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Street Art – Ästhetik und urbane Kommunikation. Schablonengraffiti

Wenn man durch die Straßen größerer Städte schlendert, fallen dem aufmerksamen Betrachter inzwischen nicht nur die bunten Graffiti Tags, Styles und Bombings ins Auge, sondern auch unzählige Schablonenbilder – „Stencils“ oder auch „Pochoirs“ genannt. Die europäische Street Art hat augenscheinlich wieder zu ihren Wurzeln gefunden, denn die Schablonenkunst hat bereits eine lange Tradition.

 Historischer Rückblick


Schon in der Höhlenmalerei wurde die Schablone entdeckt, die somit zu den frühesten Techniken figurativer Darstellung zählt. Später haben die alten Ägypter Schablonen aus Leder und Papyrus angefertigt, um die Pyramiden zu gestalten. Auch die Chinesen verwendeten Schablonen und verzierten Seide mit buddhistischen Figuren und Ornamenten. Diese Methode wurde schließlich ebenfalls in Europa populär und diente im Mittelalter dazu, Kirchen, Möbel, Textilien oder Tapeten zu bemalen.

Während der Art Nouveau und Art Deco lebte die Pochoir-Technik in Frankreich erneut auf, um Drucke und Poster in limitierter Auflage herzustellen. Dieser anfangs sehr kostspielige und arbeitsintensive Prozess wurde immer weiter ausgearbeitet, bis er sich schließlich ab den dreißiger Jahren zur Massenproduktion eignete. In den späten fünfziger und sechziger Jahren haben amerikanische Künstler wie Robert Rauschenberg und Andy Warhol neue Drucktechniken und visuelle Ideen hervorgebracht, die wichtigen Einfluss auf Kunst und Design hatten.

Anfang der achtziger Jahre entwickelte der Künstler BLEK LE RAT in Paris seine ersten Schablonen und verband so verschiedene Elemente des Graffitis, des Siebdrucks und der Protest-Kunst. Er war einer der ersten Sprüher, der Häuserwände als Ausstellungsort für seine Kunst auswählte und auf diese Art und Weise gleichzeitig ein wichtiges Statement von sich gab. Seine Ratten-Bilder stellten sowohl eine kritische Auseinandersetzung mit dem Ort der Präsentation als auch mit der Zensur der klassischen Kunst-Galerien und  Museen dar. Bleks Schablonenbildnisse waren derzeit sehr beliebt, da sie den Betrachter in das Kunstwerk einbezogen. Häufig zeichnete er die Bewohner eines Ortes, um sie anschließend als Pochoir zu verewigen. Was die Anwohner am meisten frappierte, waren die Echtheit und die glaubhafte Platzierung der Bilder.

Schablonengraffiti machte die Kunstwerke Einzelner nicht nur auf einfache Art und Weise reproduzierbar, sondern ließ ebenfalls eine einprägende Präsenz und große Freude am Kommunizieren entstehen. Auch das serielle Element des Pochoirs übte auf viele eine große Faszination aus. Immer mehr Künstler nahmen an dieser Form des ästhetischen Projizierens teil, so dass das Pariser Stadtbild in den Jahren 1984 bis 1987 in starkem Maße geprägt wurde. Kein Bild ist genau wie das andere - jeder Untergrund und jede räumliche Situation lässt aus der gleichen Schablone ein individuell unterschiedliches Kunstwerk entstehen. Schließlich überfiel die „Pochoir-Welle“ ganz Europa, bis sie plötzlich so schnell verebbte wie sie gekommen war. Durch die sich seit Ende der achtziger Jahre immer mehr durchsetzende Graffiti-Bewegung aus den USA, bei der die Sprüher in jeden Winkel der Stadt ihren Tag, ihren Kürzel, setzen, wurde das Pochoir schnell verdrängt.

Graffiti hat bereits seit vielen Jahren Hochkonjunktur – es ist zur Modeerscheinung verkommen. Kaum ein Begriff wurde von der Bekleidungsindustrie bis zum Süßigkeitenhersteller in solch starkem Maße vermarktet, inzwischen sind sogar mit Graffitis bemalte Spielzeugeisenbahnen erhältlich. In jeder etwas größeren Stadt lässt sich alles beschaffen, was das Graffiti-Herz begehrt: von Handschuhen über Gasmasken bis hin zu den entsprechenden Farbdosen. Auch wenn Graffiti als Jugendkultur von vielen eher beschimpft als angesehen wird, gibt es dennoch einige Meister der Sprühdosen, die bereits lange in den Kunstmarkt integriert sind. Künstler wie Jean-Michel Basquiat oder Jean Dubuffet haben sich, auch wenn sie selbst nicht auf der Straße aktiv waren, von der Street Art inspirieren lassen. Sprayer wie Harald Naegli, Keith Haring oder Thomas Baumgärtel haben sich in der Welt der Galerien und Museen schon lange etabliert. Viele Verfechter der Pochoir-Technik haben die Ideen von Dada und Pop Art übernommen und sind der Meinung, dass Images aus der Popkultur oder Alltagsgegenstände Kunst sein können. Andere bilden Comichelden, Musikerlegenden oder andere Kultfiguren ab.

