Rezensionen

Kunst und Literatur Hand in Hand. Neue Bücher zu einem programmatischen Schwerpunkt des Münchner Schirmer/Mosel-Verlages

Ein vielzitiertes Wort des französischen Dichters Victor Hugos lautet: »Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber es unmöglich ist, zu schweigen«.

Cover @ Schirmer/Mosel Verlag
Cover @ Schirmer/Mosel Verlag

Diese wunderbar paradoxe Einsicht notierte Hugo im Jahre 1864. Aus politischer Opposition gegen den Staatsstreich von »Napoléon le petit« war er ins Exil auf einer englischen Kanalinsel gegangen. Eigentlich meinte er nicht nur die Musik, sondern genauso die Dichtkunst. Denn der Anlass des Essays, in dem sich dieser Satz befindet, war der 300. Geburtstag von William Shakespeare. Hugo definierte damit sein eigenes Selbstverständnis und das der künstlerischen Leistung generell: Kunst jeglicher Art bewegt sich am Rande des Schweigens. Und die schier unerklärliche Leistung der Poesie besteht darin, dass sie mit Worten erfahrbar machen kann, was sich in Worten gemeinhin nicht fassen lässt.
Im intermediären Feld zwischen darstellender Kunst und Literatur bewegen sich programmatisch etliche Bücher, die der Münchner Kunstverlag Schirmer/Mosel seit nunmehr fast 50 Jahren verlegt. Namhafte Autoren haben das immer wieder unter Beweis gestellt: Cees Nooteboom mit seinen Annäherungen an Zubarán oder die japanische Kultur, Michael Krüger schrieb im letzten Jahr einen viel gefeierten Essay über sein lebenslang gewachsenes Verhältnis zum Engadiner Alpenmaler Giovanni Segantini.
Diese Bücher gehen allesamt von der Devise aus, dass ein subjektiver, poetischer Zugang zu Kunstwerken auf ganz eigene Weise unsere Erkenntnis und unser Wohlgefallen vermehren können. Weniger bekannt als das Dictum, wonach die Grenzen der Sprache die Grenzen meiner Welt bedeuten, ist in Ludwig Wittgensteins berühmten »Tractatus« der abgeleitete Satz 5.632: »Das Subjekt gehört nicht zur Welt, sondern es ist eine Grenze der Welt«. Von diesem Außenposten in der Randzone aus lassen sich Perspektiven gewinnen, die nicht immer wissenschaftlich allgemeingültig und objektivierbar sein mögen, aber gleichwohl sehr erhellend. Subjektivität als Voraussetzung für völlig neue, tiefere Einsichten, Seelenverwandtschaft als Produktivkraft. Denn Musik, Tanz, Literatur und Kunst sind weniger Geschwister, die sich eifersüchtig streiten, als unterschiedliche Weisen, die Ausdrucksmöglichkeiten zu erweitern und dem Menschen zu helfen, seine Sinne zu verfeinern und über sich hinauszuwachsen. Insbesondere die Zwiesprache zwischen Kunst und Poesie bereichert und inspiriert durch komplementäre Ergänzung. «Ut pictura poiesis» – Poesie ist (oder sei?) wie ein Gemälde - war bekanntlich schon die Devise des Horaz. Das Entzückt- und Ergriffensein vom Geheimnis der Schönheit ist eine entscheidende Bedingung für die kreative »zweite Schöpfung«. Der menschliche Geist ist keineswegs der Widersacher der Seele, und rationale Interpretationsmethoden sollten nicht gegen intuitive Zugänge ausgespielt werden. Beide Seiten haben vielmehr ihre Berechtigung. Dennoch ist etwas Tröstliches an der Einsicht des Frühromantikers Novalis »Die Poesie heilt die Wunden, die der Verstand schlägt. Sie besteht gerade aus entgegengesetzten Bestandteilen - aus erhebender Wahrheit und angenehmer Täuschung«. Walter Kayser hat sich gleich mehrere Neuerscheinungen angesehen, die mit solch poetischen Zugängen Kunst betrachten.

