Reiseberichte

Vivan los Murales!

In Lateinamerika gibt es sie wirklich überall: „Murales“ sind von Mexiko bis Chile und Argentinien die wohl populärste Kunstform. Sie finden sich an Gebäuden und öffentlichen Plätzen, begleiten Straßen oder zieren den Eingang von Krankenhäusern und Schulen und prägen so das Bild der Städte. Stefan Diebitz ist im argentinischen Catamarca der Murales-Spezialistin Susana Maltese begegnet.

Catamarca , Murales © Foto: Stefan Diebitz Catamarca, El grito del silencio © Foto: Stefan Diebitz Catamarca, Huayra Tawa © Foto: Stefan Diebitz Catamarca , Mural de los Artes © Foto: Stefan Diebitz
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Vom Paseo de General Navarro kann man sowohl die Ambato- als auch die Ancastiberge sehen, die das Tal der argentinischen Stadt San Fernando de Valle de Catamarca nach Westen und Osten begrenzen. Es sieht hier aus wie überall in der turbulenten und sehr lauten Universitätsstadt, die gleichzeitig die Hauptstadt der Provinz Catamarca ist. Vor allem die riesige Anzahl der in der glühenden Sonne dösenden Straßenköter erschreckt den Europäer, aber diese Hunde sind allemal harmlos und rennen davon, den Schwanz eingeklemmt, wenn man auch nur in die Hände klatscht. Sorgen sollte man sich dagegen beim Überqueren der Straße machen, denn um Verkehrsregeln kümmert sich hier niemand, am wenigsten die herumlungernde Polizei, deren Funktion noch nicht erforscht werden konnte.

Erwähnt werden wollen noch die mächtigen Eukalyptusbäume, die den Platz beschatten, und die bizarren Gewächse mit dem kürbisförmigen Stamm, die sich Palo borracho nennen. Ihr in der Mitte angeschwollener Körper dient diesen Bäumen als Wasserspeicher, worauf sich ihr Name bezieht: »borracho« bedeutet betrunken. Sie umstehen einen ansonsten nur mäßig schönen Platz mit einem ockerfarbenen Bau in der Mitte. Es überrascht nicht, dass er aus Beton ist, denn Wald gibt es hier nicht, so dass Holz als Baustoff eher selten vorkommt. Neben Beton und einem hellroten Ziegelstein, der als effektiver Wärmespeicher in dieser heißen Gegend ganz unpassend sein muss, finden sich immer wieder runde Natursteine an den Fassaden, die manchmal in Bonbonfarben, manchmal aber auch grell und viel zu selten im traditionellen Weiß bemalt sind.

Die zahlreichen Monumente an Straßenkreuzungen und auf den Eingängen von Plätzen sind immer aus Beton. Zunächst erinnern sie, ähnlich wie die manchmal riesigen Busbahnhöfe, an Osteuropa, aber man braucht nur ein wenig näher hinzuschauen, um die Unterschiede zu bemerken. Schon die Farben – hier sind es meist Erdfarben, gerne Ocker oder ein dunkles oder braunes Rot – sind sehr typisch. Dazu finden sich zahlreiche indigene Ornamente, etwa Zickzacklinien oder sich aneinander reihende Rechtecke, die auch auf Kleidung auftauchen, auf Ledergürteln, Ponchos oder T-Shirts. Die Figuren wirken exotisch und fremd mit dunklen mageren Gesichtern, hohen Wangenknochen und geschlitzten Augen. Es sind fast immer Motive der Anden, die auf den Monumenten in Catamarca auftauchen, und in einem großen Teil der Bevölkerung fließt ja wirklich indianisches Blut.

Eine Ausnahme ist das anonyme Bild an einer Straßenecke in der Nähe der Universität, das mit der Auflistung einiger weniger Opfer und seinem Titel (»El grito del silencio« bedeutet »Der Schrei des Schweigens«) auf den Terror der Militärherrschaft von 1976 – 1983 abzielt.

Ebenfalls typisch für Catamarca ist eine sehr große Halle für Maschinen im Besitz der Stadt, deren Seitenwände die Stadtverwaltung in einem Wettbewerb von einheimischen wie auswärtigen Künstlern schmücken ließ. Eine schöne Idee, denn man passiert jetzt eine Galerie von Murales – ohne allerdings die einzelnen Arbeiten wirklich würdigen zu können. Sie werden nämlich von Bäumen verdeckt, deren Zweige die Wand manchmal sogar berühren, und auch um die Flächen zwischen den Murales hat man sich nicht gekümmert – es wurde wohl irgendwann einmal die Wand mit einem Eimer weiße Farbe getüncht, aber sie blieb unverputzt, und auf dem bloßen Ziegelstein konnte die Farbe nicht lange halten. So ist die Galerie, die sich an einer vielbefahrenen Straße entlangzieht, keineswegs der Augenschmaus, der sie sein könnte. Meist werden die Bilder und Reliefs nicht einmal wahrgenommen, und auch ich selbst bin lange daran vorbeigegangen, bevor ich sie mir das erste Mal näher anschaute.

