Buchrezensionen

Alexander Braun: Winsor McCays Little Nemo. Gesamtausgabe 1905-1909, Taschen Verlag 2017

Ein Bett mit unendlich langen Beinen, riesenhafte Käfer, exotische Meerjungfrauen, Drachen, Affen im Frack – diese und andere Wunderwesen bevölkerten ab 1905 die Sonntagsausgaben des New York Herald und später des New York American. Mit der Gesamtausgabe hat Alexander Braun nun endlich alle Ausgaben des Comics zusammengetragen. Stefanie Handke hat das beeindruckende Werk gelesen.

Hält man den Band das erste Mal in Händen – eine Hand reich beim besten Willen – so ist man bereits beeindruckt. Die Comics des »Little Nemo in Slumberland« liegen nun in der deutschen Ausgabe komplett für die Jahre 1905 bis 1909 vor. Und das im Originalformat! So entstanden ist ein Buch mit enormen Ausnahmen, eben dem Format einer Tageszeitung, das den Leser zunächst einmal vor eine Mammutaufgabe stellt: Den, für das große und gewichtige Werk einen Platz zum Lesen zu finden (und es an Ort und Stelle zu tragen). Am Ende bleibt der Rezensentin nur ein: Ab auf den Wohnzimmerteppich damit, denn nur dort ist Platz für Buch und Buchliebhaber.

Dann aber, wenn man sich an Ort und Stelle begeben hat, wenn man die Buchdeckel endlich aufschlägt, öffnet sich die Welt des kleinen Nemo. In den Comics erlebt er stets im Traum fantastische Abenteuer bei dem Versuch, Slumberland, das Land des König Morpheus zu erreichen. Dort will er der Spielgefährte der Prinzessin werden, gerät jedoch vor Erreichen des Traumreiches stets in ausweglose Situationen, aus denen er schreiend erwacht: Mal stürzt er vom Rücken eines fliegenden Pferdes, mal verwandelt er sich in eine Greis, dann kommt er wieder schlicht zu spät, um die Tore zum Palast des Traumreiches noch offen zu erreichen. Erst 1906 erreicht er endlich das Schlummerland, kann jedoch wiederum nicht die Prinzessin erreichen, denn Flip, der Sohn der Sonne, sorgt dafür, dass der Junge erwacht. Er ist wenig beliebt im Schlummerland und möchte genauso gern wie Klein-Nemo der Spielgefährte der Prinzessin werden. Beliebt ist er allerdings wenig und das hat seine Gründe, scheut er doch nicht vor allerlei Gemeinheiten zurück, um seinen Konkurrenten am Erreichen des Palastes zu hindern – bis er schließlich zum Gefährten des träumenden Abenteurers wird und ihn z.B. auf einer Reise zum Mars begleitet. Neben Figuren wie Dr. Pill, Candy Kid oder dem Weihnachtsmann.

Je eine Seite widmete die Zeitung jeden Sonntag den Abenteuern des kleinen Jungen gewidmet, auf der er seine grotestken Abenteuer erleben durfte. Was dabei heute noch verblüfft, ist Winsor McCays Fantasie und seine surrealen Visionen. Auch technisch setzte er mit »Little Nemo in Slumberland« Maßstäbe und könnte genauso gut auch ein moderner Zeichner sein. Was dank des Comicbooms sowohl in der Kunst- und Mediengeschichte als auch in der Popkultur der letzten Jahre wieder mehr ins Bewusstsein rückt, das beweisen auch die Werke Winsor McCays: Comics sind nicht nur etwas für Kinder. Der Zeichner selbst bezeichnete eine seiner anderen Serien, »Dream of a Rarebit Friend« als »an adult entertainment«. Little Nemo mag da kindgerechter sein, jedoch zeugt auch er von wundersamen Visionen und von einer Beschäftigung mit dem Unterbewussten. Nicht umsonst ist der kleine Junge in einem Traumreich unterwegs, in dem die seltsamsten Wesen und Umgebungen auf ihn warten, aufwendige Architekturen und eine oft ausufernde Flora auf ihn warten. Diese Beschäftigung mit dem Unterbewussten hob die Comics Winsor McCays deutlich von denen seiner Zeitgenossen ab, die eher auf simple Komik setzten. Die Geschichte des Little Nemo war da doch eine andere. Zwar geschahen dem Kind Missgeschicke, jedoch hatten diese nichts mit Slapstick oder Komödie zu tun, sondern waren oft höchst dramatisch, etwa wenn er von einem Wald aus Stangen aufgespießt zu werden drohte, wenn riesige Pilze zerbrachen und ihn unter sich begruben oder wenn er aus einem Beiboot geschleudert wurde, weil ein Wal es mit seiner Flosse zerschlagen hatte.

Das monumentale Buch bietet jedoch nicht nur die gesamten Comics rund um den kleinen Nemo, Herausgeber Alexander Braun hat ihnen einen fast 150 Seiten umfassenden Essay zu Leben und Wirken des Autors vorangestellt. Darin – in handlicherem Format eigentlich schon selbst ein eigenes Buch wert – untersucht er etwa die Einflüsse Sigmund Freuds auf das Werk Winsor McCays und beleuchtet freilich auch die anderen bedeutenden Werke des Zeichners: »Dream of a Rarebit Friend«, »Little Sammy Sneeze« oder »A Pilgrim's Progress«. Freilich thematisiert er darin auch die visionären Arbeiten, etwa die Experimente mit Zeichtentricktechniken. Bereits 1911 erschien »Little Nemo a.k.a Winsor McCay, the Famous Cartoonist of the N.Y. Herald and His Moving Comics«, dem weitere folgen sollten. Der bekannteste ist sicherlich »Gertie the Dinosaur« (1914); und auch ein Dokumentarfilm, »The Sinking of theLusitania« findet sich im Werkverzeichnis McCays. Dieser war jedoch nicht unumstritten, denn Auftraggeber William Randolph Hearst galt als »Spokesman of the Kaiser« und vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges bekam der Film ein gewisses Geschmäckle.

In seinem Essay beleuchtet Braun also nicht nur das Leben Winsor McCays, sondern nimmt sich die Zeit für eine ausführliche Untersuchung all seiner Einflüsse, seiner Zeitgenossen und des historischen Kontextes, in dem der Zeichner seine Comics und sodann auch seine Zeichentrickfilme entwickelte. Was dabei nicht vergessen werden sollte: unter den Zeitgenossen waren Slapstick-Serien wie »The Katzenjammer Kids« von Rudolph Dirks populärer. Aus der Zeitungswelt der ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts scheinen sie aber schwer wegzudenken.

Alles in allem bleibt der Leser mehr als zufrieden zurück: Nicht nur bietet der riesige Band das Vergnügen der gesamtem Little Nemo-Reihe, sondern auch einen umfangreichen Essay, der ihr Umfeld umfassend beleuchtet. Damit leistet Alexander Braun einen wichtigen Beitrag zur Comicgeschichte.

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