Wassily Kandinsky (1866-1944) war einer der wichtigsten Lehrer am Bauhaus, sein Unterricht ist bisher jedoch nur in Teilen erforscht und dokumentiert. Zwei neue Publikationen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, widmen sich nun dem Thema. Rainer K. Wick hat sie sich vorgenommen.
Dass es Wassily Kandinsky nicht nur mit seinen Werken, sondern auch dank seiner publizistischen Aktivitäten gelungen ist, sich in die Kunstgeschichte als Begründer der gegenstandslosen Kunst einzuschreiben, ist allgemein bekannt. Sein Buch »Über das Geistige in der Kunst« von 1911 wurde zur Programmschrift der Moderne im frühen 20. Jahrhundert, seine Beiträge in dem gemeinsam mit Franz Marc 1912 herausgegebenen Almanach »Der Blaue Reiter« zeigten den Künstler in der ersten Reihe der Avantgarde, und mit »Punkt und Linie zu Fläche« (1926) publizierte Kandinsky so etwas wie eine Grammatik der modernen, gegenstandslosen Kunst, die als Zwischenbilanz seiner Lehrtätigkeit gelesen werden kann.
Obwohl von Hause aus kein Pädagoge, hat der Künstler früh begonnen, als Lehrer zu wirken, zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunächst in München, wo er in seiner privaten Kunstschule Phalanx Malunterricht erteilte, nach der Oktoberrevolution in Moskau als Professor an den als WCHUTEMAS bekannten Moskauer Höheren künstlerisch-technischen Werkstätten. 1922 kam er als Lehrer an das Staatliche Bauhaus in Weimar. Dem pädagogischen Denken und der praktischen Unterrichtstätigkeit des Künstlers wurde in der Forschung allerdings nur selten Aufmerksamkeit zuteil, sieht man einmal von der verdienstvollen Untersuchung »Kandinsky-Unterricht am Bauhaus« von Clark V. Poling aus dem Jahr 1982 ab.
Zwei neue Publikationen versuchen, hier Abhilfe zu schaffen: Alexander Graeff, der sich im Netz als Schriftsteller, Philosoph und Pädagoge präsentiert, mit seiner im vergangenen Jahr veröffentlichten Dissertation »Kandinsky als Pädagoge«, und das Berliner Bauhaus-Archiv mit dem Katalogbuch »Wassily Kandinsky. Lehrer am Bauhaus« anlässlich der gerade in Berlin zu Ende gegangenen gleichnamigen Ausstellung.
Graeffs in seinem Blog geäußertes etwas befremdliches Statement, dass ihn die Abfassung seiner »328 Seiten fette[n] Dissertation [...] sowohl schriftstellerisch als auch philosophisch [...] enorm gefordert [habe und dass er dabei] manche Federn« lassen musste, ist sicherlich keine sonderlich motivierende Einladung, sich auf die Lektüre seines Buches einzulassen. Und tatsächlich: auch der interessierte Leser hat angesichts einer mit manch erziehungswissenschftlichem Ballast überfrachteten akademischen Qualifikationsschrift am Ende einer strapaziösen Lektüre den Eindruck, Federn gelassen zu haben, zumal das, was Kandinsky in seinem Unterricht praktisch gelehrt hat und wie er methodisch vorgegangen ist, letztlich nicht vertiefend ausgelotet wird. Vielmehr konzentriert Graeff sein Erkenntnisinteresse auf Kandinsky als einen »von den Diskursen der Zeit um 1900 geprägten Pädagogen, im Besonderen als einen Rezipienten und Verfechter reformpädagogischer Ideen«. Der Autor bettet diesen Ansatz zutreffend in den übergreifenden Kontext der Lebensreformbewegung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts ein, er setzt sich mit Kandinskys kritischer Haltung zum Positivismus und Materialismus auseinander, thematisiert folgerichtig die okkult-esoterische Gegenposition des Künstlers und analysiert die »›spiritualistische‹ Dimension [seines] pädagogischen Konzeptes«.
