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Achim Gnann/ Albertina Wien (Hg): Michelangelo. Zeichnungen eines Genies, Hatje Cantz 2010

Noch bis zum 9. Januar 2011 ist in der Wiener Albertina die Ausstellung »Michelangelo. Zeichnungen eines Genies« zu sehen und ausnahmsweise ist es hier gerechtfertigt, das viel strapazierte Wort von einer Schau der Superlative zu gebrauchen. Monumental ist auch der Katalog, den Achim Gnann, Kurator und Leiter des Spezialbereiches für Italienische Kunst des 14. bis 19. Jahrhunderts, verfasst hat. Ulrike Schuster hat sich den Prachtband angesehen.

Michelangelo Zeichnungen © Cover Hatje Cantz
Michelangelo Zeichnungen © Cover Hatje Cantz

Die Ausstellung zeigt über 100 figürliche Zeichnungen Michelangelos, die einen Zeitraum von fast 70 Jahren umfassen. Noch nie, seit den Lebzeiten des Meisters, waren so viele seiner Blätter an einem einzigen Ort vereint. 30 prominente Leihgeber aus aller Welt haben dazu beigetragen, diese hochkarätige Zusammenstellung zu ermöglichen. Sie umfasst etwa ein Sechstel aller erhaltenen Zeichnungen Michelangelos, die nach der gängigen Zählweise auf rund 600 Blätter eingeschätzt wird.

Diese stellen vermutlich nur einen Bruchteil des ursprünglichen Bestandes dar. Zeitgenossen Michelangelos wissen zu berichten, dass der Meister bis ins hohe Alter imstande war, drei Stunden am Stück zu zeichnen. Wenn man von der Annahme ausgeht, so Gnann, dass er pro Tag eine Zeichnung anfertigte, käme man auf eine Zahl von 27.000 Arbeiten. Doch wenigstens zweimal hat der Meister selbst Hand an sein Werk gelegt, wie Vasari und Pietro Aretino überliefert haben: einmal 1517 bei der Räumung seines Ateliers, das zweite Mal kurz vor seinem Tod. Leider haben sich auch so gut wie keine Kartons zu den berühmten Fresken erhalten. Diese könnten allerdings auch durch die Übertragung auf den feuchten Putz unleserlich geworden sein, vermutet Gnann.

An der mangelnden Aufmerksamkeit seiner Zeitgenossen kann es jedenfalls kaum gelegen haben, denn die Zeichnungen aus der Hand des Künstlers waren bereits zu seinen Lebzeiten begehrte Sammelstücke. Damit ist andererseits die Frage der Authentizität verbunden und tatsächlich schwelt seit langem eine Debatte bezüglich der Zuschreibungen. Der einflussreiche amerikanische Kunsthistoriker Bernard Berenson hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Reihe von Zeichnungen, die zuvor als eigenhändige Werke des großen Florentiners galten, seinen Schülern, Nachahmern oder anderen Künstlern zugesprochen. Mittlerweile gehen die Expertenmeinungen jedoch wieder in die gegenteilige Richtung.

Für Gnann, der drei Jahre lang mit den Vorbereitungen zu dieser Ausstellung befasst war, ist es eines der wesentlichsten Anliegen, die neuerliche Zuschreibung der fraglichen Blätter an Michelangelo zu begründen. Dies geschieht mit viel Bedacht und Umsicht. Ausführlich vergleicht er die Arbeiten mit denjenigen, die tatsächlich als Schülerarbeiten oder Kopien identifiziert werden konnten und verweist auf die stilistischen und handschriftlichen Unterschiede. Die kontroversen Darstellungen aus der umfangreichen Fachliteratur werden detailliert dargelegt und kommentiert, eher Gnann seine eigenen Einschätzungen trifft.

Die zweite Intention des prachtvollen Kataloges ist es, den künstlerischen Werdegang Michelangelos anhand seiner Zeichnungen nachzuvollziehen. Der Bogen spannt sich über das gesamte Lebenswerk des großen Künstlers. Von den frühesten erhaltenen Federzeichnungen des Jünglings, der in der Werkstatt seines Meisters Domenico Ghirlandaio Studien nach Giotto und Masaccio anfertigte, über Vorlagen zu berühmten Gemälden und Skulpturen, reicht das zeichnerische Œuvre bis zu den späten fragmentarischen Skizzen, die rund um die Entwürfe der Kuppel des Petersdoms entstanden.

Die Zeichnungen umfassen auch in funktionaler Hinsicht ein breites Spektrum an Aufgaben: sie reichen von ersten Ideenskizzen, flüchtigen Kompositionsentwürfen und Modellstudien über die Entwürfe für Malereien und Skulpturen bis hin zu den aufwendigen Geschenk- und Präsentationszeichnungen. Manche dieser Blätter waren so berühmt, dass sie als Vorlagen für spätere Gemälde und Anregungen für die kommenden Künstlergenerationen dienten – und auch solchen faszinierenden Gegenüberstellungen wird im Katalog breiter Raum gegeben.

Ein kleiner Wermutstropfen bleibt dennoch anzumerken: wie so oft bei neu erschienen Kunstbänden, so hat man auch hier auf ein Sachregister verzichtet. Wer Skizzen zu einen bestimmten Thema oder Werk von Michelangelo sucht, hat keine andere Wahl als, sich mühsam durch den dicken Bild- und Textcorpus wälzen. Bedauerlich, doch es schmälert den wissenschaftlichen Verdienst der Publikation in keinster Weise. Sie dürfte vermutlich schon in Kürze zu einem neuen Standardwerk avancieren.

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