Im vorliegenden Katalog rückt der Hirmer Verlag mit Georgia O’Keeffe (1887-1986) eine in der europäischen Kunstszene selten in Erscheinung tretende amerikanische Künstlerin ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Ziel ist es, die Leser auf Leben und Werk dieser beeindruckenden Persönlichkeit neugierig zu machen und an deren außergewöhnliches – und leider oft einseitig gedeutetes – Schaffen heranzuführen. Verena Paul hat sich die Publikation für Sie angeschaut.
»Meine Welt ist sehr anders … Sie ist sehr kahl, sehr leer. Sie erstreckt sich über die ganze Welt«, äußert Georgia O’Keeffe 1960 und beschreibt in wenigen, aber umso treffenderen Worten die Lebenswirklichkeit in New Mexiko, die in ihrem Werk zusehends an Bedeutung gewinnt. Um jedoch Leben und Wirken der Künstlerin besser verstehen zu können, stellt Barbara Buhler Lynes beides in ihrem spannend zu lesenden Beitrag »Georgia O’Keeffe, ein amerikanisches Phänomen – Fragen der Identität« vor und führt zugleich jene Person ein, die erheblich zu O’Keeffes Erfolg beim amerikanischen Publikum beigetragen hat: der Fotograf und Galerist Alfred Stieglitz.
Daran anknüpfend widmet sich Sarah Greenough in einem beeindruckend geschriebenen Aufsatz »Das Innerste berühren« der keineswegs einfachen Beziehung zwischen Georgia O’Keeffe und Alfred Stieglitz. Wie vielschichtig deren Verhältnis war, zeichnet sich bereits in den einleitenden Sätzen der Autorin ab: »Mentor und Muse, Mann und Frau, Kunsthändler und Protegé; vor allem aber Liebende und Streiter für eine gemeinsame Sache, einander Quellen überschwänglicher Freude und tiefer Inspiration, aber ebenso Anlass von Frustration, Kummer und sogar Demütigung: Dies sind nur einige der Wörter, mit denen man die lange und komplexe Beziehung« jenes Künstlerpaares charakterisieren könnte. Indem Buhler Lynes und Greenough sowohl den Menschen als auch die Künstlerin Georgia O’Keeffe vorgestellt haben, können nachfolgende Untersuchungen daran anknüpfen und sich den Arbeiten in den verschiedenen Werkphasen besser zuwenden.
So rückt Walter Grasskamp in seinem Beitrag »Blumen für Georgia« das künstlerische Schaffen O’Keeffes ins Zentrum, die nicht wie vorhergehende Generationen amerikanischer Künstler in Europa studiert oder eine Bildungsreise dorthin gemacht hatte. Der Autor zieht Vergleiche mit anderen Künstlern (etwa Piet Mondrian) und erläutert, weshalb die mit O’Keeffe zuforderst assoziierten Blumengemälde zu Unrecht »Ausdruck einer weiblichen Sexualität und erotisch codierten Malerei« sind. Denn mit jenen »auffällig konturierten und proportionierten Blumenbildern hatte O’Keeffe die Mitte zwischen der Sachlichkeit einer fotografischen Großaufnahme und der malerischen Faszination des Botanischen gefunden«, so dass derjenige die Arbeiten missversteht, der sie auf eine erotische Aussage reduzieren möchte. Kunsthistorisch viel interessanter ist, dass die Künstlerin sich gerade mit dem Blumenmotiv vom floral erstarrten Jugendstil distanzierte. Zudem lassen ihre verschiedenen Malstile, die »variationsfreudige, aber als charakteristisch kenntliche Farbabstimmung sowie Motivwahl« das Œuvre – so das pointierte Urteil Grasskamps – »in seiner Verschiedenheit des Gleichzeitigen als solitär erscheinen.«
Mit »Genius Loci« eruiert Carol Troyen ein weiteres das Werk prägendes Element: Die Bedeutung des Ortes bei O’Keeffe und den Künstlern des Stieglitz-Kreises. Neben Lake George und New York in den Anfängen und der mittleren Werkphase ist es ab den 1940er Jahren New Mexiko, das die Kunst Georgia O’Keeffes beeinflusst und so schien es der Autorin – und zwar zu Recht – überaus fruchtbar, die O’Keeffeschen Bilder mit denen von Künstlern aus ihrem unmittelbaren Umfeld in Vergleich treten zu lassen. Besonders ertragreich gestaltet sich der künstlerische Dialog in New Mexiko mit den Werken Ansel Adams, Paul Strands und John Marins – aber auch mit den fotografischen Arbeiten ihres Mannes Alfred Stieglitz. Das Spannende an der Gegenüberstellung der verschiedenen künstlerischen Positionen sind primär die Äquivalente, die Carol Troyen in dem Satz bündelt: »Durch die Fähigkeit des Künstlers, ‚das Bild zu sehen’, verewigt jedes dieser Bilder den jeweiligen Ort und enthüllt seine universelle Bedeutung.« Denn bereits vor dem Entstehungsprozess ist der Ort beziehungsweise die Landschaft Werk des Geistes, angereichert nicht nur mit jenen haptisch erfahrbaren Bestandteilen, sondern ebenso mit den Erinnerungs- und Assoziationsschichten der Künstler.
Abschließend tragen Christiane Lange und Karin Koschkar in ihrem Aufsatz »‚Ich lebe lieber mein Landleben…’ oder warum Werke von Georgia O’Keeffe in Europa bis heute selten zu sehen sind« die Fakten zusammen, »wann welche Werke zu welcher Gelegenheit an welchen Orten in Europa zu sehen waren oder bis heute sind«. Hierbei interessierten sich die Autorinnen – und damit runden sie den Katalog sehr schön ab – für die Reaktionen der verschiedenen Rezipienten, die in »Profis« und »Amateure« geschieden werden.
Resümee: Dem Hirmer Verlag ist mit »Georgia O’Keeffe. Leben und Werk« eine ganz wunderbare Publikation gelungen, die uns in die kraftvollen, geheimnisvoll entrückten und zugleich die Lebenswirklichkeit der Künstlerin spiegelnden Bildwelten hineinreißt. Dergestalt können die Arbeiten neu entdeckt und schließlich durch ergänzende Lektüre der anregend geschriebenen, wissenschaftlich fundierten Aufsätze besser verstanden werden. Ein packendes Buch, das zum genussvollen Schmökern einlädt und das ich an dieser Stelle allen Liebhabern von Gedanken anstoßender, kraftvoller, authentischer Kunst des 20. Jahrhunderts empfehlen möchte!