KunstGeschichten

KunstGeschichte: Nur ein alter Teppich

Die neue KunstGeschichte von Erich Wurth wartet mit einem Ausflug in die Geschichte der Belagerung Wiens durch die Türken im 17. Jahrhundert auf sowie den Folgen für einen Vermieter im 21. Jahrhundert.

„Kruzitürken! Fatma, lass jetzt das Boden wischen und hilf dem Dragan, das Altpapier raus tragen!“
Fatma Üzgül stellte den Eimer und den Schrubber in eine Ecke und wandte sich zur Kellertreppe. Dort mühte sich Dragan soeben mit einem großen Karton ab, der Altpapier enthielt. All die übrig gebliebenen Werbeprospekte für die Ausstellungen der letzten Jahre waren in solchen Kartons gelandet und lagerten nun im Keller des Künstlerhauses auf dem Wiener Karlsplatz.

Sowohl Fatma als auch Dragan waren Angehörige des Reinigungspersonals und dem Hausmeister Ploberger unterstellt. Ploberger, den Dragan nur „Kollega was schipfta“ nannte, führte ein strenges Regiment. Der Fluch „Kruzitürken“ war zwar bei ihm eher ein Zeichen guter Laune, denn wenn er schlecht aufgelegt war, konnte er viel saftigere Flüche produzieren, es war aber ratsam, seine Anordnungen prompt zu befolgen.
Fatma packte also an, half Dragan, den schweren Karton ins Freie zu tragen und war insgeheim froh über das relativ harmlose „Kruzitürken“ des Chefs.

Die ursprüngliche Bedeutung des Ausrufs „Kruzitürken“ ist kaum jemandem mehr bekannt. Es ist nichts anderes als die Kurzform für „Fluch den Kuruzzen und Türken“ und stammt aus dem letzten Viertel des siebzehnten Jahrhunderts, als Wien sowohl von den Kuruzzen, den ungarischen Freischärlern des Magnaten Imre Thököly von Kesmark, als auch von Osmanischen Truppen bedroht wurde. Während die Kuruzzen vom kaiserlichen Heer unter dem Herzog von Lothringen, Karl, einigermaßen unter Kontrolle gehalten werden konnten, war mit den Türken allerdings nicht zu spaßen.

Thököly, ein erbitterter Gegner der Habsburger, hatte sich mit Ludwig dem Vierzehnten von Frankreich und Sultan Mehmed dem Vierten verbündet. Mehmed, der die Chance sah, sein Reich nach Nordwesten hin zu erweitern, machte schließlich tatsächlich gegen Österreich mobil, Ludwig in Versailles rieb sich die Hände und der Erzherzog von Österreich und Kaiser des Deutschen Reiches, Leopold der Erste, bekam gehörig Fracksausen. Leopold, ein großer Musikliebhaber, komponierte gerade an einer Oper und hätte gern auf die ganze Politik gepfiffen. Jetzt sah er sich gezwungen, die Verteidigung des Reiches zu organisieren. Wahrscheinlich war er einer der ersten, der „Kruzitürken!“ sagte.

Fatma Üzgül hatte natürlich keine Ahnung von diesen Dingen, als sie und Dragan keuchend des schweren Karton vor dem Altpapiercontainer abstellten. Dragan brummte etwas Unverständliches, das nicht sehr freundlich klang und zog sich zu einer Rauchpause um die Ecke zurück. Fatma begann, das Altpapier, das teilweise lose und teilweise in kleineren Kartons in dem großen, den sie heraus getragen hatten, herumlag, in den Kunststoffcontainer zu werfen. Plötzlich stieß sie, beinahe auf dem Grund des großen Kartons auf einen zusammengerollten Teppich. Sie zog ihn unter dem Papier hervor.
Es war ein sehr alter Teppich, das sah man sofort. Dass es sich um einen Gebetsteppich handelte, war Fatma als guter Muslimin ebenfalls sofort klar. Sehr dreckig war das gute Stück. Aber immer noch brauchbar!

Fatma tat den Teppich zunächst einmal beiseite und kümmerte sich weiter um das Altpapier. Sie hätte sich nicht einmal im Traum ausmalen können, wie der Teppich hier her gelangt war, denn das war eine recht abenteuerliche Geschichte:
Der 12. September 1683 war in Wien ein sonniger, warmer Spätsommertag. Pünktlich mit Sonnenaufgang setzte wieder, wie seit zwei Monaten jeden Tag, der Beschuss der Stadt durch die Belagerungsartillerie ein. Von den ursprünglich etwa 300 osmanischen Geschützen waren immer noch etwa 220 einsatzfähig und von den ungefähr 190.000 Mann auf osmanischer Seite noch gut 160.000. Die Verteidiger von Wien waren von 20.000 auf nicht einmal mehr 9.000 zusammengeschrumpft, über der Stadt lag ein penetranter Leichengeruch, die „Rote Ruhr“ und der Dauerbeschuss hatten unzählige Opfer unter der Zivilbevölkerung gefordert. Theoretisch war die Stadt sturmreif, die Vorwerke bereits in türkischer Hand und die von Minen zertrümmerte Kurtine, die Hauptmauer wurde von den Wienern nur mehr mit Hilfe von hölzernen Barrikaden gehalten.

An diesem zwölften September – sozusagen in letzter Minute – rückte das Entsatzheer unter dem Oberbefehl des polnischen Königs Johann Sobieski über die Höhen des Wienerwaldes und die Donau entlang stromabwärts vor. Großwesir Kara Mustafa, der Befehlshaber der türkischen Truppen, beschloss, die Belagerung trotz der Bedrohung von Nordwesten her, fortzusetzen. So knapp vor dem Ziel wollte er nicht aufgeben und teilte deshalb seine Streitmacht auf. Immerhin standen ihm genügend Soldaten zur Verfügung, lediglich an leichter Feldartillerie mangelte es.

