtete seine Komplizin Petra in wenigen Worten über das Telefonat und ging dann, um das Taxi zurückzubringen.

Josef hatte natürlich mit angehört, was Franz berichtete. Jetzt saß er stumm an dem kleinen Tisch in seinem Zimmer und sah zu Boden.
Petra empfand beinahe so etwas wie Mitleid mit dem alten Knacker. „Das hat sie sicher net so g’meint. Das wird der Schock g’wesen sein“, tröstete sie unbeholfen und nahm auf dem Bett Platz. Josef schüttelte den Kopf. „Die is schon so, mei Alte“, sagte er leise. „Kann unheimlich charmant sein und einem dabei das Hackel ins Kreuz hauen. Na, also das war’s dann. Und wie möchten s’ mi hamdrahn[14]? Erschlagen? Erwürgen?“
„Blödsinn! Sie wird sich’s überlegen! Wir rufen halt morgen noch einmal an!“

Also bis morgen würde er noch am Leben bleiben, fragte Josef hoffnungsvoll. Dann hätte er aber gern heute noch eine Henkersmahlzeit. Etwas Süßes, mit viel Zucker, das war ihm ja bisher vom Arzt verboten, jetzt wäre es aber egal. Ob Petra wohl so mitfühlend wäre, ihm so was zu besorgen?
Petra nickte. Sobald Franzl zurück wäre, würde sie losfahren und im nächsten Supermarkt etwas Süßes besorgen.
Josef lächelte sie dankbar an. „Einen Topfenstrudel! Aber an ganzen, net nur a Portion! Und dann hab ich g’sehn, dass Sie a Tiefkühltruhe da draußen haben. Da hätt i gern a Flaschen Wodka! Hab’n S’ das scho probiert? Tiefgekühlten Wodka? Rinnt runter wie Öl und das hab i schon so lang nimmer g’habt!“
Petra nickte wieder. Schön. Wenn er sich ansaufen wolle, dann hätte sie nichts dagegen, dann wäre er wenigstens ruhig heut Nacht.

„In der Nacht mal’ i immer. Hab’n S’ Farben da und Leinwand?“
Nein. Natürlich nicht!
Das brauche er aber, erklärte Josef. Er wolle noch ein allerletztes Bild malen, bevor ihn der Herr Franz abmurkse. In Klosterneuburg müsse es doch eine Farbenhandlung geben! Da brauche er ein paar Tuben Ölfarbe, außerdem Leinwand, Zeichenkarton, Wasserfarben und ein Fläschchen Rizinusöl zum Verdünnen der Ölfarbe. Falls das Farbengeschäft kein Rizinusöl habe, kriege man es auch in jeder Apotheke.

Wie er denn auf die Idee komme, in Klosterneuburg zu sein, fragte Petra.
Na, wo sonst sollten sie sein? Er vermute, in Kritzendorf, nahe an der Bahnlinie, erklärte Josef mit Bestimmtheit. Und da er sowieso umgebracht würde, wäre es ihm sogar egal, dass das wegen der Donau eine feuchte Gegend sei, gar nicht gut für seine kaputten Kniegelenke.
Er werde ja möglicherweise gar nicht umgebracht, warf Petra ein. Seine Frau werde schon noch zahlen! Drum sollte er besser seine Gelenke schonen und nicht versuchen, über den Zaun zu entwischen! Der sei nämlich relativ hoch und die Gartentür immer abgesperrt!

Während Petra ihren Gefangenen ermahnte, tauchte Franz wieder auf. Er konnte also das Taxi nicht weit weggebracht haben. Franz bekräftigte Petras Ermahnungen noch durch die Androhung von Konsequenzen, die es haben würde, sollte man Josef bei dem Versuch „in’ Butter zu gehen“, [15] erwischen. Unter anderem drohte er, Josef die Ohren abzureißen und seinen Knochen einige „Dezimalbrüche“ zuzufügen, sollte er ihn bei einem Fluchtversuch ertappen.


