Rezensionen

2. Eine Reise ohne Ankunft. Der Schriftsteller Cees Nooteboom erkundet in einem großen Essay die Bildwelt seines Landsmanns Hieronymus Bosch

In diesen Tagen, genau genommen am 31. Juli 2023, wurde Cees Nooteboom 90 Jahre alt. Die seit Jahrzehnten gewachsene Freundschaft zwischen dem Dichter und dem Philosophen Rüdiger Safranski beruht von Anfang an auf gegenseitiger Hochachtung. «Wann um alles in der Welt hast du das nur alles gelesen?», entfuhr es einmal bewundernd dem Niederländer angesichts der stupenden Kenntnisse, die der deutsche Freund verriet. - «Nun, in der Zeit, in der du ständig rund um den Globus auf Reisen warst», konterte daraufhin Safranski schlagfertig.

Tatsächlich ist die Bildung Cees Nootebooms buchstäblich «er-fahren». Seine intellektuellen Erlebnisse verbinden sich mit der affektiven Eindrücklichkeit von Erlebnissen, Begegnungen und Schauplätzen. Und umgekehrt sind die auf allen Kontinenten förmlich eingesogenen Eindrücke von fremden Kulturen spürbar in seine Bücher eingegangen. Neben den Romanen, in denen beispielsweise immer wieder die Faszination Spaniens oder die Fremdheit der japanischen Geisteswelt eine entscheidende Rolle spielen, gilt das erst recht für Nootebooms Essays zur Bildenden Kunst.

Auch zu dem niederländischen Landsmann Hieronymus Bosch, der vor fünfhundert Jahren an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit wie kein anderer seine phantastischen Höllenwelten entwarf, führten ihn Reisen. Zunächst, noch zur Zeit der Franco-Diktatur, nach Madrid, dann nach Lissabon ins «Museu Nacional de Arte Antiga», wo das große Triptychon mit der «Versuchung des Heiligen Antonius» zu sehen ist. Dann wieder nach Madrid und natürlich, im Umkreis seiner niederländischen Heimat, nach Gent, Rotterdam und in das kleine Städtchen ’s-Hertogenbosch in Nord-Brabant. Hier wurde der Spross einer Malerdynastie geboren, hier verbrachte er sein unauffälliges Leben und hier schließlich starb er im Jahre 1516.

Nootebooms «Reisen zu Hieronymus Bosch» sind also immer auch zugleich biografische Erkundungsfahrten, die ihn um Jahrzehnte zurückführen. Als junger Tramper hatte es den 21-Jährigen aus den engen Grenzen seines Landes immer wieder hinausgeführt, zunächst in den Prado vor den «Heuwagen», vor ein Gemälde, das er dann einundsechzig Jahre später als Leihgabe im «Museum Boijmans Van Beuningen» wiedersah. Dabei erinnert er sich an den berühmten Satz des Heraklit, wonach niemand zweimal in denselben Fluss steigt. Kunstbegegnung wird ihm zum Prozess der Selbstvergewisserung. Er fragt sich, was seine Augen damals wohl erfasst haben mögen; und noch grundsätzlicher zweifelnd: «Was hat ein Schriftsteller aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert mit einem Maler aus dem fünfzehnten gemein? Sie stammen aus demselben Land, doch würden sie sich noch verstehen, falls sie miteinander sprechen könnten?» Dabei entwickelte der Maler wie der Schriftsteller, lange Zeit wohnhaft auf der Insel Menorca, eine besondere Affinität zur hispanischen Welt. - Nootebooms Art, Kunstwerke zu betrachten, ist nicht nur stets von jenem «Heimweh nach meinem früheren Ich» geprägt. Sich auf ein Gemälde einzulassen bedeutet jedes Mal eine existenzielle Erfahrung, die einerseits grundiert wird vom Bewusstsein der Vergänglichkeit, von der Frage nach der Identität einer Person und nach der Vulnerabilität allen Lebens; andererseits aber auch von der Historizität einer ästhetischen Art, die Welt zu betrachten.

