Noch während im Gustav-Lübcke-Museum in Hamm die Ausstellung »Lieblingsorte« läuft, die dem Thema »Künstlerkolonien von Worpswede bis Hiddensee« gewidmet ist (siehe Portal Kunstgeschichte vom 24.01.2017), zeigt das Museum eine kleine Kabinettausstellung mit Werken von Siegward Sprotte, einem Künstler, der sich unabhängig von den Hauptströmungen des 20. Jahrhunderts auf ganz eigenen Pfaden bewegt hat und möglicherweise gerade deshalb nicht jenen Bekanntheitsgrad erlangt hat wie andere, die sich leichter einem bestimmten »Ismus« zuordnen lassen. Die aktuelle Ausstellung in Hamm thematisiert das Reisen als Moment der künstlerischen Inspiration. Rainer K. Wick hat sie besucht.
Nie hat den Maler und Zeichner Siegward Sprotte (1913-2004) die Zementierung eines unverwechselbaren markttauglichen Images interessiert, immer hatte für ihn die von Stildiktaten freie Umsetzung künstlerischer Ideen Vorrang, und das um den bewusst in Kauf genommenen Preis stilistischer Vielfalt, ja einer gewissen Heterogenität. Dies bestätigt einmal mehr eine Auswahl aus dem umfangreichen Œuvre des Künstlers, die derzeit in Hamm zu besichtigen ist und den Fokus auf Sprottes Reiseaktivitäten legt.
Um den Titel einer berühmten Schrift Nietzsches abzuwandeln, ließe sich mit Fug und Recht nach dem Nutzen und Nachteil des Reisens für das Leben fragen. Für Goethe war es eine ausgemachte Sache, dass »ein gescheiter Mensch [...] die beste Bildung [...] auf Reisen« findet. Gottfried Benn dagegen stand dem Bemühen um Erfahrungserweiterung durch das Reisen an fremde Orte mit Skepsis gegenüber. Denn wohin auch immer man gelange, man begegne doch nur der Leere. Erkenntnisgewinn und Persönlichkeitsreifung sei nicht in der räumlichen Entgrenzung, in den Glücksverheißungen der Ferne, sondern nur in der »Umgrenzung«, im Beharren an Ort und Stelle, möglich. Für Sprotte galten beide Positionen. Insbesondere in künstlerischer Hinsicht kam es ihm auf die Balance von Reisen und Bleiben, von stabiler Ortsbezogenheit und häufigem Unterwegssein an.
Obwohl er in den 1930er Jahren fast altmeisterliche Porträts gemalt hat – in Hamm brilliert er mit dem eindrucksvollen »Selbstbildnis mit Lebensbaum« von 1937 – und auch noch bis in die 1950er Jahre sehr treffende Porträtzeichnungen, u.a. von bedeutenden Zeitgenossen wie Hermann Hesse, José Ortega y Gasset und Eugen Herrigel, geschaffen hat, ist er kein Meister des Figürlichen. Sein Hauptgegenstand ist vielmehr die Landschaft. Sieht man von dem impressionistisch beeinflussten Erstlingswerk des Fünfzehnjährigen ab –»Erste Ölwoge Laase, Pommern« –, so wird schon bald eine ausgeprägte Neigung zur metaphysischen Vertiefung der vor der Natur gewonnenen Eindrücke erkennbar. So ging es dem Künstler nicht um quasi-fotografische Abbilder einer äußeren Realität, sondern um ein inneres Schauen und um ein tieferes Eindringen in die Geheimnisse des Kosmos. Mitte der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts schuf er an die Romantiker erinnernde Kompositionen, die seiner Sehnsucht nach einer Einheit von Mensch und Natur entsprachen. Später gelangte er in einem allmählichen Prozess des Reduzierens und Abstrahierens zu spontan niedergeschriebenen malerischen Stenogrammen, mit denen er die Essenz einer Landschaft zu erfassen suchte.