Josef schwor, brav zu sein und erwirkte die Erlaubnis, sich frei im Garten bewegen zu dürfen, da er ohnehin mit seinen kaputten Knien nicht über den Zaun entwischen könne. Petra stellte ihm sogar einen alten, hölzernen Liegestuhl zur Verfügung, den sie aus einer morschen Bretterbude am Zaun hervorholte. Dann verlangte sie von Franz die Autoschlüssel und machte sich mit dem alten, ziemlich rostigen Kombi, mit dem Franz zurückgekommen war, auf den Weg, die von Josef geforderten Dinge zu besorgen. Die beiden Herren übersiedelten ins Freie.

Josef machte es sich im Liegestuhl bequem und ließ sich die Sonne, die zeitweise von Wolken verdeckt wurde, ins Gesicht scheinen. Franz bewachte ihn, auf einem Campingstuhl in seiner Nähe sitzend und ein Motorsportmagazin durchblätternd. Dann verwickelte Josef ihn in ein Gespräch.Wie er denn zu seinem Beruf gekommen wäre, ob Entführungen seinen Haupterwerbszweig darstellten, oder ob das diesmal eine besondere Sache sei, wollte Josef wissen.

Franz gab zwar nur einsilbige Antworten, aber langsam konnte Josef sich ein Bild seines Entführers machen:
Franz war stellungsloser KFZ-Mechaniker, wegen Einbruchs vorbestraft und es wollte ihm nicht gelingen, wieder einen Job zu kriegen. Seine Freundin Petra hatte zwar noch ihre Stelle als Diplomkrankenpflegerin, es widerstrebte Franz aber, sich von ihr aushalten zu lassen. Deshalb war er auf die Idee mit der Entführung gekommen und hatte Petra so lange zugesetzt, bis sie sich einverstanden erklärte, ihm dabei zu helfen. Das Opfer – also Josef – hatte Petra ausgesucht, die gerne malte und sich in der Malerei auch ganz gut auskannte. Zuletzt hatte sie sich mit Kohlenbrenners Stil befasst und ein paar Bilder gemalt, die stark von ihm beeinflusst zu sein schienen.

Ob er was davon sehen könne, bat Josef.
Sicher. Petra wäre es zwar bestimmt nicht recht, aber er sei davon überzeugt, dass seine Petra was könne, sagte Franz und ging, ein paar Arbeiten aus dem Haus zu holen. Es waren Arbeiten mit Acrylfarben. Josef sah sie sich sehr kritisch an und nickte dann anerkennend.
„Ist doch a Schand’, dass das Zeug net anzubringen is!“, schimpfte Franz.
„Sie sollten das Eindippeln[16] und Leut’ entführen lassen und sich lieber um Ihrer Freundin ihre Bilder kümmern!“, mahnte Josef. „Da täten S’ wenigsten was Vernünftiges. Wirkliche Meisterwerke san des zwar no net, aber das wird schon noch.“
„Kauft ja keiner!“, empörte sich Franz.
„Aber ja! Wenn S’ mich geh’n lassen, helf i Ihnen beim Verkaufen. I kenn a Menge Leut’, die so was mit Handibussi nehmen!“, behauptete Josef.
„Weißt, Opa, i bin schon bisserl deppert, aber so deppert, dass i di’ geh’n lass, bin i net!“, sagte Franz spöttisch und nahm Josef die Bilder wieder weg.
„Sie brauchen mi net heimbringen, Herr Franz, rufen S’ mir nur a Taxi!“, bettelte Josef. „A zweit’s Mal wird da ja ka Kidnapperin drin sitzen.“
Aber Franz blieb unerbittlich.