Zweifellos ist die Suche nach dem großen Geistigen ein zentraler Topos seines u.a. aus Theosophie und Anthroposophie gespeisten Denkens, und die entsprechenden, kenntnisreichen Ausführungen Graeffs zeugen von der intensiven Auseinandersetzung des Verfassers mit dem geistesgeschichtlichen Umfeld, in dem Kandinsky agierte und aus dem er anfänglich maßgebliche Anregungen bezog. Dass Graeff dabei nicht selten über das Ziel hinausschießt, wird allerdings deutlich, wenn er beispielsweise den Künstler zum »Volkserzieher« stilisiert, der dem Ziel der Schaffung eines »Neuen Menschen« verpflichtet gewesen sei. Zwar war die Idee der sogenannten Volkserziehung in der reformpädagogischen Debatte der vorletzten Jahrhundertwende allgemein verbreitet, und die Erziehungsutopie eines »Neuen Menschen« für eine bessere, humanere, sozial gerechtere Gesellschaft war in der Gründungsphase des Bauhauses ein allgegenwärtiger Topos.
Obwohl sich Kandinsky immer wieder zu pädagogischen Fragen zu Wort gemeldet hat – sehr pointiert etwa in seinen Essays »Der Wert des theoretischen Unterrichts in der Malerei« 1926 und »Kunstpädagogik« 1928 (beide in der Zeitschrift bauhaus) – wird Graeff diesem Künstler-Lehrer doch kaum gerecht, wenn er ihn fast durchgängig in reduktionistischer Weise pädagogisiert. Und auch die starke Betonung des Esoterischen, Okkulten, Mystischen und Spirituellen, dessen Bedeutung für das Œuvre der Vorkriegszeit unbestritten ist, trägt nur bedingt zum Verständnis der künstlerischen Lehre Kandinskys und seines Unterrichts am Bauhaus bei. Denn hier spielte spätestens in Dessau unter den Vorzeichen einer zunehmend funktionalistischen und szientistischen Grundorientierung der Schule die rationale Durchdringung der Gestaltungsmittel und Gestaltungsprinzipien eine herausragende Rolle. Ohne den Stellenwert der Intuition zu vernachlässigen, erhob Kandinsky die Forderung, dass »der junge und besonders der anfangende Künstler [...] von vornherein an ein objektives, d.h. wissenschaftliches Denken gewöhnt werden [muss]. Durch Vertiefung in die Elemente, welche die Bausteine der Kunst sind, bekommt der Studierende – außer der Fähigkeit des logischen Denkens – die notwendige innere Fühlung zu den Kunstmitteln [...]«. Und an anderer Stelle:»Ich verlange von meinen Schülern, dass sie sehr genau denken, dass sie rein kopfmäßige Übungen exakt machen, wir besprechen die gelieferten Arbeiten auch rein theoretisch«.
Im Unterschied zur Studie von Alexander Graeff mit ihren oft weitschweifigen weltanschaulichen Betrachtungen und ausufernden bildungstheoretischen Exkursen macht das von Magdalena Droste für das Bauhaus-Archiv in Berlin herausgegebene Katalogbuch »Wassily Kandinsky. Lehrer am Bauhaus« sehr gut nachvollziehbar, wie der Bauhaus-Unterricht des Künstlers konkret ausgesehen hat. Um dies zu zeigen, werden Lehrmanuskripte aus den Beständen des Getty Research Institute in Los Angeles, im Unterricht von Kandinsky benutztes Abbildungsmaterial aus dem Fonds Kandinsky im Centre Pompidou in Paris sowie Unterrichtsmitschriften, Übungsarbeiten und Briefe der Studierenden aus dem Bauhaus-Archiv in Berlin herangezogen. In dem reich bebilderten Katalogbuch kann der Leser Kandinsky »als verehrten und verständnisvollen Meister, als undogmatischen Analytiker, spirituellen Impulsgeber und Inspirator, aber auch als abgehobenen, oft frei assoziierenden Theoretiker« entdecken – so die Direktorin des Bauhaus-Archivs Annemarie Jaeggi.