Unter den 75.000 Mann alliierter Truppen aus Sachsen, Polen, Bayern und Österreich, befand sich auch der Dragoner Heinrich Jagerle, der unter Hermann von Baden diente. Er war zur Deckung der leichten Artillerie auf der rechten Flanke eingeteilt, rückte mit den Geschützen das Tal des Alserbaches entlang vor, griff auch in den Kampf mit der türkischen Elitetruppe, den Janitscharen, ein und befand sich gegen Mittag im Zentrum des türkischen Lagers, etwa dort, wo sich heute der fünfzehnte Wiener Gemeindebezirk erstreckt.

Am Nachmittag war die Schlacht vorüber, der gut doppelt so starke Gegner in chaotischer Flucht nach Osten begriffen.
Noch am selben Nachmittag wurde das türkische Lager zur Plünderung freigegeben, allerdings nur für die polnischen Soldaten. Die Deutschen und Österreicher mussten bis zum 13. September warten.
Die Polen machten großartige Beute. Heinrich Jagerle hatte deshalb wenig Hoffnung, noch wertvolles zu finden, als er begann, die prächtigen Zelte zu durchsuchen. Der Zufall führte ihn aber in jenes Zelt, das der Page des Zeremonienmeisters der hohen Pforte, Mehmed, der später noch Karriere machen und es bis zum großherrlichen Turbanbewahrer bringen sollte, bewohnt hatte. Dort nahm er den Teppich an sich, den Fatma über dreihundert Jahre später finden sollte.

Mit Heinrich Jagerle gelangte der Teppich auf der Verfolgung der osmanischen Armee nach Ungarn, wo ihn der Dragoner in Pressburg einem Juden verkaufte. Der Jude veräußerte den Teppich weiter an einen ungarischen Adeligen und auf dessen Herrensitz blieb das gute Stück bis zum Jahr 1982.
In diesem Jahr stellte der letzte Graf des Geschlechts den Teppich dem Wiener Künstlerhaus als Leihgabe zur Verfügung, weil dieses eine Ausstellung „300 Jahre Türkenbelagerung“ veranstaltete.

1983, während die Ausstellung noch geöffnet war, verstarb der letzte Graf. Die Retournierung der Leihgabe an die Erben des Grafen erwies sich aus erbrechtlichen Gründen als schwierig (nahe Verwandte waren nicht zu eruieren) und so blieb das Stück „vorläufig“ im Künstlerhaus. Wie es dort schließlich ins Altpapier geriet, wird wohl immer ein Geheimnis bleiben.
Jedenfalls kam Fatma im Zuge ihrer Reinigungsarbeiten öfter dort vorüber, wo sie den Teppich deponiert hatte. Jedes Mal sah sie ihn an und jedes Mal gefiel er ihr besser. Offenbar war er noch in einem besseren Zustand als der billige Gebetsteppich ihres Mannes Ali. Sie nahm sich vor, den Hausmeister Ploberger zu fragen, ob sie ihn haben könne.
Das tat sie auch, als ihr Dienst zu Ende war.

Hausmeister Ploberger war blendender Laune, als Fatma mit dem Teppich zu ihm kam, denn der Hausmeister hatte von einem Touristen fünf Euro Trinkgeld erhalten und dieses sofort im Café in der U-Bahnpassage unter dem Karlsplatz versoffen. Als ihm Fatma das alte Stück zeigte, fragte er, wo sie es gefunden habe. „War in Altpapier“, gestand Fatma. Der Hausmeister griff prüfend nach dem Gewebe, bemerkte, wie schmutzig es war und kommentierte diese Feststellung entsprechend: „Euch Kümmeltürken is aa nix zu dreckig. Für was willst den Fetzen haben?“
„Für Ali, meinen Mann, als Gebetsteppich. Oder brauchen Sie den, Chef?“
„Naa, den Dreck brauch i net. Zu was denn? Mit’m Arsch in der Höh’ den Allah ansempern[1] tu i sicher net! Was soll i mit an vergammelten Tewich?“
Also rollte Fatma das alte Stück säuberlich zusammen und nahm es mit nach Hause.

Als sie die kleine Substandardwohnung in einem baufälligen Altbau im zwanzigsten Bezirk betrat, war ihr Mann Ali, der in einer Maschinenfabrik arbeitete, schon zu Hause. Fatma kam gut aus mit ihrem Ali, denn er war ein gutmütiger Kerl, der nur einmal im Jahr Schwierigkeiten machte: Im Ramadan verzichtete er tagsüber auf Zigaretten. Und da er ein gewaltiger Raucher vor dem Allah war, hatte er dann immer die schlechteste Laune, die man sich vorstellen kann. Jetzt hatte er grad wieder einen der stinkenden Glimmstängel ausgedrückt, die ihm ein Freund von seinem letzten Besuch in Ostanatolien mitgebracht hatte und er war höchst zufrieden. Über den Teppich, den seine Fatma mitbrachte, freute er sich ehrlich.
Am nächsten Tag wurde der Teppich sorgfältig der vorgeschriebenen rituellen Reinigung unterzogen, dreimal gewaschen und dann vorsichtig ausgedrückt. Nach jedem Waschvorgang wurden die Farben sichtbarer und am Ende war das Ding mehr als ansehnlich geworden!