Dann kam Petra mit den Einkäufen und parkte den Kombi vor der Gartentür. „Franzi, hilf mir mit dem Glumpert!“, rief sie schon beim Aussteigen.
Franz sparte nicht mit bissigen Kommentaren, als er den Kombi ausräumte. Sogar Staffelei und Farbpalette war vorhanden. „Spinnst? Was hast denn da alles für Zeug ein’kauft? Der Opa soll schau’n, dass sei Alte brennt[17] und net malen! Der is’ doch net auf Sommerfrische bei uns!“
Josef inspizierte sofort die für ihn angeschafften Malutensilien. „Kobaltblau is net dabei!“, beschwerte er sich.
„Das wirst selber bald sein, glaub i!“, sagte Franz und hielt die Wodkaflasche hoch. „Alte Saufglocken!“
„Ja, sind S’ so lieb und tun S’ die in die Tiefkühltruhen, Frau Petra? Am Abend genehmigen wir uns a Stamperl. Aber a paar Stund’ bei minus achtzehn Grad braucht der Schnaps schon!“, erklärte Josef.

Der Rest des Nachmittags verlief beschaulich. Josef malte im Garten und Petra beaufsichtigte ihn. Selbstverständlich kamen die beiden ins Gespräch, Josef drückte seine Anerkennung hinsichtlich Petras Gemälde aus und schlug auch ihr vor, sich um den Verkauf der Bilder zu kümmern, falls man ihn gehen ließe.
Petra schien gar nicht so abgeneigt zu sein, aber Franz kam dazu und erstickte alle Hoffnungen Josefs im Keim. „Nix da! Ohne Geld ka Musi!“

„Sie sollten sich das überlegen, Herr Franz! Nehmen Sie sich a paar Minuten Zeit, in aller Ruhe, setzen Sie sich vielleicht g’mütlich aufs Klo und denken S’ nach drüber! Is doch besser als a Mord, weil mei’ Alte zahlt sicher nix für mi!“
Das werde man schon noch sehen, meinte Franz. Ihm werde sicher noch was einfallen, die zögernde Frau Kohlenbrenner ein bisserl unter Druck zu setzen.

Abends sah es nach Regen aus. Trotzdem richtete Petra ein paar belegte Brote und für Josef den ersehnten Topfenstrudel im Freien an. Josef stellte das Malen ein, setzte sich zum Campingtisch mit dem Abendessen und urgierte den tiefgekühlten Wodka.
Petra wollte keinen probieren, aber für Josef und Franz standen Gläschen bereit, die gut einen Sechzehntelliter Schnaps aufnehmen konnten.
Josef goss den Wodka ein und tatsächlich sah es beinahe so aus, als ob eine ölige Flüssigkeit aus der Flasche rinnen würde.

„Also dann … Prost! In einem Zug runter, das ist der Genuss dabei“, forderte Josef auf, stellte aber sein Gläschen gleich wieder ab und wies auf den alten Kombi vor der Gartentür. „Sagen Sie, raucht’s da net aus’m Motorraum?“
Franz und Petra drehten sich im Sitzen um. „Petra! Was hast denn aufg’führt mit der Schüssel?“, fragte Franz vorwurfsvoll, stand auf und ging nachsehen. Petra folgte ihm. „Gar nix! War alles normal beim Herfahren.“
Franz schloss die Gartentür auf und trat auf die Straße. Dann sperrte er das Auto auf und öffnete den Motorraum, in den er angestrengt hineinsah und dabei mehrmals hörbar die Luft durch die Nase einzog.

Kaum waren die beiden weg, griff Josef rasch nach Franz’ Glas, trank den Wodka in einem Zug aus, griff in die Hosentasche und beförderte ein Fläschchen zu Tage, aus dem er das Glas wieder füllte und für Franz griffbereit hinstellte.

