Rezensionen

Ágnes Berecz: 100 Jahre – 100 Kunstwerke; Prestel 2019

Eine Zeitreise durch 100 Jahre bildende Kunst. Beginnend im Jahr 1919, zeigt der Band 100 ikonische Kunstwerke, jedes stellvertretend für das Jahr seiner Entstehungszeit. Vertreten sind alle großen Künstlernamen des 20. und 21. Jahrhunderts – von Pablo Picasso, Max Ernst und Frida Kahlo bis zu Gerhard Richter, Ólafur Elíasson und Ai Weiwei. Daneben gibt es viel Neues zu entdecken, wie die Werke von Otobong Nkanga, nigerianische Performance-Künstlerin und documenta–Teilnehmerin, oder von Cao Fei, international renommierte chinesische Medienkünstlerin. Walter Kayser hat sich durch 100 Kunstwerke, 100 Texte und 100 Jahre Kunstgeschichte geblättert.

 Es ist noch nicht lang her, dass der Journalist und Kunsthistoriker Florian Illies mit seinem »1913 – Der Sommer des Jahrhunderts« einen ungeheuren Erfolg feierte. Er überraschte den Verfasser wohl selbst so sehr, dass er erst im vergangenen Jahr dem Bestseller eine Fortsetzung nachschob mit dem Titel »1913 – was ich unbedingt noch erzählen wollte«. Was vor genau 100 Jahren geschah, das geht uns Heutige ganz offensichtlich in puncto Selbstverständigung an.
Fragt man nach dem Grund für den großen Run auf dieses Buch, so sind gleich mehrere anzuführen: Natürlich ist es der feuilletonistisch–lockere Stil, mit dem Illies das Menschlich–Allzumenschliche in unglaublichen Anekdoten aufblättert, diese süffisant und pointenreichen vorgetragenen Details aus dem nur scheinbar sattsam bekannten Leben der großen Portalfiguren der modernen Kunst und Literatur. Man kann sich nicht oft genug in Erinnerung zu rufen, dass der Ausdruck »feuilletonistisch« ja nicht nur die pejorative Bedeutung von »oberflächlich« und »wissenschaftlich nicht ganz durchdrungen« besitzt; zugleich schwingt darin das Lob mit, dass der Stil schön eingängig, geistreich–witzig und eben kurzweilig unterhaltend ist.
Vor allem aber dürfte sich das Erfolgsrezept einer solchen idealen Nachttischlektüre für die gehobenen Stände der Tatsache verdanken, dass erst mit dem Abstand von 100 Jahren so recht ins Bewusstsein gerückt ist, wie prägend diese Take–off–Phase der klassischen Moderne gewesen ist, die mit dem 19. Jahrhundert begann und am Vorabend des 1. Weltkriegs kulminierte.

Auf dieser Linie ist auch das hier zur Diskussion stehende Buch von Ágnes Berecz zu sehen. Geht es doch auch ihr um die Sichtung des 20. Jahrhunderts und um eine entschlossen kanonische Bestandsaufnahme dessen, was bislang mit einem paradoxen Begriff »Gegenwartsgeschichte« genannt wurde. Jede Historisierung einer unmittelbar zurückliegenden Zeit verlangt wegen des noch sehr geringen Abstands großen Mut. Das gilt ganz besonders, wenn es sich um die Betrachtung einer Kunstlandschaft handelt, die sich in schnelllebige und plurale Strömungen aufgefächert hat.