Es war ein Kelim, ein gewebter Seidenteppich. Auf himbeerrotem Samtgrund war in matter goldgelber Farbe ein Spitzovalmuster mit stilisierten Granatäpfeln eingewebt. Der Teppich machte den Eindruck von Vornehmheit und hatte seinerzeit sicher eine schöne Stange Geld gekostet.

Fatma hängte den noch nassen Kelim im Hof des Gebäudes an die Klopfstange zum Trocknen. Dabei traf sie Vagif, einen Ingenieur aus Aserbaidschan, der auf abenteuerlichen Wegen als Flüchtling nach Wien gelangt war, nachdem er sich anlässlich des Zerfalls der Sowjetunion bei den Behörden ziemlich missliebig gemacht hatte.
Vagif, der gerade den Abfalleimer zum Müllcontainer brachte, erkannte sofort, dass es sich bei dem Kelim um ein sehr altes, sehr wertvolles Stück Textilkunst handelte und er bewunderte es ausgiebig, zumal er von der Teppichweberei einiges verstand. Fatma und Vagif unterhielten sich in einer Mischung aus Deutsch und Türkisch, das Vagif einigermaßen sprach, und Fatma freute sich darüber, ein so schönes, und wie Vagif beteuerte, wertvolles Stück nach Hause gebracht zu haben.

Gegen Abend desselben Tages kam Walter Nowotny, der Eigentümer des desolaten Zinshauses, zur Inspektion.
Nowotny gehörte zu jener Gruppe von ehrenwerten Staatsbürgern, die Immigranten gegenüber eine geradezu absurd ambivalente Einstellung haben. Einerseits war Nowotny einer, der besonders laut „Ausländer raus!“ schrie, wann immer sich Gelegenheit dazu ergab (einer seiner Lieblingsaussprüche war „Unterm Hitler hätt’s das net ’geben!“), andererseits verdiente er sich gerade mit diesem „Ausländerpack“ eine goldene Nase. Er besaß insgesamt sechs völlig desolate Zinshäuser in vier verschiedenen Bezirken Wiens und vermietete die engen, muffigen Wohnungen, die meist nicht einmal über Wasseranschluss verfügten, zu weit überhöhtem Mietzins gerade an die von ihm so verachteten „Tschuschen“ und „Kameltreiber“. Er selbst residierte in einem luxuriösen Penthouse in der Innenstadt. Nowotnys Häuser, meist zwischen 1880 und 1910 erbaut waren seit Jahrzehnten nicht mehr renoviert worden. Manche, die im Jahr 1945 von amerikanischen oder britischen Fliegerbomben beschädigt und nur notdürftig ausgebessert worden waren, befanden sich noch immer in diesem Zustand. Das Wohnen in einem von Nowotnys Gebäuden war eine Zumutung.

Nun gibt es natürlich auch in Wien Möglichkeiten, seine Rechte als Mieter geltend zu machen. Herr Nowotny hatte aber seine Methoden, das „dreckige Gesindel“ derart einzuschüchtern, dass keiner seiner Mieter auch nur daran dachte, die Behörden einzuschalten.
Zu diesen Methoden gehörte auch der häufige, unangekündigte Besuch in seinen Häusern, der immer mit einem unerfreulichen Auftritt mit einem seiner Opfer verbunden war. Immer fand Herr Nowotny etwas, das ihm nicht passte. Kindergeschrei etwa, oder zum Trocknen aufgehängte Wäsche, oder ein Kinderwagen, der im Stiegenhaus abgestellt war. Die Folge war eine lautstarke Strafpredigt für die Missetäter und meist ein nachfolgendes Schreiben von Nowotnys Rechtsanwalt, dem fast immer ein Zahlschein für „auf Grund des Fehlverhalten des Mieters nötig gewordene Reparaturarbeiten“ beilag. Repariert wurde natürlich nie etwas.

Diesmal stach ihm sofort der an der Klopfstange hängende Kelim ins Auge. Na, das ging natürlich nicht! Die Stange war zwar zum Klopfen von Teppichen da, nicht aber zum Aufbewahren von solchen Dingern und offensichtlich wurde hier gerade nicht geklopft! Sofort wurde der Kelim konfisziert.
Walter Nowotny verzichtete darauf, nachzuforschen, wer denn diese Missetat, einen Teppich im Innenhof aufzuhängen, begangen habe. Obwohl er keinerlei Sinn für Schönheit besaß, übte der Teppich auf ihn eine gewisse Wirkung aus, wie jedes echte Kunstwerk offenbar direkt das Unterbewusstsein anspricht. Er wollte den Kelim in seinem Penthouse an die Vorzimmerwand hängen. Als Trophäe seines erneuten Sieges über das unverschämte Ausländergesindel.

Als Ali Üzgül abends heimkam, war der Kelim weg. Auch Fatma, die eine halbe Stunde nach Ali zu Hause eintraf, konnte sich natürlich nicht erklären, wo der Teppich geblieben war. Sie konnte sich aber an das Gespräch mit dem aserbaidschanischen Ingenieur erinnern und sogleich fiel der Verdacht auf ihn, das Kunstwerk entwendet zu haben.

Schnaubend machte sich Ali auf den Weg ein Stockwerk höher zu Vagif. Dieser war zu Hause und es folgte eine lautstarke Auseinandersetzung auf dem Gang vor Vagifs Wohnung. „Du haben Kelim in Barracka!“, beschuldigte Ali den Ingenieur. Der konterte mit blumigen aserbaidschanischen Schimpfwörtern, die Ali nicht verstand. Deshalb forderte Ali nur: „Du konkret zeigen!“ und Vagif stimmte der verlangten Haussuchung zu. Ali durchstöberte die beiden ärmlich eingerichteten Räume Vagifs, der Kelim blieb verschwunden.