Magdalena Droste, die lange am Bauhaus-Archiv tätig war und nun seit fast zwanzig Jahren in Cottbus Kunstgeschichte lehrt, stellt unter der Überschrift »Der pragmatische Professor« Kandinskys Lehralltag unter drei Direktoren vor. Dabei zeigt sie, wie sich die diversen Kurswechsel des Bauhauses zwischen 1922 und 1933 auch in Kandinskys Lehre niederschlugen – von seiner Tätigkeit als Formmeister in der Werkstatt für Wandmalerei, seinen Kursen »Analytisches Zeichnen« und »Abstrakte Formelemente« über das »Farbseminar« bis hin zur Freien Malklasse. Karl Schawelka, der bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand an der Bauhaus-Universität in Weimar Professor für Geschichte und Theorie der Kunst war, unterzieht die Farbenlehre Kandinskys einer kritischen Betrachtung. Er macht deutlich, dass aus der Sicht der heutigen Farbforschung (und sogar schon vor der Folie der naturwissenschaftlich und physiologisch fundierten Farbtheorien der damaligen Zeit) manche Sachaussagen Kandinskys unhaltbar waren, dass der Erfolg seiner Lehre aber aus der enormen Suggestion von Gesetzmäßigkeit, Exaktheit und Wissenschaftlichkeit resultierte, die Kandinsky zu vermitteln verstand. Denn spätestens ab 1923 und seit Gropius‘ Postulat einer neuen Einheit von Kunst und Technik war Wissenschaftlichkeit eine maßgebliche Bezugsgröße der Bauhaus-Pädagogik, auch wenn es sich tatsächlich oft um pseudowissenschaftliche Praktiken handelte, wie beispielsweise Kandinskys berühmt gewordene, allerdings von naivem Empirismus zeugende Umfrage bezüglich der Zusammenhänge zwischen den Grundfarben Blau, Rot und Gelb und den Grundformen Kreis, Quadrat und Dreieck belegt.
Neue Einsichten in die Lehrtätigkeit Kandinskys bietet der Beitrag der Kunsthistorikerin Angelika Weißbach, die auch die Berliner Ausstellung kuratiert hat. Gegenstand ihres Essays ist die mehrere hundert Abbildungen umfassende Materialsammlung aus den Bereichen der Bildenden Kunst, des Theaters und des Tanzes, der Industrie und der Technik sowie aus fernen Kulturen und aus der Pflanzenwelt und dem Tierreich, die Kandinsky für seine Lehre zusammenstellte und ab 1928 in seinem Unterricht als Anschauungsmaterial nutzte. Angelika Weißbach sieht hier eine Parallele zu Aby Warburgs berühmten Bilderatlas »Mnemosyne«, auch wenn Kandinskys Materialsammlung kleiner gewesen ist und sich hinsichtlich Inhalt und Zielsetzung deutlich von jener Warburgs unterschied. Paul Weber, zu dessen Forschungsschwerpunkten neben Duchamp und Mies van der Rohe auch Kandinsky gehört, analysiert in einem abschließenden, höchst elaborierten Beitrag die Pädagogik des Künstlers »aus der Perspektive seiner Theorie der Verschiebung«. Verschiebung meint in der Terminologie Kandinskys eine Praxis des Freilegens der »tragenden und massgebenden Konstruktionsgesetze« historischer Werke und deren Übersetzung in eigene, abstrakte bzw. gegenstandslose Werke, was Weber an einer Reihe von Einzelbeispielen detailliert nachweist. Unterrichtsmanuskripte und Schülermitschriften belegen, dass Kandinsky diese Strategie im Rahmen des »Analytischen Zeichnens« auch in seinen Bauhaus-Unterricht eingebracht hat.
Mit dem Katalogbuch »Wassily Kandinsky. Lehrer am Bauhaus« ist eine Publikation erschienen, die zahlreiche neue Einsichten in das facettenreiche kunstpädagogische Wirken des Malers bietet. Schade nur, dass das Layout, die Typographie und die buchbinderische Verarbeitung (der Buchrücken fehlt, was kein Versehen, sondern Absicht ist ) offenbar dem Wunsch der Gestalter geschuldet sind, auf jeden Fall aufzufallen und originell zu sein. Etwas mehr bauhäuslerische Sachlichkeit hätte hier sicherlich nicht geschadet.
Die Publikationen können über den Shaker Verlag bzw. das Bauhaus-Archiv / Museum für Gestaltung bezogen werden.