Bei solch einem Unterfangen die seit den Frühen Hochkulturen bekannte und in Antike und Mittelalter so beliebte Form der Annalen–Historiografie zu wählen und auf die jüngste Vergangenheit zu übertragen, erscheint besonders gewagt. Denn die streng chronologische Ordnung – jedes Jahr wird mit dem Schlaglicht auf ein Kunstwerk verknüpft – ist insofern angreifbar, als sich der Anspruch der Repräsentativität einfach noch nicht herauskristallisiert haben kann. Zu gering die notwendige Distanz, zu unübersichtlich die Vielzahl an Formaten, zu grenzenlos der globale Austausch, zu zersplittert auch der »common sense« darüber, was heutzutage als herausragendes Kunstzeugnis zu bewerten sei. Im Grunde begann ja vor spätestens hundert Jahren der Prozess, in der die Künste aufhörten, »schöne Künste« zu sein, in der das Auseinandertreten von gängigem ästhetischen Geschmacksnormen und wahrer Kennerschaft unüberbrückbar erschien.
Ein weiterer Einwand grundsätzlicher Art ist schnell bei der Hand: Beim Sichten dieses Bildbandes wird jeder Leser, auch wenn er kein ausgewiesener Experte der zeitgenössischen Szene ist, sehr bald Namen und Werke vermissen, die er mit Fug und Recht für unverzichtbar halten darf. Selbstzufrieden wird er deshalb etliche Defizite ausmachen und die Frage stellen: Geht das denn wirklich: eine Kunstgeschichte der letzten 100 Jahre, in welcher Namen wie Wassily Kandinsky und Paul Klee, Alex Katz und Lucien Freud, Cy Twombly und Damien Hirst, Mario Merz und Georg Baselitz, Henry Moore, Claes Oldenburg, Edward Kienholz, Marc Rothko, Jenny Holzer oder Valie Export einfach nicht vorkommen?
Aber das ist ein wohlfeiles, unwiderlegbares, ja, ein Totschlagargument. Ohne Zweifel, die junge Kunsthistorikerin Ágnes Berecz, ausgebildet in Budapest und Paris, ist eine ausgewiesene Kennerin der Nachkriegs– und Gegenwartskunst. Über diese schreibt sie regelmäßig in einschlägigen Zeitschriften und Katalogen. Zur Zeit von New York aus, wo sie am »Fashion Institute of Technology« und am »Museum of Modern Art« lehrt.
Die Konzeption dieses Buches ist, wie gesagt, denkbar einfach: Auf einer einzigen Doppelseite wird Jahr für Jahr eine Arbeit zum Jahrhundertkunstwerk erhoben. Das ist anregend, perspektivenreich und erhellend – doch keineswegs immer erschöpfend und überzeugend. Immerhin, in der Kürze liegt bekanntlich die Würze. In der Subjektivität der radikalen Auswahl ist freilich, wie bei den eingangs erwähnten Illies–Büchern auch das Erfolgsrezept der kurzweiligen Darstellung begründet. Doch diesmal gibt sich der Stil der erläuternden Texte sachlich und informativ, also alles andere als »feuilletonistisch«.