Also wurde ein aserbaidschanisch – türkischer Friede geschlossen und mit einem Glas Raki besiegelt. Da Vagifs Rakiflasche leider nicht mehr als diese bescheidene Menge beinhaltet hatte und man auch in Anatolien und im Kaukasus auf einem Bein schlecht stehen kann, verlagerten Vagif und Ali die weitere Besprechung in Sachen „verschwundener Kelim“ ins „Lefkosa“, einem Lokal an der nahen Schnellbahnlinie, das einem zypriotischen Türken gehörte, bei dem man erstklassigen anatolischen Raki und österreichisches Bier vom Fass erhielt.

Zufälligerweise war gerade an diesem Abend Suby auch da.
Suby, die eigentlich Brigitte hieß, war eine Studentin der Rechtswissenschaften kurz vor dem Doktorat, eine überzeugte „Grüne“ und Befürworterin der „Multi – Kulti - Gesellschaft“. Im „Lefkosa“ verkehrte sie nur sporadisch, da ihr dort die Küche zu sehr dem österreichischen Geschmack angepasst war und zu wenig nach Levante schmeckte. Zu ihrem Spitznamen kam sie wegen ihrer blonden, langen Haare und weil sie sich oft und gern in Kreisen bewegte, in denen eine Menge untergetauchter Asylwerber, also „U-Boote“, anzutreffen sind. Zunächst wurde sie deshalb „Yellow submarine“ genannt, was aber nach und nach durch die Abkürzung Suby ersetzt worden war.

Auf dem Weg von den Toiletten zu dem Tisch, an dem sie und ihr flüchtiger Bekannter saßen, erkannte sie Vagif, den sie sehr schätzte, mit einem grobschlächtigen Türken hinter großen Gläsern Bier sitzen.
„Hallo Vagif! Geht’s gut?“
„N Abend, Suby. Geht so. Wir spülen grade Ärger runter.“
„Gibt’s Wickel[2]?“ Suby, die übrigens dem Vorurteil über Blondinen und deren geistige Kapazitäten ganz und gar nicht entsprach und im Gegenteil blitzgescheit war, empfand großes Vergnügen dabei, den Zuwanderern und Flüchtlingen, die meist arme Teufel waren, mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. In aller Kürze berichtete der Ingenieur vom Verschwinden des Gebetsteppichs, worauf Suby einfach ihren Bekannten nach Hause schickte und an den Tisch Vagifs übersiedelte.
Vagif erzählte nun ausführlicher und betonte auch, dass es sich bei dem verschwundenen Kelim um ein offenbar sehr altes, wertvolles Stück gehandelt hatte.

Wenn Suby etwas auf den Tod nicht ausstehen konnte, dann war es die Benachteiligung von Angehörigen ethnischer Minderheiten, da diese ihrer Meinung nach eh schon genug mit den Vorurteilen der Einheimischen zu kämpfen haben. Das „goldene Wienerherz“ stellt sich nämlich sehr oft als eher als aus Stein - höchstens mit Einschlüssen von Katzengold - heraus. Außerdem war ihr der einfache Türke an Vagifs Tisch gleich sympathisch. Völlig zutreffend hatte sie den Mann sofort als gutmütig und integrationswillig eingestuft, dessen mangelhaftes Deutsch lediglich auf ein Defizit an Kontakten mit Österreichern zurückzuführen war.

Spontan beschloss Suby, sich um die Angelegenheit zu kümmern.
Ganz offensichtlich lag ein Diebstahl vor. Als Verdächtige kamen vor allem die Bewohner des Hauses in Frage. Also war es nur vernünftig, einmal mit möglichst allen der Mieter zu sprechen. Suby bot an das zu tun, und Ali stimmte dem natürlich freudig zu, zumal Vagif dem Ali erklärte, dass es sich bei der blonden, jungen Dame um eine angehende Anwältin handle, was diesen sehr beeindruckte.

Währenddessen stand im Vorzimmer seiner Penthousewohnung ein verdatterter Walter Nowotny, betrachtete den Kelim, den er an die Wand genagelt hatte und wusste nicht, ob er wütend oder froh sein sollte. Soeben hatte der Besuch einer jungen Dame bei ihm unerfreulich und recht abrupt geendet.
Nowotny war Junggeselle, einfach deshalb, weil es keine Frau länger als ein paar Tage an seiner Seite aushielt. Andererseits hatte Herr Nowotny eine Eigenschaft, die ihn überaus attraktiv für Damen (besonders junge) machte: Er war stinkreich. Deshalb fiel es ihm erstaunlich leicht, Bekanntschaften zu machen. Er selbst drückte das so aus: „An Hasen einbraten[3]? Ka Problem mit an Maserati.“ Aber auch Walter Nowotnys Nobelhobel[4] änderte nichts an der Tatsache, dass es maximal zu einem „One night stand“ führte, wenn er eine Katz „abschleppen“ konnte.

Diesmal war es nicht einmal dazu gekommen. Der Has (oder die Katz) hieß Magda und sie hatte ihm gestanden, dass ihr Vater aus Kairo stammte (was ihr überhaupt nicht anzusehen war). Das hatte natürlich zu Bemerkungen des Herrn Nowotny über „Kameltreiber“ (Araber) im Allgemeinen und „Pyramidenscheißer“ (Ägypter) im Besonderen geführt, worauf Magda ohne Gruß das Penthouse verlassen hatte.

