Zwei weltweit anerkannte Expert:innen haben dieser Tage im Prestel-Verlag zeitgleich in London, New York und München einen Prachtband herausgegeben, in dem sie eine subjektive Auswahl von geschichtlich bedeutsamen und besonders schönen Kleinuhren vorstellen. Walter Kayser hat sich die Neuerscheinung angesehen und darüber hinaus gefragt, wie die Zeit und der Zeitgeist eigentlich «ticken».
Wenn man heutzutage einem beliebigen Gespräch über den «Zeitgeist» der Gegenwart beiwohnt, dann fällt unweigerlich irgendwann das Wort von dem Gespenst der irrsinnigen «Dynamisierung» und früher oder später auch der Ausdruck für seinen Gegenzauber: der Begriff «Entschleunigung».
Der Soziologe Hartmut Rosa, prominenter Wortführer in dieser Sache, würde lieber das Wort «Resonanz» in die Debatte werfen. Denn der Krankheit des allseits leidvoll erfahrenen Beschleunigungsprozess wohne eine verhängnisvolle «Eskalationstendenz» inne, der mit simpler Verlangsamung des Tempos nicht mehrbeizukommen sei. Erst Momente der «Resonanz» würden uns relationale Schwingungen erfahren lassen, welche den verloren gegangenen Einklang mit der Welt wiederherstellen könnten. Das ist weitaus mehr als verordnete Gemächlichkeit.
Die Zeit wird schon dadurch dynamisiert, dass sie im Verlauf der vergangenen Jahrhunderte immer mehr in kleinere Einheiten zerhackt wurde, erfassten die Zeitmessungsinstrumente zunächst doch nur sehr vage die Stunden, dann die Minuten und Sekunden und schlitzlich ihre Hundertstel- und Millisekunden. Was allerdings diese verflixte Zeit eigentlich genau ist, ob sie sich dehnen oder verdichten, sparen oder verschwenden lässt, bleibt mysteriös. Als Albert Einstein einmal gefragt wurde, wie er, der Entdecker des relativen Zeit-Raum-Kontinuums, denn nun Zeit definieren würde, gab er die ernüchternd platte Antwort: «Zeit ist das, was man an der Uhr abliest».
Dabei war es ein langer Weg, bis man die Zeit tatsächlich ablesen konnte. Denn die ersten Großuhren des ausgehenden Mittelalters an Rathäusern und Kirchtürmen entwickelten sich aus dem Glockenschlag, der die Mönche zum Stundengebet rief. Sie gaben also akustisch, nicht optisch, das Signal, wann wem die Stunde schlägt.
Die hier zur Diskussion stehende Veröffentlichung gibt zunächst in einer Einleitung einen gerafften geschichtlichen Überblick, der auf die einschneidenden Neuerungen und Zentren der Uhrmacherei und großen Meisternamen abhebt. In die derart ausgebreiteten Netzmaschen lassen sich dann im Stile von monografischen Katalogbeiträgen die großartigsten 100 Uhren eines halben Jahrtausends en detail wunderbar einordnen. Dem allen wird Rechnung getragen, indem exzellente Fotografien die Publikation zu einem Prachtband machen, der sowohl anspruchsvolle Sammler:innen wie Liebhaber;innen und interessierte Laien an der Zeitmessung und der Uhrmacherei ansprechen wird.
Den beiden Verfasser:innen ist zu glauben, dass es ihnen nicht so sehr auf die Stücke ankam, welche einmal spektakuläre Spitzenpreise erzielten, sondern auf ihre Lieblingsuhren. Schließlich sind die beiden Autor:innen international anerkannte Expert:innen: Daryn Schnipper ist seit 1980 Leiterin der internationalen Uhrenabteilungen des Auktionshauses «Sotheby's». Sie studierte an der «Boston University» Journalismus und Kunstgeschichte. Als «Sotheby's»-Repräsentantin wurde sie zu einer Pionierin, indem sie für Armbanduhren als neue Sammelkategorie spezielle Auktionen einräumte. Sie versteigerte die besten Uhrensammlung, darunter 1987 die Andy Warhols. Ihr Mitautor, der Brite Alexander Barter, war als ihr Stellvertreter beim selben Auktionshaus tätig. Bereits seit fast 15 Jahren arbeitet er allerdings als selbstständiger Berater und führt seinen eigenen «Concept Store» bei London. Barter ist Ehrenmitglied der «Worshipful Company of Clockmakers», der weltweit ältesten Gesellschaft für Uhren und Zeitmessung. Bei Prestel brachte er bereits vor vier Jahren das Buch «Die Uhr. Geschichte, Technik, Design» heraus. Ein solches Verfasserduo garantiert nicht nur einen wahrhaft kompetenten Überblick über die kunstgeschichtlich sehr interessante Materie; auch ein Zugang zu solch ausgezeichneten Fotoaufnahmen stünde nicht jedem zur Verfügung.