1. Der Sturz aus dem Schneckenhaus. Bilder und Rätsel

Patricia Görg ist eine Schriftstellerin, die schon mehrfach in diesem programmatischen Schwerpunkt des Schirmer/Mosel-Verlages aufgetaucht ist. Sie hat sich, sieht man einmal von ihren zum Teil preisgekrönten Romanen und Hörspielen ab, neben anderen zeitgenössischen Schriftster:innen in ihren Texten mit Tiergemälden oder Anselm Kiefers Vitrinen kreativ auseinandergesetzt, wie sie vor drei Jahren im Franz-Marc-Museum in Kochel ausgestellt wurden. Nun wurde ihr ein ganzer Band zugestanden, der den zunächst rätselhaften Titel trägt »Der Sturz aus dem Schneckenhaus«. Federführend war dabei ein Nebenwerk des berühmten Frührenaissance-Malers Giovanni Bellini, das im Depot der »Accademia« in Venedig vor sich hindämmert. Es handelt sich um ein Auftragswerk ganz nach dem Geschmack eines versponnenen humanistischen Gelehrten, der sich ein Wandmöbel bauen ließ, bei welchem allegorische Szenen um einen gewölbten Spiegel herum Anspielungen auf menschliche Tugenden und Laster darstellen sollten. Die Bilder geben Traumszenen wieder, welche derart surreal wirken, dass sie wie aus der Zeit gefallen erscheinen. Eines davon zeigt eben zwei Sänftenträger vor einer Landschaft mit hohem Horizont und typisch venezianischem Himmel. Sie schleppen sich an einer überdimensionalen Brandhornmuschel ab, aus welcher gerade ein nackter Jüngling herausstürzt, der zudem, wie weiland Laokoon, mit einer mächtigen Schlange kämpft.

Galleria dell' Accademia, Venedig/courtesy Schirmer/Mosel
Galleria dell' Accademia, Venedig/courtesy Schirmer/Mosel

Natürlich war die sehr spezielle und ganz persönliche Werkauswahl für Patricia Görg eine conditio sine qua non. Man kann schließlich nicht über alles poetisch inspiriert schreiben. Gleich zu Anfang charakterisiert die Verfasserin ihre Auswahl und sich selbst folgendermaßen: »Dieses Buch bewegt sich durch meine Lieblingsgegend […] Schon immer haben mich Bilder angezogen, die, in sich selbst verschlüsselt, voll von unerschöpflichem poetischen Mehrwert zu sein scheinen«. Die Texte, welche die Verfasserin dazu schreibt, nennt sie »Erzählungen« – ein weit gefasster Gattungsbegriff. Wie ambitioniert die Inspirationsquellen sind, zeigt sich in vielen Kapiteln: Dass Wilhelm Busch nicht nur der populäre Zeichner und Dichter satirischer Bildgeschichten war, sondern auch ein Maler mit einem erstaunlich freiem, pastosen Gestus, ist noch hinlänglich bekannt. Aber der Gegensatz zwischen den lichten, wie hingehauchten Farbschichtungen der amerikanischen Malerin Agnes Martin und verschiedenen Malern, die immer mehr der Lichtlosigkeit der Farbe Schwarz verfallen sind, ist schon gewaltig. Herausgekommen ist schließlich eine Ansammlung, wie sie heterogener kaum sein könnte: von prähistorischen Felszeichnungen aus dem Inneren Afrikas bis zu den als Meditationstafeln verstandenen Colorfields eines Ad Reinhardt, von Hiroshiges Farbholzschnitten bis hin zu Hannah Höchs Collagen, die am Küchentisch ihres kleinen Hauses in Berlin-Heiligensee zusammengeklebt wurden. Allein in der exquisiten Bandbreite liegt für die Leser:in etwas Reizvolles.

Musée de Louvre, Paris/courtesy Schirmer
Musée de Louvre, Paris/courtesy Schirmer

Weil die Kunstwerke so inkommensurabel wirken, erscheint es methodisch ratsam, eine Nagelprobe zu machen und zunächst die Kapitel zu lesen, welche Künstler in den Blick nehme, die in jeder Kunstgeschichte als Meilensteine gesetzt wären. Wie nähert sich Patricia Görg beispielsweise dem Meister Gislebertus von Autun, diesem Höhepunkt der skulptierten Kapitellkunst von Burgund, ja der gesamten romanischen Plastik des 12. Jahrhunderts? Sie nimmt zunächst jene berühmte Szene in den Blick, in welcher der Engel die Heiligen drei Könige auf den Stern über Bethlehem hinweist. Wunderbar hat der Bildhauer das Querformat des Säulenkopfs kompositorisch ausgenutzt, indem der Gottesbote hinter dem Bett erscheint und mit übergroßem Zeigefinger auf das Zärtlichste die Hand des obersten Königs berührt, die als einziges über der Bettdecke liegt, unter der alle drei liegen und schlafen. Dieser (angeblich ist es Caspar) hat still die Augen aufgeschlagen, während die anderen (allesamt mit gekrönten Häuptern auf dem Kopfkissen) im tiefen Traum versunken sind. Das ist von größter Intimität und zugleich genialer Reduktion. Doch die Autorin hat nicht nur dieses eine, ohne Zweifel herausragende Kapitell genau beleuchtet, sondern sie stellt es in den Kosmos all der anderen biblischen Geschichten drumherum. Man erinnert sich: Es ist eine Welt von Monstern und grausigen Grotesken, aber auch psychologisch äußerst feinfühlig erfundener Gesten. Durch die Ausweitung des Blicks in die ganze skulpturale Welt der Kathedrale von Autun gewinnt die Schriftstellerin Spielraum für ihre »Erzählungen«, müssen wir als Leser:in doch das, was wir als Abbildung nicht vor Augen haben, durch Phantasie ergänzen. Geschickt verbindet Patricia Görg so die genaue Recherche mit poetischer Fiktion.