Zuvor allerdings hatte Magda den Kelim bewundert (was dann auch das Gespräch auf Magdas Vater gebracht hatte) und die Vermutung geäußert, der Teppich müsse uralt und ein Vermögen wert sein.
Diese Vermutung Magdas war es, die Walter Nowotny schwanken ließ zwischen Wut und Freude. Nun, wenn der Teppich tatsächlich wertvoll war, dann möge Magda sich getrost „über die Häuser hauen“[5] , dann wäre diese Information wesentlich wichtiger als eine „Nummer“ mit ihr.
Nowotny beschloss, gleich am nächsten Tag Angebote für den Kelim einzuholen.

Ebenfalls am nächsten Tag erschien Suby gegen 18 Uhr in dem heruntergekommenen Zinshaus in der Donaueschingenstraße um ihre Ermittlungstätigkeit aufzunehmen.
Die unverhohlene Abweisung und das Misstrauen, das ihr überall, wo sie anklopfte, entgegenschlug, verwandelte sich sofort in ungläubiges Staunen, wenn Vagif erklärte, um wen es sich bei der blonden, jungen Frau handelte. Was? Jemand, der nicht vorhatte, den Mietern in dieser Bruchbude das Leben zusätzlich schwer zu machen? Ja, gab es denn so etwas überhaupt in dieser großen, grauen Stadt? Als Vagif dann den meisten Bewohnern erzählte, dass Suby drüben im neunzehnten Bezirk, wo sie wohnte, eine junge Vietnamesin vor der Abschiebung bewahrt hatte, erwiesen sich alle Angesprochenen als sehr kooperativ. Leider hatte aber niemand von ihnen etwas vom Teppich und dessen Verschwinden bemerkt.

Einen brauchbaren Hinweis bekamen Suby und Vagif schließlich gerade bei dem Mieter im dritten Stock, der sich am längsten geweigert hatte, mit den beiden überhaupt nur zu sprechen. Als der Libanese schließlich doch von der Harmlosigkeit Subys überzeugt werden konnte und die Wohnungstür öffnete, stellte sich heraus, dass er allen Grund zur Besorgnis gehabt hatte. Es gab einen geheimen Mitbewohner in seinem gerade einmal 16 Quadratmeter großen Einzelraum, einen Afrikaner aus Gabun, der illegal im Land war, selbstverständlich ohne Arbeit und ohne Geld, und der von dem Libanesen aus Mitleid durchgefüttert und versteckt wurde. Selbstverständlich durfte das der Vermieter, der ehrenwerte Herr Nowotny, auf keinen Fall wissen!

Von diesem Farbigen, der außer seinem heimatlichen Dialekt lediglich ein paar Wörter Französisch sprach, erfuhr Suby (deren Französisch auch nicht besser war als das des Schwarzen) nach längerem Gestikulieren und Raten, dass er am Vortag durch Hupen darauf aufmerksam geworden war, dass ein Auto die gegenüberliegende Hauseinfahrt verstellt hatte. Er hatte deshalb vorsichtig, um nicht entdeckt zu werden, durch den schäbigen Vorhang des einzigen Fensters gesehen. Der Fahrer des Autos sei schließlich nach einigen Minuten zu seinem Wagen gekommen und hätte eine Rolle getragen, die ein kleiner Teppich gewesen sein konnte. Zu dem Fahrzeug befragt, konnte der Westafrikaner nur die beiden Angaben „rouge“ und „tres vite“ machen. Darum dauerte es eine Weile, bis Vagif dahinter kam, dass ein roter Sportwagen damit gemeint sein könne.

Da Vagif einmal von irgendjemandem gehört hatte, dass der Hausherr Nowotny einen roten Sportwagen fuhr, brachte er natürlich die Beobachtung des illegalen Untermieters sofort damit in Verbindung und teilte Suby diesen Verdacht mit.
„Ein guter Anhaltspunkt“, lobte Suby, „Aber noch kein Beweis. Der Sache geh’ ich schon noch nach.“
Zunächst unterhielt sich Suby aber noch mit Fatma Üzgül, die weit besser Deutsch sprach, als ihr Mann. Suby, als gelernter Juristin, war es wichtig, genau zu wissen, wo und wann Fatma den Teppich gefunden hatte. Vorausblickend, wie sie war, vermutete sie, dass im Fall eines gerichtlichen Nachspiels diese Tatsache noch entscheidend werden könnte.

Während Suby noch mit Fatma sprach, saß Walter Nowotny nachdenklich auf seiner protzigen Ledercouch und überlegte angestrengt, was er mit dem Kelim tun solle. Dass er tatsächlich einen erheblichen Wert repräsentierte, war ihm nunmehr klar. Ein iranischer Teppichhändler namens Nawabi hatte ihn am Nachmittag einfach abgewiesen und erklärt, er denke nicht im Traum daran, einen derart bedenklichen Ankauf zu tätigen. Als Walter Nowotny näheres über den Kelim wissen wollte, verweigerte der Iraner die Auskunft. Mit seinem Mitarbeiter in dem Teppichgeschäft hatte sich Herr Nawabi zwar lebhaft auf Farsi (zweifellos über den Teppich) unterhalten, aber Nowotny erfuhr nichts. Nachrichtensperre! Wütend war Nowotny schließlich abgerauscht. Das war ja noch schöner! Dahergelaufene, bloßfüßige Orientalen verweigerten ihm, dem mächtigen Hausherren Nowotny einfach die Information, die er haben wollte!

Der nächste Teppichhändler, im zweiten Bezirk, hatte Nowotny spontan siebzig Euro für den Kelim geboten, aber seine Gesichtszüge nicht unter Kontrolle gehabt. Nowotny hatte sofort das gierige Blitzen in den Augen des armenischen Geschäftsmannes erkannt und sich mit den Worten: „Dir ham s’ ja ins Hirn g’schissen!“ entrüstet zurückgezogen.