Von vornherein sei klargestellt, dass die wichtige Tradition der Turm-, Stand- und Wanduhren, bilden sie doch die Vorstufe aller späteren Uhren, hier nicht berücksichtigt wird. Diesen Trugschluss könnte nämlich der deutsche Titel nahelegen, der sich erheblich von dem englischen Klartext «500 Years 100 Watches» unterscheidet. - Es geht also ausschließlich um Kleinuhren, und deren Geschichte beginnt bekanntlich erst mit der Frühen Neuzeit. Peter Henleins berühmtes «Nürnberger Ei» konnte man erstmals an einer Kette um den Hals oder in speziellen Beuteln am Gürtel mit sich herumtragen. Der «Bisamapfel», den er für den Reformator Philipp Melachthon geschaffen hatte, befindet sich heute im Besitz des Walters Art Museum in Baltimore, USA.
Wieviel Uhr es ist, das konnte man aber von diesen Zeitmessern nach heutigen Vorstellungen nur sehr eingeschränkt erfahren. Sie gingen wenig genau und man musste sie mindestens zweimal täglich aufziehen. Im 16. Jahrhundert sind es die kleinen zylindrischen Trommeln aus vergoldetem Messing, die mit einem einzigen Zeiger und erhabenen Tastpunkten die Zeit angeben, selbst wenn es dunkel wird. Frankreich nahm die führende Position in der frühen Periode der Kleinuhrenproduktion ein. Diese wendete sich an eine gesellschaftliche Elite und gab den Zeitmessern vor allem die Anmutung eines Schmuckstücks. Immerhin, sie stellten doch einigermaßen nützliche persönliche Gegenstände dar, und man konnte sie von einem Raum in den nächsten mitnehmen und dort auch als Tischuhren abstellen.
Die Parade an exquisiten Uhren beginnt mit solchen Dosenuhren aus Deutschland und Frankreich, wo vor allem in der Stadt Blois an der Loire namhafte Uhrmacher wie Jaques de la Garde ansässig waren. Sie hatten die «Spindelhemmung», welche zunächst an den großen Rathausuhren in Padua, Prag oder Rostock eingesetzt war, so verkleinert, dass nun das Ankerrad für das periodische Anhalten des Räderwerks sorgte. Damit konnte die Uhr halbwegs regelmäßig gehen. Weil die Abbildungen zum Teil mit dem Vermerk «Originalgröße» abgebildet sind, vermag der Betrachter ihre erstaunliche Kleinheit bestaunen. Verständlich, warum die hier vorgestellten Meisterstücke zu unverzichtbaren Alltagsaccessoires und Prestigesymbolen avancierten.
Das zeigt sich allenthalben: in der Ausschmückung mit ziselierten Bordüren oder auch darin, dass etwa bei einem Beispiel aus der elisabethanischen Zeit Englands das eigentliche Räderwerk in einen großen kolumbianischen Smaragd mit grünem Emailzifferblatt eingelassen ist. Diese Uhr fand sich neben einer Fülle von Präziositäten bei dem zufällig entdeckten Schatz von «Cheapside Hoard» in London, der im Jahre 1912 entdeckt wurde, als sich Arbeiter mit Spitzhacke und Schaufel in einem Hauskeller zu schaffen machten.
Andere Uhren des 17. Jahrhunderts sind -typisch barock- als memento mori in einen skulptierten Schädel oder in Kreuzesform in einem Gehäuse aus Bergkristall gefertigt. Königlich auch die Uhr des Schotten David Ramsay, der nach einer Lehrzeit in Frankreich im Jahre 1618 eine ovale astronomische Uhr schuf, die bereits Datum, Monat, den Stand der vorherrschenden Planeten und die Mondphasen anzeigte. Sie ist in den Innenseiten ihrer Deckel aufwändig ziseliert und zeigt neben Wappen, Portrait und Motto des schottischen Königs Jakob VI. auch Szenen aus Ovids Metamorphosen. Sehr oft ist das Außengehäuse konvex erhaben und derart reich mit Diamanten oder Reihen immer kleiner werdender Perlen besetzt, in Piqué-Einlagetechnik oder feinen Ziselierungen und Schmelzarbeiten überzogen, dass die Anmutung eines Schmuckstücks in den Vordergrund tritt.
