Ausstellungsbesprechungen

Neue Ansichten vom Ich. Graphische Selbstbildnisse des 20. und 21. Jahrhunderts

Ein kritischer Blick in den Spiegel – Bin »Ich« das? Und wer ist überhaupt »Ich«? Solcherlei philosophische Fragestellungen haben sicherlich einen jeden von uns schon umgetrieben. Mit den unterschiedlichsten Ergebnissen, versteht sich.

Zu jenen kommen freilich auch diejenigen von uns, die sich der Bildenden Kunst verschrieben haben. Im Gegensatz zu Otto Normalverbraucher haben Künstler die Möglichkeit ihre Ergebnisse der Selbstbefragung sichtbar festzuhalten, nämlich im Selbstbildnis. Das Braunschweiger Herzog Anton Ulrich-Museum zeigt eine umfassende Auswahl von graphischen Selbstbildnissen des 20. und 21. Jahrhunderts in seiner ersten Sonderausstellung im Jubiläumsjahr zum 250-jährigen Bestehen. Der Auftakt ist gelungen!

 

„Neue Ansichten vom Ich“ vereint die vielfältigsten Ansätze der bildlichen Selbsterkundung: von der intimen zeichnerischen Selbstbefragung bis zur selbstbewussten Inszenierung der eigenen Person. Besonderes Augenmerk legte Dr. Thomas Döring, Kurator der Ausstellung, auf die Künstlerinnen und Künstler, deren Schaffen gänzlich oder überwiegend der Erscheinungsform des Selbstbildnisses gewidmet ist. Zu nennen ist da natürlich Horst Janssen, das maßlose Genie. Es ist bezeugt, dass sein Schaffensprozess geradezu rauschhafte Züge annahm. Er betrieb seine Kunst, wie er dem Alkohol anhing: delirierend und maßlos. Das eine war ihm für das andere Ersatz. Und immer wieder hat er sich schonungslos selbst dargestellt. Man kommt auf über 2000 Blätter – eine erschreckende Zahl. Ablesbar an ihnen wird die allmähliche Verwandlung eines weichen Jünglings in ein fettes, zahnloses Monster.

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Rätselhaft bleibt die Herangehensweise von Barbara Camilla Tucholski, die nicht nur Künstlerin, sondern auch promovierte Kunsthistorikerin ist. Sie zeichnet in Zyklen an denen sie ein bis zwei Jahre arbeitet. Zu sehen sind in Braunschweig drei Zeichnungen aus dem Zyklus Der Brunnen von SantÀnna in Camprena. Die jahrelange Beschäftigung mit dem Klostergarten ist als Metapher zu begreifen, die auch und nicht zuletzt eine Auseinandersetzung mit ihrem Ich darstellt. Der Amerikaner Jim Dine nähert sich seinem Selbst durch das Medium der Radierung. Gezeigt werden zwei Abzüge derselben Radierplatte. Der erste von 1971 ist von Jim Dine mit größter Konzentration und Reduktion der Formen und der Ausdrucksmittel gestaltet. Nur bestimmte Partien des Gesichts sind zu sehen, die gleichsam als Abbreviatur für das Ganze stehen. Als Dine die Platte vier Jahre später erneut bearbeitet, belässt er es nicht nur bei der Verwendung von Kaltnadel und Aquatinta, sondern er greift zu einem ungewöhnlichen Arbeitsgerät und übergeht die Platte mittels eines elektrischen Trennschleifers. Das gedruckte Ergebnis mutet geradezu gruselig an, erinnert das ehemals feine Antlitz nun an Murnaus Nosferatu und stellt damit eine Metapher des Verfalls und des Todes dar. Andy Warhol (siehe Abb.) dagegen inszeniert nicht etwa sein Selbst, sondern vielmehr sein Verschwinden, seine Identitätslosigkeit. Georg Baselitz steht natürlich, gemäß seiner seit 1969 betriebenen künstlerischen Strategie, auf dem Kopf in seinem überlebensgroßen Linolschnitt, der in seiner Aussage zwischen gegenwärtiger, erinnerter und imaginierter Identität oszilliert.

 

Spannende Einblicke gewähren die Selbstdarstellungen der 32 Künstler, die den Betrachter ganz sicher dazu veranlassen sich die folgende Frage zu stellen – Wer ist überhaupt Ich?

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