Nowotny mixte sich einen sehr steifen Martini, nach dessen Genuss ihm noch immer nicht einfallen wollte, was mit dem Teppich zu tun sei. Also hängte er ihn vorläufig wieder an die Vorzimmerwand. Vielleicht ergab sich ja noch eine Möglichkeit, ihn mit einem zufrieden stellenden Gewinn loszuwerden.

Suby war in ihrer kleinen Wohnung in Döbling bis spät in die Nacht indessen mit Recherchen im Internet beschäftigt, allerdings ohne Erfolg. Sämtliche Suchmaschinen probierte sie durch mit den Suchbegriffen „Künstlerhaus Wien“, „Teppich“, „Kelim“, „Orientausstellung“ und so weiter. Nichts. Dabei fühlte sie mit ziemlicher Sicherheit, dass der Teppich einstmals ein Ausstellungsstück gewesen sein musste. Wie sonst wäre er gerade im Künstlerhaus aufgetaucht?

Am nächsten Tag rief Suby dort an. Sie kam an eine freundliche Dame von der Direktion, die ihr aber auch nicht weiterhelfen konnte. Natürlich erzählte Suby nichts von dem Teppich – sie fragte nur nach den Ausstellungen der letzten Jahre. In den letzten zehn Jahren hatte keine stattgefunden, deren Thema auch nur halbwegs zu einem Gebetsteppich passte. Weiter zurück gingen die Aufzeichnungen, die der netten Dame zur Verfügung standen, leider nicht.

Trotzdem gab Suby noch nicht auf. Sie rief im Rathaus an und ließ sich mit einem ehemaligen Studienkollegen verbinden, der bei der Stadtverwaltung gelandet war. Immerhin wurden viele der Ausstellungen im Künstlerhaus von der Stadt Wien subventioniert und vielleicht gab es in den Archiven der Stadt einen Hinweis. Dem Robert, ihrem alten Bekannten, erzählte sie ihr Problem und Robert versprach, die Archive durchzusehen. Wenn es da etwas gab, würde er es finden, denn „der Amtsschimmel schmeißt nie was weg“, wie Robert versicherte.

Dann rief Suby den Rechtsanwalt von Walter Nowotny an. Dessen Telefonnummer hatte sie von einem der Mieter im desolaten Zinshaus, der einen Zahlschein für Ausbesserungsarbeiten an der Fassade des Innenhofes erhalten hatte (sein Fahrrad war von Nowotny an der Wand lehnend vorgefunden worden). Nowotny selbst war für sämtliche Mieter nicht direkt erreichbar, weil er seine Adresse und Telefonnummer vor diesen geheim hielt.

Das Telefonat mit dem Anwalt bestärkte Subys Ansicht, dass es auch unter Anwälten „Arschlöcher“ gab. Der Anwalt stellte sich als „patzert“[6] heraus und wollte partout nicht mit Nowotnys Adresse herausrücken. Erst als Suby ihm erklärte, dann werde sie sich eben über das Grundbuch die entsprechenden Informationen verschaffen, gab er ihr unwillig Nowotnys Telefonnummer.

Suby hatte genug Einzelheiten über den Hausherren Walter Nowotny von den Bewohnern des Hauses in der Donaueschingenstraße erfahren, um sich ein ungefähres Bild über ihn machen zu können. Sie war sich mittlerweile ziemlich sicher, dass er etwas mit dem verschwundenen Kelim zu tun hatte, entschloss sich deshalb zum Versuch eines Frontalangriffs und rief Walter Nowotny ganz einfach an.
Dem veränderten Klingelton entnahm sie, dass ihr Anruf offenbar auf ein Mobiltelefon umgeleitet wurde und dann meldete sich Nowotny, der soeben seinen Maserati in den zehnten Bezirk zu einem seiner Häuser lenkte, um dort wieder einmal eine Inspektion durchzuführen.
„Herr Nowotny, Sie haben einen Gebetsteppich zu verkaufen?“, fragte Suby.
„Woher wissen S’ denn das?“, fragte Nowotny verblüfft zurück.
„Man hat so seine Informationsquellen“, wich Suby aus. „Was soll er denn kosten?“
„Was täten S’ denn zahlen?“
„Ohne dass ich ihn g’sehn hab, kann ich da gar nix sagen.“
„Kommen S’, kane blöden Schmäh! Der Nawabi hat Ihnen doch sicher g’sagt, was des Zeug wert is!“
„Wer soll mir was g’sagt haben?“ Suby klopfte sich selbst im Geist auf die Schulter. Volltreffer!
„Der Nawabi, der dreckige persische Teppichtandler in Simmering. Von dem wissen S’ das doch von dem Teppich!“
„Tut mir leid, den kenn ich gar nicht. Nein, bevor ich Ihnen ein Angebot mach, muss ich den Teppich sehen!“
Einige Sekunden war nur der Verkehrslärm zu hören. Nowotny dachte offenbar nach. Dann überwog doch seine Geldgier über seine Vorsicht. „Schön. Kommen S’ heut um sechse zu mir. Da hängt er im Vorzimmer. Jetzt muss i z’erst einmal a paar Tschuschen auf die Zechen steigen.“ Dann gab er Suby seine Adresse durch und Suby versprach, pünktlich zu sein.

Einen Teppichhändler mit Namen Nawabi im elften Bezirk ausfindig zu machen, stellte natürlich kein Problem dar. Dann rief Suby ihre Mutter an und bat sie, sich das Auto ausborgen zu dürfen. Als überzeugte „Grüne“ besaß sie natürlich keines, aber vom neunzehnten in den elften Bezirk ist es ein ganz beachtlicher Weg und Suby hatte nicht allzu viel Zeit, wenn sie um 18 Uhr bei Nowotny sein sollte.