National Galleries of Scotland, Edinburgh/courtesy Schirmer/Mosel
National Galleries of Scotland, Edinburgh/courtesy Schirmer/Mosel

Diesen Kunstgriff, ein Bild in den Mittelpunkt zu stellen, aber gleichwohl auf andere einzugehen, wendet die Schriftstellerin immer wieder an. Bei dem großen Stilllebenmaler Jean Siméon Chardin spielt der kleine Junge, der, anstatt Hausaufgaben zu machen, völlig versunken ist in das Spiel mit einem kleinen Drehkreisel, geradezu eine untergeordnete Rolle. Görg entfaltet ein Charakterbild des Malers und seiner Arbeitsweise; hingebungsvoll und nuancenbesessen verrieb der ohne Vorzeichnung mit kurzem Pinsel und Daumen die Farben tonig ineinander. Chardins in jeder Beziehung unkonventionelle Malerei fand mit der Zeit Anerkennung, auch wenn er sich so unendlich lang Zeit nahm. Einmal soll er für ein Tierstück mit totem Hasen so lange gebraucht haben, bis der Hase inzwischen verwest war. Einfühlsam öffnet die Schriftstellerin Leser:innen/Betrachter:innen die Augen, wenn sie den toten Hasen aus dem Louvre mit einer diagonalen Kreuzigungsszene vergleicht und dessen Fell als Abfolge von scheinbar monochromen Landschaften, Braun in Braun, beschreibt. »Die Hintergründe seiner Stillleben sehen aus wie Mauern, zwischen denen die Zeit selbst gefangen ist und schemenhafte Zeichen angebracht hat, vielleicht, um sich daran zu erinnern, wann sie freikommt«(S.30). - Solche Aussagen sind äußerst spekulativ und gewagt. Sie treffen aber ins Mark und gehen so weit wie Rilke, der seinerzeit angesichts des Apollo-Torsos zu dem nahezu unverständlichem Schluss kam: »Denn da ist keine Stelle/ die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern«.

In dieser Weise verwebt Patricia Görg immer wieder äußerst Subjektives mit sachlich präziser Information. Ein methodischer Kniff besteht darin, das Statische und Endgültige eines Bildes, jenen in einem Rahmen eingefrorenen und für alle Zeiten feststehenden Augenblick, in irgendeiner Weise zu verflüssigen, sei es, indem das Dargestellte in eine dramatische Handlung verwandelt wird oder indem das Bild in den Umraum entgrenzt wird. Mit anderen Worten: das Statische (nicht nur der ungemein stillen und sorgsam austarierten Chardin-Gemälde) wird eben nicht als Objektwelt angesehen, sondern gleichsam von innen heraus aktiviert und dynamisiert.
Im Falle des französischen Informel-Malers Jean Fautrier tritt die Welt des Kunstwerks ganz zurück hinter der äußerst suggestiven Beschreibung eines Atelierbesuchs. Angefangen vom Wohnhaus des Künstlers, das ehemals ein Anwesen Chateaubriands war und in einem abgelegenen Vallée aux Loups lag, bis hin zu dem Malvorgang selbst, der mehr in den Vordergrund tritt als das fertige Werk, wird alles imaginativ entfaltet. (In Wahrheit dürfte es schon deshalb nicht zu einem Treffen mit dem Maler gekommen sein, weil dieser bereits im Jahr 1964 verstorben ist).

The Metropolitan Museum of Art, New York/courtesy Schirmer/Mosel
The Metropolitan Museum of Art, New York/courtesy Schirmer/Mosel

Das Kapitel, welches sich mit dem berühmten japanischem Holzschnittmeister Ando Hiroshige beschäftigt, zeichnet den rituellen Weg vom ehemaligen Edo zur heiligen Tempelstadt Kyoto so nach, als würde man mittels einer Zeitmaschine die wechselnden Panoramastandpunkte heute abschreiten. Auch hier formt sich die auf den Bildern gezeigte, längst versunkene Objektwelt um in Sätze, in welchen die Dinge aktiv werden und als Subjekte das Geschehen regieren. Das Vergangene wird aufgehoben in der Vergegenwärtigung, und nebenbei wird verständlich, warum die Erinnerungen an den Pilgerweg auf dem »Tōkaidō« bis zu zwanzigtausendmal gedruckt wurden, ähnlich wie in Europa etwas früher die Veduten eines Piranesi für die vielen Aristokraten, die die »Grand Tour« absolvierten.

Titel: Der Sturz aus dem Schneckenhaus. Bilder und Rätsel
Autor:in: Patricia Görg
Verlag: Schirmer /Mosel
Hardcover / Gebundene Ausgabe
Format: 24,3 cm x 17,5 cm x 2,2 cm
158 Seiten, farbige Abbildungen
Preis: 39,80 €
ISBN: 978-3-8296-0987-6

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