Rezensionen

Marcel Bois/Bernadette Reinhold (Hg.): Margarete Schütte–Lihotzky. Architektur. Politik. Geschlecht. Neue Perspektiven auf Leben und Werk. Verlag Birkhäuser

Margarete Schütte–Lihotzky (1897–2000) gilt weithin als erste Architektin Österreichs und nicht zuletzt als Heldin des Widerstands gegen die Nazi–Diktatur. Neueste Forschungen zeigen nun ein differenzierteres Bild der Architektin, deren Nachlass sich an der Universität für angewandte Kunst Wien befindet: Margarete Schütte–Lihotzky, die Ikone der Architekturgeschichte, jenseits aller Mythen. Eine Rezension von Katja Weingartshofer

Cover: Margarete Schütte–Lihotzky. Architektur. Politik. Geschlecht. Neue Perspektiven auf Leben und Werk. © Birkhäuser
Cover: Margarete Schütte–Lihotzky. Architektur. Politik. Geschlecht. Neue Perspektiven auf Leben und Werk. © Birkhäuser

Was fällt Ihnen ein, wenn Sie an die österreichische Architektin Margarete Schütte–Lihotzky (1897–2000) denken? Die Frankfurter Küche? Darüber wäre die Architektin nicht erfreut gewesen, vielmehr war sie zeitlebens empört, dass der Urtyp der modernen Einbauküche als ihr wichtigstes Werk gilt. Der Sammelband »Margarete Schütte–Lihotzky. Architektur. Politik. Geschlecht. Neue Perspektiven auf Leben und Werk« bricht das bisher wenig ausdifferenzierte öffentliche Bild der österreichischen Architektin nun auf und beweist, dass Margarete Schütte–Lihotzky viel mehr war als die Designerin der Frankfurter Küche. Fünf Themenabschnitte eröffnen dabei neue Perspektiven auf ihr bewegtes Leben, ihr transnationales architektonisches Œuvre, ihre Begegnungen, ihren politischen Werdegang als Kommunistin und nicht zuletzt die aktuelle Rezeption ihrer Kindergärten und Küchen. Die Beiträge stammen von einer gleichnamigen Tagung, die im Oktober 2018 an der Universität für angewandte Kunst in Wien stattgefunden hat.

Margarete Schütte–Lihotzky führt ein transnationales Architektinnenleben: 20 Jahre ihres Lebens verbringt sie im Ausland. 1919 schließt sie als eine der ersten Frauen ein Architekturstudium an der Wiener k. k. Kunstgewerbeschule ab. Aus gutbürgerlichen Verhältnissen stammend, wird Schütte–Lihotzky während ihres Studiums mit der Armut und den erschreckenden Wohnverhältnissen in den Arbeiterbezirken konfrontiert. Die Eindrücke prägen sie nachhaltig und der soziale Wohnbau wird zu ihrem Schwerpunkt. Ab 1922 arbeitet Schütte–Lihotzky gemeinsam mit den Architekten Adolf Loos, Josef Frank und Oskar Strnad für das Siedlungsamt in Wien, ab 1926 zusammen mit dem Stadtplaner Ernst May für das Frankfurter Hochbauamt. An beiden Orten behauptet sie sich in einer progressiven Männerdomäne. In ihrer Frankfurter Zeit entwirft sie Plattenbau–Reihenhaustypen für den Frankfurter Stadtteil Praunheim, die auf der Werkbundausstellung in Stuttgart ausgestellt werden. Gemeinsam mit ihrem Mann Wilhelm Schütte gestaltet sie eine »Wohnung für das Existenzminimum«, die 1929 auf der CIAM (Congrès Internationaux d’Architecture Moderne) in Frankfurt präsentiert wird.

