Buchrezensionen

Strauß-Seeber, Christine: Der Nil. Lebensader des alten Ägypten, Hirmer Verlag, München 2007.

Es ist wohl kaum ein Satz denkbar, der so präzise und bündig das Wesen eines Landes, ja, einer ganzen Kultur auf den Punkt bringt wie jener, den Herodot im 5. Jahrhundert vor Christus im 2. Buch seiner Historien schrieb: »Ägypten ist ein Geschenk des Nils«.

Denn mit dieser Einsicht brachte der griechische Geschichtsschreiber das Geheimnis der Frühen Hochkultur ebenso auf den Punkt wie das Wesen des heutigen bevölkerungsreichsten Landes im Nahen Osten. Denn Ägypten ist in solch einem Maße das sprichwörtliche »Land am Nil« wie keine der anderen frühen Hochkulturen, die ebenfalls Flussoasen des fruchtbaren Halbmonds und somit von regelmäßigen Überschwemmungen abhängig waren.

Mit 79 Millionen Einwohnern besitzt die heutige Arabische Republik Ägypten auf einer dreimal so großen Fläche in etwa gleich viele Menschen wie die Bundesrepublik Deutschland; allerdings drängen sich diese auf einer Siedlungsfläche, die kaum größer als das Land Baden-Württemberg ist. Denn heute wie vor Jahrtausenden ist eigentlich nur jener Teil der Wüste Lebensgrundlage, der mit dem Wasser des Nil in Berührung gekommen ist.

Der Nil ist nicht nur die viel beschworene »Lebensader«, der Haupttransportweg, das Rückgrat des Landes. Er ist mehr als das. Er ist konstitutiv geworden für die ganze pharaonische Kultur. Er teilt das Land ein in Ober- und Unterägypten, er stiftet die symbolische Vereinigung in der symbolischen Verschlingung von Lotos und Papyrus, die so häufig an den Thronwangen der Pharaonen anzutreffen ist. Er bildet auch die scharfe Trennlinie zwischen dem Land im Osten und dem im Westen, die symbolisch für Diesseits und Jenseits, Leben und Tod, Tempel- und Grabbezirke stehen. Die alljährliche Nilschwelle gibt den Rhythmus an, in dessen Takt sich das Leben der Menschen abspielt. Mithin lässt sich der ganze mythologische Dualismus, der sich in den ungleichen Brüdern Osiris und Seth, dem zerstückelten Leib und seiner Wiederauferstehung, manifestiert, vom Strom ableiten. Und dieses dualistische Weltbild wiederum ist ja nur der Ausgangspunkt für jene alle Gegensätze wunderbar überwölbende Jenseitstheologie, die in immer neuen Formgestalten um zyklische Regeneration und Überwindung des Todes kreist.

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Deshalb ist es nur zu folgerichtig, dass die Münchner Ägyptologin Christine Strauß- Seeber das Buch so angelegt hat, dass sich Geographisches und Kulturhistorisches, Gegenwart und Geschichte immer wieder gegenseitig durchdringen. Die wie stets ausnahmslos vorzüglichen Abbildungen sind bunt gemischt: Kunstwerke (welche sich natürlich auch in etlichen anderen Ägyptenbänden finden lassen) sind neben historischen Fotografien und schönen Ansichten aus heutigen Tagen zu finden. Und plötzlich verwischt sich der Eindruck und die detailfreudigen Szenen aus dem Grab des Herrn Ti in Sakkara oder von der Flachsernte im Grab des Sennedjem, die anatomisch absolut präzis in Stein gehauenen Fischarten oder die berühmten Gänse aus dem Meidum-Grab von Nefermaat und Itet aus den Anfängen des Alten Reichs verschmelzen mit den Landschaftsfotos der Gegenwart. Es entsteht – wie es auch dem heutigen Reisenden zuweilen noch geht – ein einziger mythischer Zeitraum, als sei jede Vergangenheit gegenwärtig.

Die Verfasserin lässt den schönen Bildband mit dem nun 4000 Jahre alten Hymnus an den Nilgott Hapi beginnen. Dieser wurde bezeichnenderweise als Mann mit dickem Schmerbauch und zwei nährenden weiblichen Brüsten dargestellt. Es folgt eine lose Kapitelfolge, die zunächst die klimatischen und geographischen Gegebenheiten respektiert und in der immer wieder aufs Neue augenscheinlich wird, dass der »große Fluss«, wie die Hieroglyphen den Nil einfach bezeichnen, für alle erdenklichen Gesichtspunkte der ägyptischen Kultur der Dreh- und Angelpunkt ist: Sein Schlamm war nicht nur Dünger für den Überfluss der ersten Vorratswirtschaft, von denen die Josephs- Geschichte der Genesis so anschaulich erzählt. Er war auch Baustoff für die Häuser, Gleitmittel für die Schlitten, auf denen die gewaltigen Steinblöcke bewegt wurden; er war der Ton für die Vorratskrüge und der Malgrund vieler Grabwände. Ganze Ketten führen immer wieder auf dieses Axiom zurück: Ohne Nil keine Überschwemmungen, also keine Bewässerung und keine fruchtbaren Schlammablagerungen; die Abhängigkeit vom jährlichen Turnus war wiederum der Anstoß für die Entdeckung des Kalenders; dieser wiederum wäre nicht ohne die Beobachtung der Gestirne, insbesondere des Siriusaufgangs Ende Juni, zustande gekommen; nach der Flut (in der Schöpfungstheologie das Auftauchen des Urhügels aus den Fluten des Nun) beginnt das neue Jahr mit der geometrischen Vermessung und Zuteilung der Felder; Verwaltung, Spezialisierung und arbeitsteilige Hierarchisierung wiederum wären nicht denkbar ohne Schrift, und die ist angewiesen auf das »Papier«. (Übrigens ist die etymologische Wurzel von »Papier« bzw. »Papyrus« ein monopolistischer Rechtsanspruch: »Es gehört ausschließlich dem Pharao«!)

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Das faszinierende, uns Heutigen immer fremder werdende Paradox besteht ja darin, dass nahezu alles, was wir vom Leben und Alltag im alten Ägypten wissen, aus Gräbern stammt. Wer sich von der Gegenwärtigkeit des Vergangenen, in immer neuen Aspekten vom altägyptischen Denken oder einfach nur von der Schönheit dieses Lebens am Fluss ein Bild machen will, dem sei, auch als interessierter Laie und Nilkreuzfahrer, der Bildband empfohlen.

 

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