Natürlich fußen Nootebooms Betrachtungen auf sorgfältiger Recherche. Sein Nomadentum ersetzte nicht die Lektüre, sondern begleitete diese. Er reiste nie wie ein Tourist, der schon morgen nicht mehr weiß, was ihm gestern die Reisebegleitung eilfertig vor Augen führte und übers Mikrophon ins Ohr träufelte. So kennt Nooteboom die gutsituierten Lebensumstände des Malers genau. Er weiß von seiner Heirat mit einer reichen Frau, seiner inneren Verhaftung im erlauchten Kreis der dortigen «Schwanen-Bruderschaft». Er hat auch die malerischen Wegbereiter in jene bizarre Nachtwelt von Monstern vor Augen und hat all die ungemein aufschlussreichen Deutungen heutiger Kunsthistoriker gelesen. - Wie sind aber die bürgerlich arrivierten Lebensumstände wirklich mit jenen überquellenden Details zusammenzubringen, die alle Laster und Lüste der Menschheit, alle erdenklichen Verheißungen des Paradieses und Schrecken der Hölle so verstörend auf Eichenholztafeln gebannt haben? Der Respekt des Dichters vor dem Oevre des Malers äußert sich im anhaltenden Staunen. Seine Annäherung an den Landsmann führt nicht dazu, dass die befremdliche Aura der faszinierenden Bildwelt verschwindet, sondern sich eher vergrößert. Nie gibt der Schriftsteller vor, den Schlüssel zum Geheimnis eines Werkes gefunden zu haben. Die verstörend aufdringliche Unmittelbarkeit der unübersehbaren Albtraumszenen wird immer wieder auf Distanz gerückt. Und doch, oder gerade deshalb, bleibt sie letztlich ein Rätsel: «Selten hat ein unsichtbar gewordener Mann so viel Sichtbares hinterlassen»(21).

Bewundernswert ist bei Nooteboom nicht zuletzt die uneitle, beiläufige und selbstverständliche Leichtigkeit im Ton, mit der sich der Schriftsteller in einen unschuldigen Betrachter versetzen kann und entwaffnend einfache Fragen aufwirft: Wie um alles in der Welt konnte man diese Heimsuchungen und Albträume als Altäre in Kirchen aufstellen? Was haben die aristokratischen Käufer der damaligen Zeit, ein mystisch veranlagter Philipp II. oder Heinrich III. von Nassau, vor den gemalten Schamlosigkeiten gefunden? Und was und wie nehmen die Touristenmassen aus China, Japan oder der arabischen Welt heute, im 21. Jahrhundert, die surreale Detailüberflutung wahr, sind sie doch absolut nicht bewandert in den Mysterien einer katholischen Vorstellungswelt, in welche Cees Nooteboom selbst als Klosterschüler von Franziskanern und Augustinern eingeführt wurde?

Die Gegenwart bleibt immer ein Störfaktor bei den erinnerten Reisen in die Vergangenheit. Die Situationen, in denen er vor Jahr und Tag vor den Gemälden stand, wechseln ab mit der genauen Beschreibung der gemalten Szenen, welche die Leser:in so tief in das imaginäre Reich eintauchen lassen, dass jede Rahmung vergessen wird. Schließlich wird aber doch jede geschlossene Vorstellung durchkreuzt, die sich ein Betrachter von Boschs Bildern machen könnte. Jegliches schnelle Einverständnis wird in Frage gestellt und auf der Fremdheit und komplexen Vermitteltheit beharrt. Denn mehr als 500 Jahre ist dieser Maler tot, und vieles aus seinem religiösen Verständniszusammenhang ist uns weitaus fremder geworden als Dantes Visionen in der «Divina comedia»; aber gleichzeitig erscheinen uns gerade die Gewalt- und Angstphantasien doch leider so beklemmend gegenwärtig, dass Nooteboom zu Recht seinem Essay den Untertitel «Eine düstere Vorahnung» gibt.
Die Reise zu Hieronymus Bosch, der übrigens nicht ein einziges Mal seine Heimat verlassen hat, endet mit keiner Ankunft, höchstens einer Annäherung. Davon zeugen nicht weniger als fünf «Postscripta», die an den Essay angehängt sind.
Vielleicht gilt dieser Vorbehalt einer zeitlichen Brechung nicht nur für Hieronymus Bosch und auch nicht nur für Cees Nooteboom. Er gilt für alle Kunstbetrachtungen. Sie sind immer wieder neu ansetzende Erkundungen des Sichtbaren: «Wer das Anschauen / nicht bricht / sieht nichts», heißt es rätselhaft in dem 1989 erschienen Gedicht «Das Gesicht des Auges».


Titel: Reisen zu Hieronymus Bosch. Eine düstere Vorahnung.
Autor:in: Cees Nooteboom
Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen
Verlag: Neuauflage des Verlags Schirmer/Mosel München 2023
80 Seiten, 67 Farbabbildungen
ISBN 978-3-8296-0746-9
Preis: € 29,80 €(Ö) 30,70 CHF 34,30

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