Zeitgenössische Kunst ist ja grundsätzlich ein Appell an die Fantasie, sozusagen dazu geeignet, kräftig Gehirne durchzupusten. Sie muss zwanghaft innovativ sein, das heißt ein steter Konventionsbruch. Sie wird arglose Betrachter immer verstören. Und sie wird seriöse Kunstfreunde dazu bringen, dass sie sich die Brille zurechtrücken und sofort eifrig nach Relevanzen und Korrespondenzen Umschau halten. Das Problem ist nur, dass es kaum jemanden gibt, der zwischen den einen und den anderen zu unterscheiden wüsste. Geben wir’s ruhig zu: Wir alle ringen da mehr oder weniger mit der Ratlosigkeit, wir alle haben Nachholbedarf und sind angewiesen auf Orientierungshilfe von Stichwortgebern. Was sind Luftnummern? Was wird auch in weiteren einhundert Jahren noch bestehen können? Die Ausführungen der Verfasserin zu Arbeiten von manchmal bizarrer Art, die auf Tiefsinn zielen, wirken gelegentlich wie ein Beipackzettel zu merkwürdigen Pillen, deren Wirkungsweise genauso umstritten ist wie ihre Nebenwirkungen.
Wenn Ágnes Berecz beispielsweise für das Jahr 1972 an eine Performance erinnert, die im New Yorker Stadtteil Soho stattfand, so erscheint das im Nachhinein nicht mehr unbedingt als zwingend. Damals masturbierte Vito Acconi pünktlich jeden Mittwoch und Samstag unter dem Dielenboden der »Sonnabend Galerie«, während die Galeriebesucher über ihm herumliefen und via Lautsprecher seinem Luststöhnen beiwohnten. Gefilmt wurde auch noch. Das war, so Ágnes Berecz, »als Protest gegen die Vorstellung des Kunstwerks als Objekt und Konsumware gemeint und redefinierte künstlerische Arbeit als autoerotische, sinnlose Tätigkeit« (116). Gut, hehre, ja aufrichtige Absichten seien dem kreativen Masturbator neidlos zugestanden; erkennt man außerdem an, dass er mit seinem Werk eine selbstlose flankierende Hilfsmaßnahme zur sexuellen Befreiung aller Menschen der westlichen Welt startete, so bleibt doch die Frage, ob die ästhetische Qualität seiner regelmäßigen Vorstellung nach wie vor den Rang eines Jahrhundertwerks beanspruchen darf.
In diesem Sinne bleibt ein grundsätzlicher Zweifel: Viele der dargestellten Werke wollen sich nicht allein aus ihrer optischen Erscheinung erschließen, schon gar nicht ihr »Sinn«, »Rang« und ihr »bleibender Wert«. Viele betteln geradezu darum, mit Zusatzinformationen und Erläuterungen hinterlegt zu werden, sprechen doch erst die wohlmeinenden Spekulationen den Arbeiten das zu, wovon sie sich durch kühne Reduktion und Verfremdung befreit zu haben scheinen. Das macht sie zum Teil plausibel, zum Teil bleibt aber das sichtbare Relikt, etwa der blasse Gelatinesilberabzug einer lebendigen Performance, einfach nur nichtssagend. Ein solches »still–Foto« zum Beispiel gibt nämlich das Konzept dahinter nicht preis.
Die Texte von Ágnes Berecz sind also unverzichtbar, versuchen sie doch den Betrachter zu überreden, dass es eigentlich nicht darum gehe, worum es zu gehen scheint. Ständig wiederkehrende Phrasen wie »möchte erinnern an…«, »regt an nachzudenken über…« oder »nimmt kritische Stellung zu…« wollen davon überzeugen, dass hier die Kreativen auf der moralisch richtigen Seite standen.

Die unumgängliche Tendenz zur Festlegung eines Werkes auf eine bestimmte Jahreszahl kann sehr leicht als problematisch kritisiert werden. Der Eindruck solcher zeitlicher Fixierungen und »Etiketten« bleibt ambivalent. Einerseits wird dem Betrachter auf diese Weise bewusst, wie sehr eine künstlerische Äußerung Ausdruck ihrer spezifischen Zeit ist: Picassos »Guernica« gehört einfach mit der Jahreszahl 1937 beziffert wie eine John–Heartfield–Collage mit 1932, also mit den unmittelbaren Endzügen der Weimarer Demokratie; wie kaum etwas anderes erscheint Christos und Jeanne–Claudes verhüllter Reichstag in Berlin stellvertretend für die euphorische Aufbruchstimmung der Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung.
Andererseits allerdings, wenn zum Beispiel Yves Klein im Jahre mit »Le Vide« (Die Leere) berücksichtigt wird (und nicht etwa mit einem seiner monochromen blauen Gemälde), so verkennt das, wie ausschnitthaft dieses oder jenes Werk im Hinblick auf ein ganzes Leben und ein sich durch viele Phasen hindurch wandelndes Œuvre steht.
Man könnte weiterhin einwenden, dass der Blick der Autorin vielleicht zu sehr auf die New Yorker Szene fokussiert sei oder das Medium der Fotografie grundsätzlich zu wenig gewürdigt werde. Dass bei dieser Veröffentlichung viele Fragen offen bleiben, allen möglichen Einwänden bereitwillig Tür und Tor geöffnet wird, gehört einfach zur Methode und bildet in gewisser Hinsicht die Vielfältigkeit der unüberschaubaren Gegenwartskunst ab.
Anregend und anstößig ist das Buch allemal.

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