Gegen Mitte der 1670er-Jahre stellt die Einführung der «Unruhespirale», eines von der Spannung einer Feder getriebenen Schwungrads, einen Meilenstein auf dem Weg zur präzisen Zeitmessung. Sie ermöglichte die Darstellung von Minuten, - mithin einen zweiten Zeiger. Allerdings war die Zifferblattdarstellung anfangs keineswegs so, wie wir es heute mit den zwei konzentrisch kreisenden Zeigern für selbstverständlich erachten. Welche entscheidende Rolle gerade Quäker und Hugenotten unter den Pionieren der Uhrmacherkunst immer wieder einnahmen, wäre eine interessante Frage, der es sich nachzugehen lohnte. Einer von ihnen, der herausragende Daniel Quare entwickelte um 1700 die ersten Repetitionsuhren mit eigenem Räderwerk für die Glocken auf Schlag, welche am unteren Gehäuseboden angebracht waren.
Grundsätzlich wurden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die englischen Uhrmacher führend. Nicht unerheblich war dabei ein Anstoß von außen: Am 22. Oktober des Jahres 1707, abends gegen 20 Uhr, zerschellte in der Dunkelheit ein Schiff der Royal Navy an Klippen und 2000 Seeleute fanden den Tod. Dies war der Anlass, eine stolze Belohnung von 20.000 englischen Pfund für einen Wettbewerb auszusetzen, damit die Berechnung der Längengrade sich in Zukunft genauer bestimmen ließe. Diese Longitude Act formulierte ein außergewöhnlich anspruchsvolles Ziel, erlaubte doch die Vorgabe lediglich eine Gangabweichung von lediglich 2 Minuten in 6 Monaten auf hoher See (was immerhin eine Verfehlung der Navigationsortung von etwa 10 Meilen einräumte). John Harrison, ein gelernter Zimmermann, der seine ersten Uhren ganz aus Holz gebaut hatte, wurde der Sieg zugesprochen. Der enorme Präzisionsschub der Marinechronometer verbesserte tatsächlich die Fähigkeit der nautischen Längengradberechnung und erlaubte es den Engländern auf diese Weise, ihre imperiale Dominanz auf den Weltmeeren zu sichern.
In der Folgezeit ist das Nebeneinander von modern anmutender Schlichtheit, hinter der sich ein ungemein komplexer Werkskern verbirgt, und eine Vorliebe für einen verschwenderischen Dekoraufwand zu konstatieren. Auf der einen Seite die immer genauere Zeiterfassung mit allen möglichen Anzeigemodi innerhalb eines Gehäuses. Da gibt es neben Sekundenzeigern, Verläufen von Himmelskörpern, Hygrometer und Thermometer, akustische Glocken- und Weckfunktionen etwa die Darstellung eines Ewigen Kalenders, welcher unabhängig von der Anzahl der Monatstage sogar die zusätzlichen Februartage der Schaltjahre berücksichtigen konnte oder mithilfe von Bimetallstreifen den störenden Einfluss von Temperaturschwankungen auf die Ganggenauigkeit kompensierte. Vor allem die frei aufgehängte Ankerhemmung, welche jede störende Reibung minimierte, war in dieser Zeit eine bahnbrechende technische Entdeckung. - Auf der anderen Seite werden im selben Zeitraum Uhren vorgestellt, die unglaublich verspielt und überreich verziert sind. Diese wurden vor allem in Genf gefertigt und zielten auf den chinesischen Markt. Da gibt es Singvogelautomaten mit kleinsten Blasebälgen und Pfeifen, in denen sich Minaturvögelchen aus Email oder mit schlagenden Flügelchen aus echten Federn tanzend und tirillierend zu bewegen; da sieht man einen kostbar besetzten Parfümzerstäuber in Form einer Kolbenpistole, bei dem das Ablesen einer versteckt eingebauten Zifferblatt nur ein Nebenprodukt ist; oder ganz kleine Uhren, in denen zur vollen Stunde ein Akrobat auf hohem Seil zu tanzen beginnt.