1930–1937 lebt Schütte–Lihotzky in der Sowjetunion, wo sie die Projektierung von Kindereinrichtungen leitet. Dieses Kapitel zeigt exemplarisch, dass die Publikation auch offene Fragen in der Forschung klar herausarbeitet. So wird auf eine bisher kaum erforschte Quelle in Bezug auf die sowjetischen Jahre verwiesen: Schütte–Lihotzkys Briefwechsel mit ihrer Schwester. 1937 geht es weiter nach Istanbul: Sie wird Architektin im Schulbaubüro der Akademie der Schönen Künste und entwickelt im Auftrag des Unterrichtsministeriums typisierte Dorfschulen. Der Band rückt ihr architektonisches Werk ins Zentrum und manifestiert anhand zahlreicher Beispiele ihren Stellenwert in der Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Aufschlussreiches Bild– und Archivmaterial lässt noch tiefer in Schütte–Lihotzkys Architektur und Design blicken.

Schütte–Lihotzky wird 1939 Mitglied der KPÖ, eine der aktivsten Kräfte im Widerstand gegen das NS–Regime. Ein Jahr später erhält sie den Auftrag, als Kurierin der KPÖ von Istanbul nach Österreich zu fahren. Sie wird jedoch verhaftet und bis Kriegsende gefangen gehalten. Später bezeichnet die Widerstandskämpferin dieses überaus riskante Unternehmen als eine Notwendigkeit im Kampf gegen den Nationalsozialismus.

Mit ihrem Text »Planen und Bauen, Euch Frauen geht es an« (1953) wendet sich Schütte–Lihotzky mit einer aus heutiger Sicht feministischen Botschaft an Frauen und setzt sich dafür ein, dass sie ein Mitspracherecht in Planungsprozessen für Architektur und Möbel bekommen. Ausgehend von diesem Aufsatz wird in einem Beitrag der Frage nachgegangen woher ihr demokratisches Engagement für Frauen kommt und wonach die feministische Pionierin strebt.

Schütte–Lihotzky sieht sich zur Weitergabe ihres Wissens als Architektin und politische Aktivistin verpflichtet und tritt ab den 1980ern als mahnende Zeitzeugin auf. Sie versteht Erinnern als politischen Akt. Ihre autobiografischen Schriften (»Erinnerungen aus dem Widerstand«, 1985 und »Warum ich Architektin wurde«, postum 2004) spielen dabei eine wesentliche Rolle. Der Band widmet sich in Bezug auf Schütte–Lihotzkys autobiografische Schriften folgenden Fragen: Woran wird erinnert? Was wird ausgeblendet? Mit welcher Motivation spricht die Autorin?

Erstaunlicherweise erwähnt Schütte–Lihotzky ihren Ehemann und Architektenkollegen Wilhelm Schütte sowie ihren späteren Lebensgefährten Hans Wetzler kaum bis gar nicht in ihren autobiografischen Schriften obwohl sie mit Schütte sie die gemeinsame Arbeit und mit Wetzler der politische Aktivismus verband. Die Publikation liefert bislang ungekannte Einblicke in das architektonische Werk Wilhelm Schüttes und das Leben des kommunistischen Intellektuellen Hans Wetzler.

Von Schütte–Lihotzkys Vita und Werk direkt ins Museum: Was vermittelt die Ausstellung der Frankfurter Küche in diversen deutschen und US–amerikanischen Museen? Ein Beitrag zeigt durch eine interessante Analyse, dass die Museen Fragen nach Geschlechterthematiken größtenteils ausklammern, stattdessen wird die Frankfurter Küche vermehrt unter die Designgeschichte der Moderne subsumiert.

Fazit: 
Der vorliegende Sammelband besticht durch präzise wissenschaftliche Aufarbeitung und neue Forschungsfragen. Die Sprache der Texte ist klar und lebendig. Viele der Beiträge beinhalten zudem kurze und übersichtliche Forschungsstände zum jeweiligen Thema. Auch zeitgenössische künstlerische Perspektiven, wie der von Margherita Spiluttini fotografierte Einblick in Schütte–Lihotzkys Arbeits– und Schlafzimmer sowie Beispiele ihres Nachhalls auf die Gegenwartskunst, werden miteinbezogen. Adressiert an ein wissenschaftliches beziehungsweise fachlich interessiertes Publikum, dient der Sammelband diesem als profundes Überblickswerk und aktueller Forschungsstand. Wer diesen Band gelesen hat, wird Margarete Schütte–Lihotzky nicht mehr auf die Frankfurter Küche reduzieren.

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