Noch bevor sie sich auf den Weg zu ihrer Mutter machte, die nur ein paar Gassen entfernt wohnte, erreichte sie der Anruf Roberts aus dem Rathaus. Er hatte herausgefunden, dass im Jahr 1983 eine Ausstellung „Dreihundert Jahre Türkenbelagerung“ im Künstlerhaus stattgefunden hatte.
„Bingo! Robert, ich danke dir! Jetzt passt alles zusammen!“, jubelte Suby. Dann lief sie zu ihrer Mutter und rief unterwegs von ihrem Handy Vagif an seinem Arbeitsplatz an. Vor Nowotny hatte sie doch etwas Angst und Vagif versprach, zu ihrer Unterstützung um 18 Uhr bei der angegeben Adresse zu sein.

Die Firma Nawabi in Simmering verfügte sogar über einen eigenen kleinen Kundenparkplatz und als Suby den Geschäftsinhaber mit den wenigen Wörtern Farsi, die sie kannte, begrüßte, war das gute Einvernehmen sofort hergestellt.
Herr Nawabi, dem Suby die ganze Geschichte erzählte, hatte gleich beim Besuch Nowotnys vermutet, dass eine illegale Angelegenheit dahinter steckte und deshalb den wahren Wert des Kelims verschwiegen. Seiner Meinung nach handelte es sich um einen anatolischen Seidenkelim, der um 1650 gewebt worden sein dürfte, da sowohl Muster als auch Farbgebung einen starken venezianischen Einfluss erkennen ließen.

Suby berichtete, dass sie herausgefunden hatte, dass das Stück offenbar ein Exponat der Ausstellung über die Türkenbelagerung 1683 gewesen sein dürfte.
Das passe genau, meinte Herr Nawabi. Solche Kelims wären am Hof Mehmed des Vierten sehr häufig gewesen und zweifellos hatten höher gestellte Persönlichkeiten der Belagerungsarmee welche im Gepäck gehabt. Was den Wert betreffe, könne er zwar nichts genaues sagen, da solche Stücke im freien Handel nicht mehr zu haben wären, aber unter hunderttausend Euro würde er ihn nicht ansetzen.

Suby war höchst zufrieden, als sie sich bei dem Iraner bedankte. Sie versprach, sich dafür einzusetzen, dass der Kelim als bedeutendes Kulturgut einen würdigen Platz in einem Museum erhalten würde.
Dann fuhr Suby in den ersten Bezirk, parkte das Auto ihrer Mutter in der Tiefgarage „Am Hof“ und ging die kurze Strecke zur Wipplingerstraße zu Fuß.
Vagif war schon da und zu Subys Freude hatte er sogar Ali Üzgül mitgebracht, „für den Fall, dass kräftige Fäuste nötig sein sollten“, wie er erklärte.

Walter Nowotny war noch nicht zu Hause. Aber bald schon röhrte sein roter Maserati heran und Nowotny stellte ihn im Innenhof des Gebäudes ab, das aus dem 18. Jahrhundert stammte und erst vor wenigen Jahren gründlich renoviert und mit dem Penthouse ausgestattet worden war.
Suby ließ Nowotny noch zwei Minuten Zeit, läutete dann, wurde eingelassen, über die Sprechanlage angewiesen, den Aufzug ins oberste Stockwerk zu nehmen und natürlich betraten Vagif und Ali mit ihr das Gebäude.

Das Penthouse betrat Suby zunächst alleine, Vagif und Ali hielten sich vor Nowotnys Wohnungstür bereit, um notfalls einzugreifen.
Nowotny war freudig überrascht, als eine attraktive Blondine in engen Jeans vor seiner Tür stand und sich als diejenige vorstellte, mit der Nowotny wegen des Teppichs telefoniert hatte. Mit breitem Grinsen, das freundlich sein sollte, aber auf Suby abstoßend wirkte, bat Nowotny sie in sein Penthouse.

Da hing der Kelim.
Eine gute Minute lang betrachtete Suby das textile Kunstwerk. Fast hatte sie den Eindruck, als ob der schöne Teppich um Hilfe rufen würde und nicht länger bei einem so unsympathischen Menschen bleiben wollte.
„Na, schöne Frau?“, fragte Nowotny. „Wie viel?“
„Haben Sie eine Besitzurkunde? Einen Kaufvertrag vielleicht oder ein Testament oder so etwas?“, fragte Suby.
„Was? Das is nur a alter Teppich!“
„Aber ein sehr alter!“, erklärte Suby. „Stammt in etwa von sechzehnfünfzig. Wert sicher weit mehr als hunderttausend Euro. Aber nur mit Urkunde.“
Walter Nowotny machte „Lade bei Fuß“. Die Kinnlade hing ihm vor Staunen herunter und die Augen traten ihm hervor.
„Nur a alter Tewich!“, stammelte er. „Für was a Urkunde?“
„Herr Nowotny! Das ist ein historisches Kulturgut! Wenn Sie nicht über eine entsprechende Urkunde verfügen, muss ich annehmen, dass Sie unrechtmäßig in den Besitz dieses Kelims gelangt sind. Wenn das so ist, wird sich die Polizei drum kümmern müssen.“