Hier zeigt sich, dass es es ganz gegensätzliche Haltungen sind, die Europa und Argentinien zur bildenden Kunst unserer Tage einnehmen. Bei uns werden Bilder, Skulpturen oder Installationen in den geschützten Räumen eines Museums oder einer Galerie einem kleinen Publikum vorgeführt. Und auch später werden sie behütet und gepflegt; kaum ein Werk, gleich welcher Qualität, das in Gefahr wäre, zu verkommen, zu verschmutzen oder gar zu zerbröseln. Was im Museum nicht mehr gezeigt wird, landet immer noch gut geschützt im Keller und wird die Zeiten überleben. Die Künstler (jedenfalls die wenigen, die wirklich ins Museum kommen) werden gut bezahlt, aber dafür werden ihre Arbeiten nur von einer kleinen, manchmal gar winzigen Minderheit zur Kenntnis genommen. Ein großer Teil der Bevölkerung lehnt moderne Kunst als Quatsch, »subjektiv« oder »Selbstverwirklichung« ab und hat eine echte Chance, ihr niemals zu begegnen, um seine Vorurteile auf die Probe zu stellen.

Die Situation in Argentinien, aber auch in vielen anderen Ländern Lateinamerikas ist eine ganz andere. Murales werden nicht versteckt, sondern finden sich in der Öffentlichkeit, und oft genug besitzen die Künstler sogar echten Ruhm, und ihre Werke kennt jeder. Der Mexikaner Diego Riviera (1886 – 1957) schuf als König der Murales spektakuläre Werke und gewann damit große Popularität, die bis nach Europa reicht, und ebenfalls sehr erfolgreich war sein Landsmann Jorge González Camarena (1908 – 1980), von dem sich heute ein dreihundert Meter langes Mural im uruguayischen Montevideo findet. Und auch die Murales in Catamarca werden wahrgenommen; wenn ich jemanden auf das Mural von Susana Maltese ansprach, wußte er fast immer Bescheid, kannte es, ja hatte es sich genau angeschaut.

Diese Bedeutung der Kunst in der Öffentlichkeit sollte eigentlich erwarten lassen, dass sich die Gemeinde oder auch nur die Nachbarn um die Werke kümmern, dass sie geschätzt, beschützt und gepflegt werden. Geschieht das? Leider überhaupt nicht. Im Gegenteil, man lässt vieles einfach verkommen. Da ist etwa der Park und Spielplatz »Huayra Tawa« (»Vier Winde« in Quechua, der Sprache der Indianer), den ich im Schein der Abendsonne besuchte, weil sich am westlichen Eingang eine Arbeit von Susana Maltese befindet, über die ich tags zuvor mit ihr gesprochen hatte. Nicht allein, dass viele Pflanzen eingegangen waren (Catamarca liegt in einer extrem trockenen, fast wüstenhaften Gegend), sondern die Skulpturen waren auch beschmiert, und dazu glitzerte es verdächtig im Schein der tiefstehenden Sonne: Glas! Überall fanden sich Glassplitter! Der ganze Boden war dicht bedeckt… Dazu trieb der Wind Plastiktüten vor sich her, bis sie sich im Unkraut verfingen und das fahle Grün weiß sprenkelten. Kurz, der Park war ganz kurze Zeit nach seiner Errichtung schon fast zerstört. Weder kann man hier Kinder spielen lassen, noch hat man Freude an den Skulpturen.

Auf dem kleinen Platz vor dem Kulturzentrum an der Flanke des Paseo de General Navarro ist die Situation eine ganz andere, denn hier befindet sich alles in einem guten Zustand, und das schöne, durchdachte und sehr sauber gearbeitete Relief Susana Malteses kommt hier so zur Geltung, wie es die Arbeit verdient. Susana, die sich selbst als Spezialistin für Reliefs betrachtet, hat es zusammen mit ihrem Freund, dem Architekten Marcelo Breppe, in unfassbaren 68 Tagen und vor allem Nächten im Schein starker Scheinwerfer aufgetragen. Es lohnt sich, sich näher mit diesem Relief zu beschäftigen, weil es einen großen Reichtum an Bedeutungen offenbart.