 

„The Live Issue“: Graffiti-Ausstellung in Berlin


Es gibt viele Berichte und Dokumentationen, die von sich behaupten, einen Überblick über die Graffiti-Szene zu geben. Aber kaum jemand zeigt die Vielfältigkeit auf, die diese Kunstform prägt. Die Pochoir-Technik wird oft vergessen, obwohl sie in den letzten Jahren eine Renaissance erlebt hat. Besonders gut machte dies die vom Graffiti Magazin „Backjumps“ organisierte Ausstellung „The Live Issue“ deutlich. Sie fand vom 23. August bis zum 5. Oktober 2003 im Berliner Kunstraum Kreuzberg/Bethanien zum Thema “Urbane Kommunikation und Ästhetik” statt und zeigte Werke nicht nur in den Ausstellungsräumen, sondern auch draußen im Park. Die Künstler waren zu diesem Zweck aus der ganzen Welt angereist: OBEY aus Los Angeles, Banksy aus London, LOST ART aus São Paulo und Jay1/BBC aus Paris - um nur einige zu nennen. Außergewöhnlich war, dass auch illegal sprühende Künstler vor Ort waren, die sich bei der Ausstellungseröffnung inkognito unter die Besucher gemischt haben. Das Projekt sollte die Weiterentwicklung und die interdisziplinären Schnittstellen von Street Art, Aerosol-Kultur und HipHop als kulturelle Erscheinung reflektieren. Initiator der Ausstellung war Adrian Nabi, der seit 1994 ein internationales Netzwerk von Künstlern und Aktivisten um das von ihm gegründete „Backjumps“-Magazin aufgebaut hat.
 

Illegale Schablonenkunst: Rebellion und Anarchie?


Stencils werden oft als eine Methode benutzt, um ohne großen Aufwand Zeichen zu setzen. Schablonen müssen klar und deutlich sein: Pfeile, die Richtungen anweisen oder einfache Botschaften in einzelnen Worten. Worte werden bemerkt, weil sie Informationen enthalten, sie verbieten etwas, informieren und leiten uns. Wenn sie für offizielle Hinweise verwendet werden, scheinen schablonierte Texte eine präzise, fast militärische Autorität zu haben, die sich mit der Straßenarchitektur vermischt.

Der illegal sprühende britische Künstler Banksy macht mit seiner Kunst an öffentlichen Plätzen Aussagen, die die offiziellen Nachrichten der Stadtverwaltung und der Behörden parodieren. Dazu zählen die Statements: „This Wall is a Designated Graffiti Area“ oder „This is not a photo opportunity“. In England ist er durch seine rebellischen Stencils bereits berühmt und berüchtigt. Das Pinguin-Gehege im Londoner Zoo versah er bereits in einer halsbrecherischen Aktion mit der Aufschrift „We´re bored of fish“ und „Keeper stinks“. In der Nacht, bevor der Turner Prize vergeben wurde, besprühte er jede einzelne Stufe der Tate-Gallery mit dem Ausruf „Mind the crap“, der in etwas abgewandelter Weise jedem, der schon mal mit der Londoner U-Bahn unterwegs war, bestens bekannt sein dürfte. Auch die Bildnisse  von traurigen Affen, die ein Schild mit der Aussage „Laugh now, but one day we will be in charge“ um den Hals hängen haben, waren in der Berliner Ausstellung zu sehen.

Stencils haben eine lange Verbindung zu Rebellion, Punk und Anarchie. Während der politischen Protestbewegungen der sechziger und siebziger Jahre wurden häufig Schablonen verwendet, da diese günstiger und haltbarer waren als Poster. Protest-Schablonen sind meist scharf und eindringlich, mit typischen, auffälligen roten oder schwarzen Buchstaben und starker ikonischer Metaphorik. Gute Beispiele sind hier die Schablonen-Poster von OBEY/GIANT.