Jetzt begann es Nowotny zu dämmern, dass es vielleicht doch nicht so klug gewesen war, den Teppich zu „konfiszieren“. „Madl, von was red’st du da?“, versuchte er zu argumentieren. „Historisches Kulturgut? A alter Fetzen is des! Den hab i irgendwann einmal g’schenkt kriegt!“
„Na, is ja gut für Sie, wenn Sie’s beweisen können!“
„Beweisen!“, langsam wurde Nowotny zornig. „An Dreck muss i! Und jetzt schleich di[7], der is net zum verkaufen!“ Er ging zur Wohnungstür und öffnete sie.
„Da haben Sie Recht“, lächelte Suby. „Verkaufen können S’ den net, nur abgeben!“
„Jetzt zieag oh[8], Madl, sonst geh i pressant!“[9]

Nowotnys Stimme war natürlich bis ins Stiegenhaus zu hören und Subys beiden Begleiter fanden, es wäre an der Zeit, unterstützend einzugreifen.
Mit Schrecken sah Walter Nowotny, dass nicht die blonde Frau durch die Tür nach draußen ging, sondern zwei Männer durch die Tür herein kamen. Und voller Unglauben erkannte Nowotny zwei seiner Mieter aus der Bruchbude in der Donaueschingenstraße.

Ali Üzgül sah beim Betreten der Wohnung seinen Kelim an der Vorzimmerwand hängen, den verhassten Hausherren mit wutverzerrtem Gesicht davor stehen und er zog die korrekten Schlüsse aus dieser Konstellation. Seine schwielige Pranke traf den Hausherren mit einer Wucht, dass es ihm beinahe den Kopf abgerissen hätte. Nowotny trat nach dem Türken und traf stattdessen den aserbaidschanischen Ingenieur. Bei Vagif löste diese Attacke einen Reflex aus, der der Nase Nowotnys nicht gut bekam. Nowotny brüllte auf und stürzte sich mit einem Elan auf die zwei „dreckigen Ausländer“, der nur mit seinem irrationalen Hass auf alles Fremdländische erklärbar war.

Suby flüchtete ins Stiegenhaus und tippte die Nummer des Polizeinotrufs in ihr Handy.
Da in Wien viele Geschäftslokale um 18 Uhr schließen, ist gegen 18 Uhr 30 der Stoßzeitverkehr noch voll im Gang. Der Funkstreifenwagen Anton drei brauchte daher etwa vier Minuten um vom Stubenring, wo ihn der Einsatzbefehl erreichte, bis in die Wipplingerstraße zu gelangen. Diese vier Minuten nützten Ali und Vagif zu einer geradezu göttlichen Tracht Prügel, die sie Herrn Nowotny verabreichten. All die Verzweiflung und all der Ärger über den Hausherren lagen in dieser Tracht Prügel und Walter Nowotny hätte nie gedacht, dass er sich jemals über das Erscheinen von zwei Polizisten derart freuen würde.

Gegen halb acht Uhr waren dann alle Formalitäten auf dem Wachzimmer erledigt. Der Kelim war in Polizeigewahrsam, Herr Nowotny vom Amtsarzt entsprechend verpflastert und die Anzeige gegen ihn war aufgenommen worden. Die Beamten im Wachzimmer waren sehr erfreut gewesen, dass ihnen Suby mit ihrem juristischen Wissen den Papierkram sehr erleichtert hatte. Da keinerlei Flucht- oder Verdunklungsgefahr bestand, wurde Herr Nowotny auf freien Fuß gesetzt und Suby fuhr Ali und Vagif nach Hause, bevor sie das geliehene Auto ihrer Mutter zurückgab.

Ali hatte eingesehen, dass der Kelim viel zu wertvoll war, um weiterhin als Gebetsteppich zu dienen und die Aussicht auf einen Finderlohn für seine Fatma freute ihn sehr. Vielleicht war der Betrag sogar so hoch, dass sich die Üzgüls einen kurzen Heimaturlaub in der Türkei leisten konnten.

Diesbezüglich wurde Ali dann enttäuscht, und zwar sehr angenehm enttäuscht. Vom Finderlohn seiner Fatma konnte er sich nicht nur einen längeren Urlaub leisten, sondern auch einen neuen Gebetsteppich – und Vagif gab er auch einen Teil davon ab.

Der Kelim befindet sich nun im Historischen Museum der Stadt Wien auf dem Karlsplatz, gleich schräg gegenüber dem Künstlerhaus. Die Erben des ungarischen Grafen waren bis auf einen nicht mehr ausfindig zu machen gewesen, und dieser eine zeigte kein Interesse an dem Kelim. Stattdessen nahm er mit Freuden eine Ablösesumme entgegen, die den tatsächlichen Wert des Teppichs bei weitem nicht erreichte.

Herr Nowotny erhielt eine bedingte Strafe wegen Fundunterschlagung (sein Anwalt hatte ihn vor dem Vorwurf des Diebstahls gerade noch bewahren können), wurde aber zum Ziel eines Journalisten, der die Zustände in seinen Mietshäusern publikumswirksam aufs Korn nahm (und den Hinweis dazu einer gewissen Suby zu verdanken hatte). Das führte schließlich dazu, dass die aller dringendsten Reparaturarbeiten in den verkommenen Gebäuden dann doch durchgeführt wurden.
So hatte schließlich ein textiles Kunstwerk, das vor mehr als dreihundert Jahren dabei hätte mithelfen sollen, Europa mit Waffengewalt unter muslimischen Einfluss zu bringen, dazu geführt, dass es einigen Leuten am Ende beträchtlich besser ging. Auch wenn es nur ein alter Teppich war.

Anmerkungen:
[1] anflehen
[2] Probleme, Verwicklungen
[3] beeindrucken, für sich gewinnen
[4] Luxusauto
[5] entfernen
[6] überheblich und unfreundlich
[7] Entferne Dich!
[8] Zieh ab!, Verschwinde!
[9] sonst werde ich wütend

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