„Nix raucht! Alles paletti“, sagte Franz, knallte die Motorhaube wieder zu und kehrte gemeinsam mit Petra an den Campingtisch zurück. Josefs Fläschchen verschwand wieder in seiner Hosentasche, Franz und Petra setzten sich wieder.
„Na, dann hab i mi g’irrt. Hat so ausg’schaut.“, sagte Josef und griff nach seinem Stamperl. „Also: Prost und Ex!“
Die beiden Männer gossen das Getränk durch ihre Kehlen. „Ahh, das tut gut!“, lobte Josef.
„Himmel, Arsch und Zwirn! Was war denn das für a Schweinerei?“, schimpfte Franz und verzog angewidert das Gesicht.
„Rizinusöl. Bewährtes Abführmittel“, gestand Josef. „I hab mir dacht, damit Sie sich a bisserl länger Zeit nehmen zum Überlegen am Klo, ob S’ mich geh’n lassen.“

Einige Sekunden lang war Franz sprachlos. Dann brüllte er auf: „I hau di durch die zug’machte Gartentür, du alter Bosnigl! I beiß dir a Wendeltreppen ins G’nack[18] und brich dir sämtliche Finger, du seniles G’rippelg’spiel[19]!“ Er war wirklich stocksauer.
Petra gab sich zwar redlich Mühe, sie konnte aber ein Kichern nicht ganz unterdrücken, was Franz natürlich auch gegen sie aufbrachte: „Und du lachst noch, du depperte Umurken[20]! Weißt, wie arg man auf das Zeug Scheißerei kriegt? Grimmig, sag i dir! Und du lachst! Aber leck mich doch!“ Wütend sprang er auf, stürmte die Treppe zum Haus hinauf und verschwand darin.

Das gemeinsame Abendessen war somit geplatzt und Josef zog sich in das ihm angewiesene Zimmerchen zurück, nicht ohne darauf zu achten, dass der Topfenstrudel mit ihm kam. Petra trug ihm auf seine Bitte hin die Malutensilien ins Haus, denn „seine letzte Nacht auf Erden“ wollte Josef noch produktiv nutzen.

Am nächsten Morgen im Garten glänzte Franz durch Abwesenheit. Er hatte beträchtliche Abschnitte der vergangenen Nacht im kleinsten Raum des Hauses verbracht, dabei aber weniger über die Frage nachgedacht, ob Josef freizulassen sei, als vielmehr über die effektivste und ihm, Franz, am meisten Genuss bringende Methode, den Exitus des dürren, alten Ungeheuers herbeizuführen. Demzufolge schlief er bis weit in den Vormittag hinein, unterbrochen von einigen „Nachbeben“, die seine Verdauungsorgane erschütterten.

Wegen Franz’ Unpässlichkeit war also Petra dran, das heutige Telefonat mit Frau Kohlenbrenner zu führen.
Diesmal zeigte sich die ehemalige Schauspielerin konzilianter. Sie hätte ein Telefonat mit Josefs Anwalt geführt und Josef, dieses Oberschwein, habe ein Testament hinterlegt, das vorsehe, Josefs gesamtes Vermögen im Falle eines gewaltsamen oder unnatürlichen Todes einer Reihe von karitativen Organisationen zukommen zu lassen. Und das nur, weil sie, Natalie, vor fünfzehn Jahren eine Affäre mit einem Jazzmusiker hatte und Josef befürchtete, seine Beseitigung könnte geplant sein. Dabei wäre die Sache ganz harmlos gewesen, rein anatomisch sozusagen! Aber das Ableben des alten Knackers käme halt gerade jetzt etwas ungelegen – erst müsse der alte Pavian das Testament ändern.

Ob das Lösegeld schon vorbereitet sei, fragte Petra.
Na, so schnell ginge das nicht! Erst müsse man ihr, Natalie, beweisen, dass das vertrocknete Gerippe unbeschädigt und in der Lage sei, das Testament zu widerrufen!
Gut, Frau Kohlenbrenner könne ja mit ihrem Mann sprechen, meinte Petra und übergab das Mobiltelefon an Josef.
„Hallo Schatzi!“, sagte dieser ins Telefon.
„Postross, blödes!“, tönte die Antwort. „Lasst sich fangen wie a zahmes Meerschweinchen! Bist wenigstens noch ganz?“
„Mir geht’s gut. I mal grad „Hermes im Tartaros“, weißt eh, der Gott der Diebe. Mischtechnik. Das schick i dir, bevor du die Marie auslasst[21]. Schau dir’s genau an, besonders den Hermes, und mach dann, was notwendig is’. Für’n Tartaros hab i da genug Motive, weil die Donau is in der Näh und die is sowas wie ein Symbol für’n Styx. Ja, und der Entführer is a Profi, vorbestrafter Eindippler. Also mach nix falsch, Schatzi!“

