Rezensionen

David Wendland (Hg.): Entwurf und Planung spätgotischer Gewölbe und ihrer Einzelteile. Steinerne Ranken, wunderbare Maschinen. Michael Imhof Verlag

Im Laufe des 15. und 16. Jahrhunderts hat die Herausforderung, steinerne Deckenkonstruktionen zu entwickeln, zu immer komplexeren Lösungen geführt. Hinsichtlich ihrer Struktur und ihres Entwurfs äußerst anspruchsvoll, zählen diese ambitionierten, oft gewagten Konstruktionen zu den großen Meisterwerken der Architektur. Die vorliegende Publikation stellt ein neues, vollständiges Bild der Planung spätgotischer Gewölbe vom Gesamtkonzept bis zum Anreißen und Fertigen der einzelnen Bauteile zur Diskussion. Spunk Seipel hat sich darin vertieft.

Cover © Imhof Verlag
Cover © Imhof Verlag

Spätgotische Gewölbe des 15. und 16. Jahrhunderts gelten mit ihren verzweigten, komplexen Strukturen als Wunderwerke der Architektur. Doch: Je mehr man sich mit ihnen befasst, um so mehr Fragen stellt man sich über die Statik und die Planungspraxis, die uns heute ohne aufwändige Computerprogramme unrealisierbar erscheinen.

In einem fünfjährigen Forschungsprojekt (2012–2017) haben sich David Wendland (seit 2019 Professor für Bautechnikgeschichte, Brandenburgische Technische Universität Cottbus–Senftenberg), die Bautechnikerin María José Ventas Sierra sowie die beiden Kunsthistoriker Alexander Kobe und María Aranda Alonso damit befasst, wie Form und Funktion der Gewölbeschalen miteinander verknüpft waren, wie Tragwerk und Gewölbe die Proportion des gesamten Baukörpers beeinflussten, wie es den gotischen Baumestern gelang die Schwierigkeiten bei der Planung der komplexen räumlichen Rippennetze zu überwinden sowie Anweisungen für die Herstellung der einzelnen Bauteile und deren Montage zu formulieren, und gekrümmte Flächen in den Gewölben zu errichten, die den Gleichgewichtsbedingungen dieser räumlichen Tragwerke entsprechen.

Mit den publizierten Erkenntnissen stellen die vier Autor*innen nun die Forschungspraxis vieler Kunsthistoriker in Frage. Denn in den letzten Jahrzehnten wurden gotische Kirchen weniger konstruktionstechnisch als unter zahlenmythischen Aspekten analysiert (was zuweilen ins Esoterische abgleitet und nicht immer zur Klärung der architektonischen Probleme beiträgt).
Dabei kann das Verständnis, wie solche Gewölbe geplant und gebaut wurden, ein wichtiger Beitrag zur Interpretation sein: »Neben der stilgeschichtlich orientierten Architekturgeschichte, die auf Abgrenzung und Unterscheidung abhebt, wäre auch eine Geschichte des Entwerfens, Planens und Konstruierens zu schreiben, die dann auch die Kontinuität in der Entwicklung von den Großbauten und anspruchsvollen Werksteinkonstruktionen des frühen Mittelalters bis zur Werksteinarchitektur der Neuzeit betrachten müsste.« (David Wendland)

Es hätte den Rahmen des Forschungsprojekts gesprengt, hätte man zusätzlich über die bildhafte Bedeutung der Rippengewölbe geforscht, die zum Beispiel in der Nürnberger Lorenzkirche im Chor eine Anspielung auf den Namenspatron und sein Martyrium darstellen. So konzentrieren sich die Autor*innen in diesem Buch auf rein konstruktionstechnische Aspekte, was nicht zuletzt für Restauratoren von großer Bedeutung ist, da die Natur der Kurven und Flächen das Erscheinungsbild des Bauwerks wesentlich bestimmen.