In Potsdam geboren, erhielt Sprotte entscheidende künstlerische Impulse durch seinen Mentor Karl Hagemeister, Mitglied der Berliner Secession und Begründer der Havelländischen Malerkolonie im Brandenburgischen Ferch am Schwielowsee – eine jener Künstlerkolonien, die derzeit in Hamm in der eingangs erwähnten Ausstellung »Lieblingsorte« vorgestellt werden und der dort auch Sprotte zugerechnet wird. Schon früh begab sich der Künstler auf Reisen, so 1936 nach Colfosco in den Dolomiten, 1944 nach Hiddensee und auf die Kurische Nehrung. Nach dem Zweiten Weltkrieg machte er Kampen auf Sylt zu seinem dauerhaften Wohnsitz. Die Entscheidung für diese Nordseeinsel entsprach sehr genau seinem Naturverständnis, das maßgeblich durch die Faszination am Elementaren – Sand, Dünen, Meer, Himmel und Erde, Ebbe und Flut, erlebbare Urgewalten, spürbare Jahreszeiten – bestimmt wurde. Aufschlussreich ist sein Hinweis, dass er Bilder »auf Sylt, nicht von Sylt male«, und dieses Statement lässt sich sinngemäß auch auf Sprottes künstlerische Auseinandersetzung mit Orten und Regionen übertragen, die er auf ausgedehnten Reisen nach Südeuropa, Nordafrika, in die USA und nach Mittel- und Südamerika besucht hat. Dabei ging es ihm nicht um topographisch exakte Landschaftsschilderungen, sondern um autonome bildnerische Hervorbringungen, die analog zur Natur entstehen und das Ergebnis eines Einfühlungsprozesses in ihre Gesetzmäßigkeiten und Strukturprinzipien darstellen: Dazu noch einmal Sprotte: »Ich habe mit meiner Malweise nicht nach der Natur, sondern wie die Natur zu arbeiten versucht, im Sinne der permanenten Variation, die neue Variationen ermöglicht.« Dies bezieht sich auf einen recht überschaubaren Motivhaushalt wie das Meer, den Strand, die Brandung, Dünen, Berge und Pflanzen – Motive, die immer aufs Neue durchdekliniert werden. Sprottes Verständnis des Verhältnisses von Kunst und Natur lässt an einen der großen Meister des 20. Jahrhunderts denken, nämlich an Paul Klee, der die Beziehung des Künstlers zur Natur folgendermaßen charakterisiert hat: »Die Zwiesprache mit der Natur bleibt für den Künstler conditio sine qua non. Der Künstler ist Mensch, selber Natur und ein Stück Natur im Raume der Natur.« Beide, der Künstler und sein Gegenstand, seien Teil derselben natürlichen irdischen Schöpfung, beiden gemeinsam sei ihre »irdische Verwurzelung« und zugleich ihre »kosmische Verbundenheit«. Diese Gemeinsamkeit ermögliche eine Synthese »von äußerem Sehen und innerem Schauen« und gestatte es dem Künstler, über die Oberflächenwahrnehmung hinaus den Gegenstand nicht bloß abbildend zu erfassen, sondern ihn schöpfungsanalog neu entstehen zu lassen. Das lässt sich umstandslos auch auf Sprotte münzen, der im Lauf der Jahre den Prozess der bildnerischen Materialisation mehr und mehr verknappte und dabei zum sogenannten korrekturlosen Malen gelangte. Vergleichbar den ostasiatischen Tuschmalern setzte er die Linien, Formen und Farben bei höchster geistiger Konzentration ohne Vorzeichnung spontan auf die Bildfläche, ohne danach etwas zu verändern. Diesen Landschaften ist ein Abstraktionsgrad zu eigen, der das Spezifische eines Ortes – sei es zu Hause, sei es auf Reisen – in der Dimension des Allgemeingültigen aufgehen lässt. Das bedeutet, dass sich eine in Ölfarben gemalte »Nordseelandschaft« mit rotglühendem Sonnenball (mit dem für Sprotte fast zum Markenzeichen gewordenen Motiv der Welle oder Woge) und ein aquarellierter Sonnenaufgang in der Karibik kaum oder nur graduell voneinander unterscheiden. Anders verhält es sich dort, wo bestimmte Pflanzen, z.B. Palmen, unmissverständlich vom Süden künden (»Alpen und Palmen«, 1953), oder wo landestypische architektonische Strukturen auf Nordafrika verweisen, wie etwa in dem Aquarell »Hammamet« von 1981.
Natürlich diente dem Künstler das auf Reisen Gesehene immer wieder als Quelle der Inspiration, doch war ihm die »örtliche Zuordnung seiner Darstellungen« nie sonderlich wichtig, wie Diana Lenz-Weber, die Kuratorin und stellvertretende Direktorin des Museums, in ihrem gleichermaßen informativen wie einfühlsamen Katalogtext bemerkt. So konnte es sein, dass er unterwegs Bilder von Sylt malte, wie ihn umgekehrt zu Hause Eindrücke von seinen Reisen zu neuen Bildern anregen konnten. Insofern ist die Ausstellung in Hamm nur bedingt eine Ausstellung von Reisebildern, und ihr die Dialektik von Reisen und Bleiben andeutender Titel könnte nicht treffender gewählt sein.