Über Jahrzehnte ist es Abraham Louis Breguet aus Paris mit seinen Söhnen und Schülern, der in schlichtester äußerster Funktionalität unerreichte Präzionswerke schuf. Er schaffte es sogar, 1806, während der napoleonischen Kontinentalsperre, für den englischen König George III. ein Meisterwerk auf die Insel zu liefern. Breguet ist auch 1795 das Tourbillon zu verdanken, welches die Ganggenauigkeit von Taschen- und Armbanduhren unabhängig von der Schwerkraft werden ließ.
Eine der spektakulärsten Uhren der Welt ist seine so genannte «Marie Antoinette». Sie wurde zwar schon 1783 in Auftrag gegeben, war aber erst lange nach dem schmachvollem Ende der Königin auf dem Schafott, nach mehr als 44 Jahren Herstellungszeit, fertig gestellt. Alle Reibungsflächen sind hier mit Edelsteinen besetzt, und in ihr sind alle erdenklichen uhrmacherischen Komplikationen vereinigt, sogar einer der ersten Selbstaufzugmechanismen, der durch ein drehbar gelagertes Platingewicht ermöglicht wird.
Anfang des 19. Jahrhunderts wurde Genf ein Zentrum für hochpräzise Taschenuhren und Spieluhren mit polychromer Emailmalerei. Schon 1777 hatte hier Jean-Moïse Pouzait als Direktor der ersten Uhrmacherschule den Mechanismus für den Antrieb des Sekundenzeigers erfunden. Somit gilt Pouzait als Schöpfer der «Springenden Sekunde», welche die klassische Tick-Tack-Bewegung des Sekundenzeigers bezeichnet. Beliebt waren im Laufe des 19. Jahrhunderts auch so genannte à tact- Uhren, die so konzipiert wurden, dass sich die Zeit nicht nur von Blinden tastend erfassen ließ, sondern auch im Dunkel oder bei einer Versammlung, bei welcher das Auf-die-Uhr-Blicken (wie heute noch) für unschicklich gegolten hätte.
Die Schweiz und die USA wurden dann auch der Motor für die Massenproduktion von Uhren in der Folge der Industrialisierung. Einen nicht unerheblichen Einfluss hatte der 1. Weltkrieg auf die Ablösung der Taschenuhr, die an einer Kette in die Seitentasche des Dreiteilers gesteckt wurde, durch die Armbanduhr heutigen Stils. Schließlich ist ja auch die Entwicklung von Armbanduhr ein Indiz der Dynamisierung des Lebens, ermöglichte sie es doch, mit einem einzigen raschen Blick von der Seite auf das Handgelenk die Zeit abzulesen. In den 30er-Jahren des 20. Jahrhundert wurden bereits doppelt so viele Armbanduhren getragen wie klassische Taschenuhren. In der Folgezeit gewannen sie an Sportlichkeit. Sie wurden wasserdicht und abgeschirmt gegen Magnetfelder. Die einschneidendste Neuerung allerdings in der Entwicklung der Kleinuhren war das Aufkommen der Elektro- und vor allem Quarzuhren. An preiswerter Produktion und Ganggenaugkeit waren sie nicht mehr zu überbieten. Gesteigert wurde der Hang zur ultragenauen Messung nur noch durch die Atomuhr wie die in Braunschweig. Ihr Fehler soll maximal eine Sekunde in einer Million Jahren betragen. Spätestens Ende der 70er-Jahre schien damit eine jahrhundertealte Tradtion der mechanischen Uhrmacherei wie hinweggefegt. Doch es kam bekanntlich anders. Das folgende Jahrzehnt war nämlich geprägt von einer Rückwendung, und, wie die Fülle an ganzseitigen Anzeigen in Zeitungsbeilagen beweist, entwickelte sich bis in unsere Tage hinein ein expandierender Markt für Vintage- und Luxusarmbanduhren. - Das Problem einer heillosen Dynamisierung aller Lebensbereiche ist freilich geblieben.
Titel: Die Geschichte der Uhr. 100 Uhren aus 500 Jahren
Autor:innen: Alexander Barter; Daryn Schnipper
Vergal: Prestel, München, London, New York 2023
Abmessungen: 24.8 x 3.1 x 30.8 cm
Gebundene Ausgabe: 304 Seiten
ISBN-10:3791379763
ISBN-13:978-3791379760
Preis: 69 €