Petra nahm Josef das Mobiltelefon wieder ab. „Wir melden uns wieder!“, sagte sie zu Natalie und schaltete das Handy ab. „Solche Dinger kann man ja anpeilen“, erklärte sie. „Besser, wir reden net zu lang.“
„Hab’n S’ an Gips z’Haus?“, fragte Josef.
„Für was brauchen Sie an Gips?“
„Für’n Hermes in der Unterwelt. Sie hab’n ja g’hört, dass i den in Mischtechnik mach. Da brauch i den Gips. Sie können dann zuschauen, wie man Ölfarben, Wasserfarben und Gips kombiniert. Vielleicht interessiert Sie das?“
„Wir hab’n kein’ Gips.“
„Dann muss i Sie leider bitten, dass Sie einen besorgen, schöne Frau Petra. I muss meiner Alten das Bild schicken, sonst ruckt die nix raus. Die braucht den Beweis, dass i noch voll da bin. Und für das Bild brauch i den Gips!“ Josef brachte sein Argument ernsthaft und mit Nachdruck vor, so dass Petra schließlich nickte.
„Da muss i Sie mit’m Franzi allein lassen“, sagte sie.
„Na, er wird sich ja hoffentlich selber den Arsch auswischen können…“, meinte Josef und Petra stieg die Treppe zum Haus hinauf, um sich den Autoschlüssel zu holen.

Als Petra wegfuhr erschien auch Franz im Garten. Er sah bleich und leidend aus und bewegte sich nur vorsichtig, um seine Eingeweide nicht zu sehr zu erschüttern. Erschöpft ließ er sich in den Liegestuhl fallen. Josef, der wieder vor der Staffelei saß, sah ihn mitleidig an. „Sie schau’n heute aber gar net gut aus“, stellte er fest. „Fast tut’s mir Leid, dass i Ihnen den Streich g’spielt hab mit dem Rizinusöl. Na, hab’n S’ wenigstens gründlich nach’dacht am Klo? Kann i heimgehn?“
„Aber leck mi’ doch, du altes Brechmittel!“, sagte Franz mit Inbrunst.
Josef schüttelte missbilligend den Kopf und malte weiter. „Wissen Sie, was Sie jetzt brauchen täten?“, fragte er dann. „Einen schönen, großen Schnaps! Der renkt den Magen wieder ein! I bring Ihnen einen.“

Damit legte er den Pinsel beiseite und stieg mühsam die Stufen zum Haus hinauf. Wenige Sekunden später kam er wieder langsam die Treppe herunter und trug die Wodkaflasche, die nur mehr etwa drei Zentimeter hoch gefüllt war.
„Na servus, du Schluckspecht! Da hast ganz schön zwitschert auf meine Kosten!“, bemerkte Franz beim Anblick der Flasche. „Du musst ang’soffen g’wesen sein wie a Pissoirtschick[22], gestern.“
„Aber überhaupt kein Kopfweh heute!“, sagte Josef. „Is’ eine gute Qualität, der Wodka.“
Damit goss er das Schnapsglas, das er mitgebracht hatte, voll und reichte es Franz. „So, runter damit, dann geht’s Ihnen gleich besser.“
Franz goss die Flüssigkeit durch die Kehle. In der nächsten Sekunde lief sein Gesicht rot an und er brüllte: „Du Arschg’sicht! I derschlag di’ mit der flachen Hand!“

Als er sich aus dem Liegestuhl aufrappelte, überfiel ihn ein krampfhaftes Würgen und ein schmerzhafter Brechreiz. Anstatt Josef wie angekündigt zu erschlagen, versuchte er verzweifelt, die neuerliche Dosis Rizinusöl aus dem Magen wieder hoch zu bekommen, was ihm aber nicht recht gelang. Hustend, würgend, spuckend taumelte er die Treppe zum Haus hinauf und verschwand von der Bildfläche.
Josef rief ihm nach: „Hätt i net glaubt, dass’ a zweites Mal auch no’ reinfall’n!“ Dann wandte er sich wieder seiner Staffelei zu, während Franz wieder den kleinsten Raum des Hauses aufsuchte.