Spontan ist an diesem Relief nicht viel. Zu Beginn der Arbeiten gab es detaillierte Skizzen und Entwürfe, die aber im Lauf der Entstehung abgeändert und erweitert wurden – das gilt besonders für den Mittelteil des Reliefs. Marcelo verputzte die Wand (in Argentinien müssen auch Architekten die Technik des Maurers erlernen), und er stellte die teigartige Zementmischung her, die Susana mit löffelartigen Instrumenten in Form brachte. Marcelo betont die geistige Urheberschaft Susanas, und Susana hebt ihrerseits den Anteil ihres Freundes hervor. Wer den begeisterungsfähigen, immer gut gelaunten und dazu sehr fleißigen Marcelo kennt, glaubt ihr gerne, dass es ihr ohne ihn schwer gefallen wäre, eine derart große und anspruchsvolle Arbeit auf diesem hohen Niveau zu beenden. Ins Auge fällt auf jeden Fall die große Solidität des Untergrunds – der Zustand mancher Murales ist nach einer Weile eher traurig, weil der Putz bröckelt, aber die Aussichten für Susanas Arbeit sind sehr gut.

Das sehr große Mural – 250 mal 590 Zentimeter – ist deshalb so interessant, weil es in zweierlei Hinsicht eine Synthese darstellt. Zunächst eine der Künste (»Mural de los artes« lautet der Titel), sodann eine Verbindung von europäisch geprägter und indigener Kunst.

Um mit der Mitte zu beginnen, so ist diese der indigenen Kunst gewidmet. Das Niveau des Reliefs ist hier am tiefsten, und es ist die einzige Partie, die als Fresco mit Ferrite gemalt wurde, einem eisenhaltigen und später also oxydierenden Pulver. Die Urnen (»basijas«) wie die Sonne und das nicht religiös gemeinte Kreuz knüpfen an die indigene Kunst der Anden an, die in Catamarca ganz nah sind. Auch der Flötenspieler ist eine Referenz an die Kunst der Anden.

Das Mural ist die Arbeit einer Catamarqueña, und sie demonstriert dies mit der roten und gelben Fahne ihrer Heimatstadt, die sich von rechts nach links zieht, um schließlich von einer Hand der Kraft und Stärke (»el mano poder«) gefasst zu werden. Die Stärke der Hand ist natürlich nicht politisch gemeint; Susana selbst denkt bei ihrem Anblick an die anonyme Verwaltung der Künste, und ihrer Anonymität und Auswechselbarkeit wegen fehlt in diesem Fall auch das Gesicht. Ganz rechts sieht man als Vertreter der Musik Luis Torres, den Gitarristen, und daneben Maestro Castellanos mit dem Bandoneon, dem argentinischen Nationalinstrument. Luis Franco, ein Autor aus Belén, repräsentiert die Literatur. Und endlich sieht man weiter links eine Tänzerin, deren Äußeres an die Künstlerin selbst erinnert, sowie die Maske, die natürlich das Theater repräsentiert. Malerei und Skulptur wurden nicht extra abgebildet. Sie stellen sich in Susanas Arbeit selbst dar.

Wäre in Deutschland eine derart heimatverbundene Kunst als die Arbeit einer modernen Künstlerin denkbar? Überspitzt könnte man sagen, dass sich in Europa ein jeder Künstler seine eigene Nische sucht, in Südamerika aber viele aus der Mitte der Gesellschaft heraus agieren und auch eher als besonders qualifizierte Handwerker angesehen und geschätzt werden. Bei und für uns wäre ein Konzept, bei dem sich ein Künstler unserer Tage auf Volkskunst beruft, verdächtig (immer noch eine Folge des tausendjährigen Reiches).Für eine argentinische Künstlerin ist es eine Selbstverständlichkeit, sich von der Kunst der Anden inspirieren zu lassen.

Die Sonne etwa ist in der Mitte des Reliefs ein solches indianisches Motiv. Ähnliches gilt für die Farbgebung, die sehr irdisch, sehr erdverbunden und sehr wenig künstlich ist; grelle bunte Farben wären hier kaum angebracht. Besonders diese Farben wirken auf mich argentinisch, und es ist vielleicht nicht falsch, von einem nationalen Stil zu sprechen. Natürlich gibt es auch eine moderne Kunst, die der unsrigen entspricht und in der jeder Künstler seinen Personalstil zu entwickeln und damit seine persönliche Nische zu finden versucht, aber es gibt eben auch etwas Argentinisches, das viele Künstler verbindet. Wenn ich das Mural ein erstes Mal sähe, ich würde sowohl wegen seiner Farben als auch wegen der Symbole sofort wenn nicht auf Argentinien, so doch wenigstens auf ein Andenland tippen.

Die hohe Qualität dieses Mural hatte für Susana Maltese eine sehr erfreuliche Konsequenz: Sie erhielt mehrere Anschlussaufträge, und außerdem hofft sie, von der Gemeinde zur Beauftragten für den Schutz und die Pflege der Murales ernannt zu werden. Das gäbe finanzielle Sicherheit, aber ebenso wichtig wäre es, die nahebei gelegene, ziemlich verwahrloste Galerie an der Maschinenhalle in der Calle Mariano Moreno oder andere Murales vor einem viel zu frühen Verfall zu retten.

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