Die erste Hürde dabei: Es gibt kaum originale Quellen, wie die gotischen Baumeister ihre Gewölbe planten. Wie konnten sie die nötigen Anweisungen an die Handwerker aus den unterschiedlichen Gewerben für die passgenaue Herstellung der einzelnen Rippenstücke formulieren?
Für die Autor*innen des vorliegenden Bandes ergibt sich aus dieser Forschungslücke die Schlussfolgerung, am Bau selbst zu forschen, auch und gerade mit experimentellen Methoden.
Die wichtigste Quelle dieser Untersuchungen sind die Bauten selbst, »Reverse Engineering« das Zauberwort, will heißen: Die Forscher*innen arbeiteten rückwärts. Ausgehend von Vermessungen, geometrischen Analysen und Hypothesen wurde der Entwurf direkt vom gebauten Objekt aus entwickelt. Vor allem durch die Analyse charakteristischer Unregelmäßigkeiten in der Form der untersuchten Gewölbe lassen sich so Prinzipien und Vorgehensweisen beschreiben, nach denen das geometrische System der Gewölbe auf der Baustelle festgelegt worden ist. Die umgekehrte Perspektive erlaubt auch einen neuen Blick auf die Quellen zu entwickeln. Denn: Bis dato waren die verschiedenen Etappen des Entwurfs – die Planung der einzelnen Rippensteine sowie die geometrische Definition der Gewölbebögen auf der Baustelle – Gegenstand experimenteller Studien.

Da die Gotik ein europaweites Phänomen ist, das bis nach Südamerika ausgestrahlt hat, liegt die Gefahr nahe, sich in den Untersuchungen an zu vielen Beispielen zu verlieren. David Wendland und seine Kolleg*innen haben sich aber sinnvoller Weise auf die Albrechtsburg in Meissen, an der viele der Fragen zu Konstruktionstechniken von spätgotischen Gewölben geklärt werden können, konzentriert: Ab 1471 von Arnold von Westfalen errichtet ist über den ersten Schlossbau Deutschland nahezu nichts bekannt. Der große Wendelstein im Burghof ist eine hochkomplexe Treppenkonstruktion, die scheinbar nicht nur enge Bezüge zur französischen Schlossarchitektur hat, sondern auch Vorbilder in Italien und vor allem in der Architektur des Veitsdoms in Prag findet. Das berühmte Gewölbe im Wappensaal oder die weißen, kantigen Zellengewölbe im zweiten Obergeschoss machen die Albrechtsburg zusätzlich zu einem idealen Objekt der Forschung.
Hier konnten die Untersuchungen der Mikroarchitektur, wie zum Beispiel der Säulenbasen, interessante Verweise zu ähnlichen Lösungen in Kirchen in Frankfurt am Main, Erfurt, Basel und Straßburg aufweisen und zeigen, wie eng vernetzt die Baumeister waren und wie gut der Informationsfluss zwischen ihnen funktioniert haben muss. David Wendland und Alexander Kobe legen durch ihre detailgenauen Beobachtungen Erkenntnisse für die Forschung vor, die Verbindungen von Baumeistern in der Spätgotik in Mitteleuropa neu aufdecken.

Der Schwerpunkt der Forschung liegt für die Autor*innen allerdings in der Untersuchung zur Statik und Konstruktion. Dafür wurde ein Rippengewölbe der Albrechtsburg mit einem Lehrgerüst nachgebaut und so wichtige Erkenntnisse zur Steinplanung mit biegsamen Schablonen, zu Standardisierungen von Rippensegmenten oder zur geometrischen Formel für das Gleichgewicht der Gewölbe erlangt.

Eindrücklich und reich bebildert macht das Buch nachvollziehbar, wie komplex die Planung und der Bau der Gewölbe waren. Unumstritten zählen die spätgotischen Gewölbe zu den großen Meisterwerken der Architekturgeschichte. Statisch anspruchsvoll in Bezug auf die Tragkonstruktion als auch auf die geometrische Konzeption lassen sie uns heute noch über ihre Planung und Bauweise staunen.
Die Publikation liefert einen wichtigen Beitrag, um die Vorgehensweise der gotischen Baumeister zu verstehen und Restaurierungen historischer Werksteinkonstruktionen in Zukunft fachgemäß durchzuführen. Gleichzeitig hinterfragt das Bauch auch gängige Muster der Interpretation von spätgotischer Architektur in der Kunstgeschichte und macht neugierig, sich wieder intensiver mit der gotischen Architektur insgesamt zu beschäftigen.

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