Als Petra mit dem Gips kam, wunderte sie sich, wo denn Franz geblieben wäre.
„Der entschlackt noch a bisserl mehr“, klärte Josef sie auf. „Sehr konsequent, Ihr Freund. So a Darmreinigung sollt’ man viel öfter machen.“
Petra sah ihn verständnislos an.
„Rizinusöl, zweite Auflage“, präzisierte Josef und Petra verfügte sich ins Haus, um ihrem Partner in seiner Not wenigstens mit etwas Trost beistehen zu können.
Josef blieb allein im Garten zurück und konnte sich ungestört mit seiner Arbeit an dem Bild beschäftigen, die zügig voranging. Am Nachmittag, als Franz, nachdem er sich beinahe die Seele aus dem Leib geschissen hatte, erschöpft im Bett lag, gesellte sich Petra zu Josef und sah ihm bei der Arbeit zu.

Josef hatte in der Tat ein eigenartiges Werk begonnen: Eine Kombination von Bild, Collage und Skulptur. Die von Petra gekaufte, bereits auf einen Holzrahmen aufgezogene Leinwand war an ihren Rändern teilweise mit Ölfarbe bemalt. Außerdem hatte Josef den Gips mit Wasserfarben eingefärbt und reliefartig auf die Leinwand aufgetragen. Links hatte Josef einen Zeichenkarton auf die Leinwand geklebt („Wasserfarben auf Leinwand geht net“) und die Ränder des Kartons mit Gips abgedeckt. Auf dem Karton war Gott Hermes in Wasserfarben zu sehen, mit geflügeltem Helm, geflügelten Stiefeln, dem Stab mit den beiden Schlangen und dem Geldsack. Hermes war nackt bis auf die Stiefel und ein Feigenblatt. Ihm gegenüber, in der rechten Hälfte des Bildes, entstand soeben Gott Hades in einer Kombination aus Ölfarbe und gefärbtem Gips. Hades war eine Art Vaterfigur mit sehr ernsten, strengen Gesichtszügen. Am Hintergrund, dem „Tartaros“, arbeitete Josef noch. Hier gab es nichts Gegenständliches, eine fantasievolle, wilde Ornamentik in grün-grauen Farbtönen herrschte vor.

„Der Hermes besteht aus Wasserfarben“, erklärte Josef. „Wasserfarben symbolisieren das Leben. Hades besteht hauptsächlich aus Gips. Gips symbolisiert das Erstarrte, Tote. Is’ ja auch wahrscheinlich mein letztes Werk, oder? Na, vielleicht zahlt die Natalie doch noch, wenn s’ das Bildl kriegt.“
„Das wollen S’ ihr schicken? Die Ölfarb’ is doch noch net trocken!“, wandte Petra ein.
„Macht nix. Sie hab’n eh an Kombi. Da mach i an Verschlag drum herum und Sie bringen’s liegend zu meiner Alten. Muss sein. Wenn die net no a Bild von mir kriegt, stellt sie sich stur, zahlt keinen Groschen und Sie schau’n mit’m Ofenrohr ins Gebirge. I kenn doch mei’ Alte! “
„I bring das doch net zu ihr hin! Glauben S’, wir san deppert?“
„Na, hinterlegen S’ das halt irgendwo. Kommen S’, wir rufen s’ an! Damit endlich a Ruh is – so oder so.“

