Ausstellungsbesprechungen

Bittersüße Zeiten. Barock und Gegenwart in der SØR Rusche Sammlung Oelde/Berlin, Kunsthaus Apolda Avantgarde, bis 15. März 2015

Heiter, deftig, unheimlich, geheimnisvoll und zuweilen auch verstörend sind die Werke der Sammlung Rusche, die noch bis Sonntag in Apolda gezeigt werden. 130 Arbeiten barocker und zeitgenössischer Künstler verlinken zwei scheinbar völlig verschiedene Zeiträume. Doch merkt man schnell: Die Unterschiede sind nicht so groß, wie man meinen möchte. Rowena Fuß weiß mehr.

Eine Bordellszene, wie man sie im 17. Jahrhundert wohl hundertfach malte: Dirne, Kupplerin und Freier an einem Tisch bei der Geschäftsabwicklung. Und doch beinhaltet das etwa A3-große Bild des Niederländers Henrik Gerritsz. Pot etwas mehr als bloße zwielichtige Frivolitäten. Es liegt an der Dirne, dem Lichtpunkt der Komposition. Sie lächelt etwas verkrampft als der Soldat mit dem speckigen Gesicht ihr an den Busen grapscht. Dieser ist ebenso wie die alte Kupplerin in den Schatten des Hintergrundes getaucht. Er hat den Uniformrock und seinen Säbel bereits abgelegt. Austernschalen und ein Krug auf dem Tisch neben ihm deuten ummissverständlich auf den Fortgang der Szene hin, wenn er sich mit der Alten über den Preis des Amüsements geeinigt hat. Armes Mädchen, mag man also denken, zur Prostitution gezwungen, weil es anscheinend keinen anderen Ausweg gab.

An anderer Stelle ist man weniger befangen. Geradezu schockiert steht der Besucher vor der kleinformatigen Arbeit von Martin Galle (2010), die einen Gangbang zum Motiv hat. Mitten drin: Pittiplatsch, eine beliebte Figur aus dem Kinderfernsehen, die soeben jede Form von Unschuld verloren hat. Kaum weniger drastisch ist im angrenzenden Raum die Vergewaltigung einer dunkelhaarigen Frau durch den geisterhaften Mr. Ectoplasm, erzählt in einer Bildergeschichte bestehend aus 14 Blättern.

Man kann kaum zählen, wie viele Eindrücke die insgesamt sieben Räumen bereit halten. Eins ist jedoch schnell klar: Kalt lässt einen nichts davon. Der stete Wechsel von subtilen Andeutungen und sprichwörtlich nackten Tatsachen ist gerade im Obergeschoss besonders drastisch. Und doch ist es erstaunlich, wie gut sich alte und neue Kunst aneinander fügen.

Auch wenn man im Barock kaum von einer Bilderflut sprechen kann, so, wie wir sie heutzutage kennen, war diese Epoche doch ebenso sehr visuell geprägt. »Allein für den Zeitraum von 1550 bis etwa 1800 wurden knapp eine Million schaffende Künstler in den Niederlanden nachgewiesen«, erklärt Kuratorin Andrea Fromm. Jeder besaß Bilder – ob kostbare Gemälde oder preisgünstig reproduzierte Drucke.

In der Familie Rusche, die als Leihgeber der Ausstellung fungiert, wird seit Mitte des 19. Jahrhunderts Kunst mit dem Schwerpunkt auf holländischer und flämischer Barockmalerei gesammelt. Seit den 2000ern fügt Thomas Rusche, Sammler der vierten Generation, auch immer wieder zeitgenössische Positionen hinzu. Gemeinsam ist allen Werken alter und neuer Meister ihr programmatischer Ansatz. Gezeigt werden Bild gewordene Kommentare über die Beschaffenheit der jeweiligen Gegenwart, das gesellschaftliche Miteinander und daraus resultierender Konflikte sowie ganz individuelle Erfahrungen.

Ein zentrales Kabinett bildet – wie könnte es anders sein – die Abteilung »Menschenbilder«. Clowneske Fratzen bei George Condo, Jim Butler und Paul Pretzer machen nicht nur die dargestellten Menschen zu Abziehbildern ihres Selbst, sondern zu Zerrbildern idealer Vorstellungen, die per Glotze oder Internet vermittelt werden. Scharfe Kritik an solcherart verbreiteten Gesellschaftsbildern übt das österreichisch-israelische Künstlerduo Markus Muntean und Adi Rosenblum in ihrer Arbeit »Life is just a short period of time in which you are alive«. Wie in Trance sitzt ein Junge auf dem Wohnzimmerboden. Vermutlich flimmert ein Konsolenspiel über den Bildschirm eines Fernsehers, der sich außerhalb des Bildes befindet. Wir sehen lediglich das Verbindungskabel. Im Hintergrund liegt – hingestreckt auf dem schwarzen Ledersofa – eine nackte Frau. Vielleicht ist es die Mutter des Kindes, die ihren Rausch ausschläft. Man bekommt es nicht zu erfahren. Augenscheinlich ist jedoch die Beziehungslosigkeit und Gefühlskälte zwischen beiden. Dem Jungen scheint die Frau völlig egal zu sein. Er hat sich von dieser Realität bereits verabschiedet und weilt an ganz anderen Orten.

Auch die blonde kleine Hauptprotagonistin im blauen Glitzerfummel bei Justine Otto tut das. Ihr nach oben gerichteter, beklommener Blick zeigt aus dem Bild heraus. Was immer es auch ist, dass sie unsicher macht, bleibt für den Betrachter unsichtbar im Zwischenraum zwischen Heute und Morgen. Unser »Lonestar I« ist eine Chimäre aus Mädchen und Frau, die Sehnsüchte wie auch Ängste und weibliche Rollenklischees verkörpert.

Allein die Detailfülle vieler Bilder lohnt den Besuch. Immer wieder gibt es etwas Neues zu entdecken. Die Infotexte an den Wänden der jeweiligen Kabinette liefern zudem genügend zusätzliche Auskünfte, um Beziehungen zwischen dem seltsamen Gemenge aus Gestern und Heute in den Gemälden, Grafiken und Skulpturen herstellen zu können.

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