Neben den Pochoirs wurden auch andere Arten des Graffitis gezeigt, dreidimensionale virtuelle Formen auf Computermonitoren oder Fotos von riesigen, mit schwarzer und weißer Farbe bemalten Häuserfronten des New Yorker Künstlers WK Interact. Insgesamt spielten Medien wie Video oder Fotografie in der Ausstellung im Berliner Kunstraum Kreuzberg/Bethanien eine große Rolle, was deren große Bedeutung für die Graffiti-Kunst aufgreift und verdeutlicht. Denn Graffitis sind ephemer und somit keine Kunst für die Ewigkeit - ob Pochoir, Tags oder politische Parole - ob auf Zügen, Häuserwänden oder Autobahnbrücken, sie werden oft (viel zu) schnell entfernt, übersprüht, übermalt oder mit Plakaten überklebt. Andere verbleichen im natürlichen Alterungsprozess: Graffiti ist eine lebendige Kunst.

Die Pochoirs treten bescheiden und unspektakulär auf. Obwohl auch sie in aller Regel ohne Genehmigung angebracht werden, liegt hier jeder Gedanke an Vandalismus oder Sachbeschädigung fern. Pochoiristen wollen das Stadtbild mit Bildern bereichern und beleben. Nicht selten handelt es sich um Menschen, die sich intensiv mit Architektur und Kunst auseinandersetzen. Viele haben Kunst oder Graphik studiert, Erfahrungswerte, die man den Pochoirs anmerkt. Schablonengraffitis lösen im Gegensatz zu Signaturengraffitis nur selten Aggressionen aus. Sie gefallen in der Regel den Betrachtern. In Köln beispielsweise wurden die Bananen von Thomas Baumgärtel oft bei Renovierungen geschont und nicht übermalt. Trotzdem bleiben Pochoirs kleine, flüchtige Gesten.

 

Eine „Message vermitteln“- reclaim the streets!


Der Pochoirist sprüht nicht irgendein Motiv. Überlegt wählt er sein Pochoir, bewusst integriert er seine Botschaft in den öffentlichen Raum. Als öffentliche Zeichen sieht man Stencils gut platziert an strategisch wichtigen Punkten der Stadt. Schablonenzeichen sind eine Kunstform in sich selbst, mit einer eigenen graphischen Sprache und einem eigenen Übereinkommen von Farbe, Form, Design und Typographie. Sie sind außerdem spezifisch für die städtische Architektur, Kultur und ihr Design. Großstädte strotzen nur so vor Leuchtschriften, Plakaten und Reklametafeln, die um unsere Aufmerksamkeit kämpfen. Sie provozieren geradezu, ihnen eine Antwort entgegen zu schreien. Mit Graffiti ist dieses möglich. Die Künstler nehmen Sprühdosen und Schablonen und benutzen die Straße als riesiges kreatives Forum für ihre Kunst. „The image“, sagt OBEY aus San Diego, „is integrated with the texture of the street. The graffiti artists are breathing life into derelict spaces.”

Die Straße ist eine kraftvolle und einmalige Plattform, auf der sich Künstler selbst verwirklichen und ihre persönlichen Visionen auf gleicher Ebene wie offizielle Botschaften direkt an die Gesellschaft wenden können. Keine andere Kunstform nimmt so starken Einfluss auf unser tägliches Leben, benutzt unseren städtischen Platz als Oberfläche.

Street Art inspiriert Künstler jeglicher Gattungen. Stencils sieht man nicht nur auf der Straße, sondern auch auf Ölbildern, Metallskulpturen, T-Shirts, Textilien, Papier oder in der digitalen Welt. Als Schablonen dienen Poster, Aufkleber, Collagen und Freihand-Zeichnungen, die mit Sprühdosen oder anderer Farbe, in allen erdenklichen kreativen Richtungen verwendet werden.

Es gibt eine neue Welle internationaler Künstler, die die Möglichkeiten dieses Mediums entdecken und ausweiten. Die Pochoir-Technik ist stark an Formen und Ideen orientiert, sie vermittelt mit Humor und Ironie wichtige, durchdachte und provokante Nachrichten zur heutigen Gesellschaft. Wände sind experimentelle, unzensierte und kooperative Flächen: „Writing graffiti is about the most honest way you can be an artist. It takes no money to do it, you don´t need an education to understand it and there´s no admission fee.” (Banksy)

Die Themen reichen von politisch bis poetisch, von ehrlich bis kurios, Schablonengraffiti sind eine graphische Innovation auf internationaler Ebene und wichtig für jeden, der den globalen Nerv städtischer Kultur spüren will.

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