Das wollte Petra nicht. Erst ging sie ins Haus, Franz fragen. Sehr bald war sie wieder im Garten und hatte das Mobiltelefon von Franz mit.
„Den Franzl hab’n S’ fast um’bracht mit dem Abführmittel!“, sagte sie vorwurfsvoll. „Dem is zur Zeit alles wurscht. I soll das selber erledigen, er kann net.“
Also wurde Frau Kohlenbrenner nochmals angerufen. Josef durfte selbst mit ihr sprechen.
„Schatzi, i schick dir mei’ letztes Bild. Den Hermes im Tartaros. Wenn du nix zahlst, is’ mei’ allerletztes. Zeig’s bitte dem Kasparek und dann lös’ den Investmentfond auf, für’s Lösegeld. Weil wenn die da mi’ maxeln, krieg’n die Viecher im Tierschutzhaus mein Gerstl[23] und net du, weißt eh! Die Frau Petra bringt dir den Hermes. Macht’s euch selber aus, wie und wann, aber vergiss den Kasparek net, ja? “

Josef reichte das Telefon weiter an Petra und es wurde vereinbart, nach Einbruch der Dunkelheit das Bild am Eingang des Türkenschanzparks in der Hasenauerstraße zu hinterlegen. Petra würde Natalie nochmals anrufen, sobald der Verschlag mit dem Gemälde dort im Gebüsch deponiert wäre.
Wer denn dieser Kasparek wäre, wollte Petra wissen, nachdem sie das Gespräch mit Natalie beendet hatte. Ein Freund, der bereits mehrere Arbeiten von ihm hätte und seiner Frau bei der Beschaffung des Lösegeldes behilflich sein würde, erklärte Josef. Dann machte er sich auf die Suche in der alten Bretterbude am Zaun, um Material für die Verpackung des Bildes zu finden.

Am Abend war das Gemälde vollendet, soweit man das von einem Bild, dessen einzelne Schichten Ölfarbe keine Zeit zum Trocknen gehabt hatten, sagen konnte. Jedenfalls war der Gips ausgehärtet und in dem Verschlag aus Leisten, den Josef zusammengenagelt hatte, konnte dem Kunstwerk kaum etwas passieren. Als es dunkelte, kam Franz in den Garten und Petra fuhr mit dem Gemälde los.

Franz war noch immer rekonvaleszent. Der Aufruhr in seinen Gedärmen hatte ihm gewaltig zugesetzt. Apathisch lag er im Liegestuhl und wehrte sich kaum gegen die Gelsen, die wieder einmal in ganzen Geschwadern angriffen. Josef bemühte sich vergeblich, dem Franz eine dritte Portion Rizinusöl zu verabreichen. Denn als er begann, von dem Wodka zu sprechen, sprang Franz plötzlich erstaunlich rasch auf und hatte einen Holzprügel in der Hand, worauf Josef auf sein Vorhaben klugerweise verzichtete.

Petra benötigte etwa eineinhalb Stunden für ihre Mission. Dann saß man noch einige Zeit im Schutz von Gelsenlichtern beisammen und überlegte, wie die Geldübergabe am besten zu bewerkstelligen wäre. Josef beteiligte sich kaum an der Diskussion, er ließ sich nur mehrmals bestätigen, dass er tatsächlich nach Übergabe des Lösegeldes freikommen werde.

Die nächsten beiden Tage verliefen relativ ereignislos. Josef verbrauchte einige Zeichenblätter für Entwürfe, Petra unterhielt sich mit ihm einige Zeit über den Fantastischen Realismus und Franz schmollte noch immer, obwohl es ihm langsam besser ging. Zwei Mal rief Franz Natalie an und drängte auf Bezahlung des Lösegeldes. Das zweite Mal schalt ihn Natalie einen vertrottelten Ochsen. Er könne doch nicht so naiv sein, anzunehmen, sie hätte eine halbe Million daheim unter’m Kopfpolster liegen! Etwas Zeit brauche sie schon noch.
Franz knirschte mit den Zähnen, aber er musste sich fügen. Er werde morgen nochmals anrufen, kündigte er an.
Dazu kam es aber nicht mehr.

