Anthologien gibt es viele – nicht ohne Grund: Jemand, der es gemeinhin besser weiß, nimmt einem die Qual der Wahl ab und pickt sozusagen die schönsten Rosinen aus einem großen Kuchen. Auf diese Weise entsteht eine, wenn auch verkürzte, so doch besonders geschmackvolle und repräsentative Auswahl von Texten. Aber wer weiß schon, dass sich das Wort »Anthologie« etymologisch vom griechischen anthos (= die Blume) herleitet, sich also mit dem leider aus der Mode gekommenen schönen alten deutschen Wort »Blütenlese« so einfach wie wunderbar wörtlich übersetzen lässt? Eine Anthologie ist also gleichsam das Geschenk eines erlesenen Blumenstraußes, der, mit sicherem Auge für harmonische Entsprechungen zusammengestellt, mitten auf dem Tisch prangt.
Der Münchner Kunstsammler und Verleger Lothar Schirmer hat aus traurigen Anlass eine solche Anthologie neu aufgelegt. Marianne Schneider, seine langjährige Lektorin und Übersetzerin in Fragen und zu Themen der italienischen Literatur und Kunst, bekannt insbesondere für ihre Übertragungen der theoretischen Texte Leonardo da Vincis, ist im Februar dieses Jahres in Florenz gestorben. Auf sie ging die Sammlung von Blumengedichten aus dem Jahr 2001 zurück. Die Zeitspanne der ausgesuchten Texte und Bilder reicht von Walther von der Vogelweide und Luthers Übersetzung des Hohelied Salomos bis in die Gegenwart hinein.
Der große Klang- und Sprachmagier Clemens Brentano schrieb in seinen »Geistlichen Liedern« von 1835 ein Gedicht mit dem unheilschwangeren Untertitel »20. Jenner nach großem Leid«. Darin sieht der Romantiker mit abgeklärter Melancholie das Leben zwischen irdischer Verhaftung und einem höheren Sinn für himmlische Sphären ausgespannt. Die Blumen unten entsprechen den Sternen am Himmel. Die Extreme des Daseins können sub specie aeternitatis nur in schlichter Aufzählung nebeneinander angestaunt werden: »O Stern und Blume, Geist und Kleid/ Lieb, Leid und Zeit und Ewigkeit.« Dieser refrainartig wiederkehrende Zweizeiler erinnert an eine altägyptische Weisheit aus Sakkara. Verstand doch schon ein Hieroglyphentext aus der Unas-Pyramide den Menschen als das einzigartige Wesen, welches mit den Füßen niemals Staub und Schmutz verlassen könne, aber mit der Stirn doch die Sterne zu berühren vermag.
Wenn die »Sprache der Blumen«, jene vermeintlich stumm-vegetative, sich seiner Seinsweise nicht bewusste Schönheit, einerseits in poetischen Worten und andererseits bildlich eingefangen wird, dann fragt man sich natürlich, wie das konzeptuell arrangiert ist: Greifen die Bilder auf der rechten Seite dieses Büchleins die die sprachlichen Metaphern und Symbole auf der linken auf? Sind die Bezüge komplementär oder eher in reizvoller Spannung und kontrastiv? Da der Anthologie grundsätzlich eine diachrone Gliederung zugrunde liegt, sollte man annehmen, dass die Blumenbilder der unterschiedlichen Maler:innen, Zeichner:innen und Fotograf:innen Anknüpfungspunkte suchen und den Texten möglichst stimmig entsprechen sollten. Doch diese Erwartungen gehen in aller Regel nicht auf: Walthers »Unter der Linden« hat eigentlich nichts mit dem fast dreihundert Jahre späteren »Rasenstück« Albrecht Dürers gemein; Clemens Brentano gehört nicht ins 18. Jahrhundert, und seine romantische »Lureley« ist Welten entfernt von Claude Lorrains Klassizismus; Goethes »Gingo« kann kaum durch Runges »Tulpenblüte« erläutert werden; und Stefan Georges Hang zur erlesenen Stilisierung hat wenig gemein mit der expressiven Weise, in der Vincent van Gogh »Disteln am Wege« zeichnet. Was verleitet dazu, ein frühes Günter-Eich-Gedicht über den Ginster einer Thomas-Struth-Fotografie von Sonnenblumen zuzugesellen? (Etwa nur die Farbe Gelb?)- Nein, es sind eher die Brüche und Widersprüche, die den Reiz zwischen Text- und Bild-Bezügen ausmachen. Man könnte aber auch sagen: Eine bloße motivische Illustration wäre zu plump gewesen. Die sprachlichen Kunstwerke und die Bilder sind jeweils zu eigenständig und inkommensurabel. Wenn vieles nicht aufgeht, dann deshalb, weil die Vieldeutigkeit und Aussagekraft jeder Kunstäußerung für sich zu stark ist und in größere Zusammenhänge verweist.
Wenn der »Cherubinische Wandersmann« des Angelus Silesius in einem Gedicht (das hier übrigens nicht zu finden ist) von der Königin der Blumen sagte: »Die Ros' ist ohn Warum / sie blühet, weil sie blühet / Sie achtet nicht ihrer selbst / fragt nicht, ob man sie siehet«, dann ist damit ein Grundzug getroffen, der uns bei jeglicher Blumenzier wesentlich erscheint: ihre fraglose Schönheit, ihre Selbstgenügsamkeit, die verschwenderische Farbenpracht und der Rausch an Schönheit.
Eindeutiger Schwerpunkt dieser Anthologie ist das letzte Jahrhundert und die Kunst der Gegenwart. Darin liegt ein großes Verdienst, denn gerade die Gegenwartskünstler (und »Hausheiligen« des Verlags Schirmer/Mosel) wie Cy Twombly, Joseph Beuys, Thomas Struth oder Nick Knight dokumentieren eine Schönheit, die meilenweit entfernt ist vom Verdacht der kitschigen Poesiealbum-Idylle.
Titel: »O Stern und Blume, Geist und Kleid …« - 75 Blumenbilder und die 75 schönsten deutschen Blumengedichte von Leonardo da Vinci bis Ernst Jandl
Autor:in: Marianne Schneider / Lothar Schirmer (Hrsg.)
Verlag: Schirmer / Mosel
Format: 16,5 x 23,5 cm, gebunden
184 Seiten, 75 Tafeln in Farbe und Duotone
Ladenpreis € 19.80, €(A)20.40, CHF 22.80
ISBN 978-3-8296-0993-7