Buchrezensionen, Rezensionen

„Gerhard Richter. Texte zu 4900 Farben“ Gerhard Richter Archiv Dresden. Serpentine Gallery London. Hatje Cantz Verlag 2009

Das monumentale Werk „4900 Farben“ Gerhard Richters bildet das malerische Korrespondenzbild zum Domfenster des Künstlers im Südquerhaus des Kölner Doms. Die vorliegende Publikation, die 2009 im Hatje Cantz Verlag erschienen ist und auf dem Ausstellungskatalog der Londoner Serpentine Gallery basiert, hat sich zur Aufgabe gemacht, beide Werke zu untersuchen und dabei das Augenmerk - so etwa im Beitrag von Benjamin H.D. Buchloh geschehen - auf diagrammatische Abstraktion und zufällige Konstellation der Farbigkeit, besonders des mobilen Werks, zu legen. Mit der Verortung der Farbtafeln im Gesamtwerk Richters demonstriert Birgit Pelzer dem Leser schließlich deren zentrale Bedeutung.

Richter/Buchloh/Gidal©Hatje Cantz
Richter/Buchloh/Gidal©Hatje Cantz

Das Domfenster und „4900 Farben“ aus dem Jahr 2007 greifen die 1966 begonnene Untersuchung der Farbfelder Gerhard Richters auf. Diese ersten Farbtafeln waren gemalt und schmückten industriell gefertigte Farbmusterkarten. „Was Gerhard Richter an diesen Handelsmustern interessierte, war die glatte Perfektion, die Genauigkeit der Farbwiedergabe und die geringste mögliche Komposition“, wie Birgit Pelzer es in ihrem Essay „Die Asymptote des Zufalls“ formuliert. Die Farbtafeln verstanden sich „als diametraler Gegensatz zum Gefühlsbetonten und Erhabenen, zur Expressivität und zum Lyrismus. Es ging darum, die Kunst an den Rand ihrer Zerstörung zu führen.“ [Pelzer]

1971 geht Richter einen Schritt weiter, indem er zwar das weiße Raster zwischen den kalibrierten Farben beibehält, nun aber den Zufall einwebt, so dass sich die Farbverteilung auf dem Malgrund durch Auslosung aus einem Farbenbestand ergibt. Mit Einbeziehung des Zufalls sollte der „Aspekt des Seriellen und der systematischen, neutralen Erfassung der Töne“ [Pelzer] verstärkt werden.

1973 greift der Künstler in seinem Werk „1024 Farben“ auf eine andere Farbskala – auf der Basis von Rot, Blau, Gelb und Grün – zurück und nimmt die durch ihre Mischung entstehenden Zwischentöne auf. Ziel sei, so die Autorin in ihrem zweiten Aufsatz „Der Zufall als Partner“, „wieder das Erreichen eines neutralen Ganzen.“ In der letzten gemalten Farbtafel „4096 Farben“ aus dem selben Jahr erweitert Richter dann den Zufall um die Wiederholung. Nach Abbruch der Farbfelduntersuchung 1974, setzt er sich im Kontext des Domfensters und dem Werk „4900 Farben“ erneut mit jener Thematik auseinander, wobei „[i]n massiver Häufung [...] die kleinen quadratischen Elemente zu winzigen Zeitvektoren [avancieren]. Sie übertragen – festgesetzt, eingefroren im visuellen Feld – eine Geschwindigkeit, eine Positionsdichte. [...] Als Einführung in eine sich im Gleichmaß ereignende Ungleichheit und Abweichung, führt die Wiederholung der Farbquadrate uns in die Unberechenbarkeit der Zeit ein“, so das Fazit Pelzers.

Benjamin H.D. Buchloh beschäftigt sich in seinem Beitrag intensiv mit diagrammatischer Abstraktion und zufälliger Konstellation der Farbigkeit, hinterfragt kritisch die „zufällige Wiederholung“ und gelangt dabei zu dem Ergebnis, dass das „Element der Wiederholung [...] als unauflösbare Verknüpfung einer endlosen Zahl möglicher Varianten“ erscheint und dergestalt Richters „4900 Farben“ uns „mit dem Rätsel einer potenziell endlosen Wiederholung des Selben und einer ebenso endlosen Akkumulation von Unterschieden“ konfrontieren. Spannend, allgemeinverständlich und vor allem gedankenanregend ist das Schlusskapitel „Monotone Polychromie“, in welchem der Autor „die sture Widerspenstigkeit von Richters monotoner Polychromie [als] ein[en] allerersten Schritt [deutet], um in dem, was gerade noch als bloße, unerschütterliche Selbstgefälligkeit erschien, die permanent sich erneuernden Formen und immer atemberaubenderen Abgründe der Entfremdung aufleuchten zu lassen.“

Wie Birgit Pelzer widmet sich auch Peter Gidal der unterschiedlichen Korrespondenz von Domfenster und „4900 Farben“ und verweist auf deren indexikalischen Zusammenhang, demzufolge das eine das Wirkliche des anderen darstelle. Beide sind, so Gidal, „Wirklichkeiten der Welt.“ Die rhetorische Frage, ob die in London präsentierten 49 Farbquadrate – die zweite von elf möglichen Präsentationsversionen – „dann auch ein indexikalischer Niederschlag von räumlich und zeitlich Gewusstem [sind], von etwas Anderem anderswo?“, lässt den Autor zu dem Ergebnis gelangen, dass die Malerei des Abstrakten „ein Flirren zwischen Erkenntnis und deren Unmöglichkeit, gewonnen aus Wahrnehmung, Erinnerung, Material“ erlaubt.

Der vorliegende deutschsprachige Textband enthält neben den wissenschaftlich fundierten Essays des englischen Kataloges einen weiteren aufschlussreichen Beitrag zu den Kombinationsmöglichkeiten der Farbquadrate von Marcus du Sautoy, Mathematikprofessor an der University of Oxford, sowie die für den Leser wunderbar nachvollziehbaren und anschaulichen Erläuterungen zu „4900 Farben“ von Gerhard Richter selbst.

Insgesamt überzeugt dieser 96 Seiten umfassende und mit 12 Farbabbildungen versehene Band durch informationsreiche, sprachlich hochwertige und zugleich gut zu lesende Beiträge, die – wenngleich sich hin und wieder Fragestellung bzw. Ergebnisse wiederholen – den Leser gefangen nehmen. Gerhard Richter selbst äußerte sich zu seinen Farbtafeln im vergangenen Jahr: Sie „sind die einzigen Bilder, die nichts erzählen. Selbst die abstrakten Bilder sind wie Fotos von einer nicht existenten Wirklichkeit, einem unbekannten Dschungel. Hier – kein Illusionismus. Sie erzählen nichts, rufen keine Assoziationen hervor. Sie sind nur da, ein rein visuelles Objekt.“ Die Aufgabe, solche Werke – die vom Betrachter ein waches Sehen fordern – nicht nur für das Fachpublikum zu erläutern, sondern auch einer breiteren, kunstinteressierten Leserschaft näher zubringen, ist der vorliegenden Publikation absolut gelungen.

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