Gegen zehn Uhr am folgenden Tag, dem fünften nach Josefs Entführung, als Josef und seine beiden Entführer untätig im Garten um den Campingtisch saßen, unterbrach plötzlich eine laute weibliche Stimme die vormittägliche Ruhe.
„Josef! Josef, du faule Sau! Glaubst, du kannst da den ganzen Tag vertrödeln? Komm endlich nach Haus und tu was! Du bist net auf Urlaub! Das is ein freiberuflicher Maler nie!“
Natalie stand vor der Gartentür.
Ihr Alter von über siebzig sah man ihr tatsächlich nicht an, sie war sehr elegant, beinahe jugendlich gekleidet und hinter ihr, die enge Gasse vor dem Grundstück blockierend, standen zwei Polizeifahrzeuge.
Franz saß auf seinem Campingstuhl und machte ein Gesicht wie ein Autobus im Straßengraben. Er dachte gar nicht an Flucht, so überrascht war er.

Neben Natalie Kohlenbrenner stand plötzlich ein etwa sechzigjähriger Mann in zivil und hielt eine Polizeimarke in die Höhe.
„Niederösterreichische Kriminalabteilung, Kasparek mein Name. Bitte machen S’ auf, Herr Rappold.“
Franz war noch immer wie erstarrt, aber Petra erhob sich seufzend, ging zur Gartentür und sperrte auf. Natalie und der Polizist kamen in den Garten, gefolgt von zwei uniformierten Beamten.
„Hab i den Herrn halbwegs gut troffen?“, fragte Josef.
„A Foto hätt’ net genauer sein können!“, sagte Kasparek. „Porträtieren kannst, Josef! Alle Achtung!“ Und zu Franz gewandt, meinte er freundlich: „Sie kommen einmal mit uns, Herr Rappold.“
Franz deutete auf Petra. „Sie net?“
„Für die gnä’ Frau hab i kein’ Haftbefehl. Aber wenn Sie so nett sind und mir ein’ Ausweis zeigen könnten?“, sagte er zu Petra.
Als Petra in ihrer Handtasche nach ihrem Führerschein kramte, fragte sie Josef: „Wie hab’n S’ denn das g’macht, die Kieberei verständigen?“
„Das war net schwer“, erklärte Josef. „Unter dem Zeichenblatt auf dem Hermes Bild war a Porträt vom Herrn Franz. I hab ja g’wusst, dass er vorbestraft is, also hat sein Foto in der Kartei sein müssen. Den Rest hat dann mein Freund Kasparek g’macht.“
„Ja, der Herr Rappold hätt’ den Josef woanders hinbringen sollen, net in’ Garten von sein’ Onkel. Der Josef hat spitz’kriegt, dass er in Kritzendorf sein muss und hat der Natalie am Telefon alle nötigen Hinweise geben. Na, und wir von der Kriminalabteilung sind auch net grad auf der Nudelsuppen daherg’schwommen.“, erklärte Kasparek. Dann forderte er Franz freundlich auf: „Na, fertig, Herr Rappold? Gemma?“

Anmerkungen:

[1] Spektakulärer Kriminalfall des Jahres 1932
[2] umbringen
[3] wenn wir kein Geld kriegen
[4] Leichenbestatter (von französisch „pompes funebres“)
[5] Trinkgeld
[6] jemand, der wegen fehlender Zähne nur Teig essen kann
[7] der 9. Gemeindebezirk
[8] Ohrfeige
[9] Zahnprothese
[10] Zahnarzt
[11] zahlt
[12] Knochen
[13] Bettnässer
[14] heimdrehen = umbringen
[15] zu flüchten
[16] Einbrechen
[17] Zahlt
[18] Genick
[19] Gerippe
[20] Gurke
[21] Marie auslassen = zahlen, Geld ausgeben
[22] Zigarettenkippe in einem Pissoir
[23] Geld

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