Rezensionen

Reinhart Strecke: Gotische Kunst und städtische Lebensform. Von Saint–Denis nach Notre–Dame. Lukas Verlag

Ein epochaler Umbruch in Kunst und Geistesleben in der mittelalterlichen Gesellschaft, im Zeichen einer jungen Urbanität. Ein Zeitalter des Aufbruchs und der Erneuerung, von dem kaum einer weiß. So beschreibt Reinhart Strecke die Anfänge der Gotik in ihrer Wiege der Île–de–France. In seinem Buch taucht er in die Welt der Kathedralen ein, verortet deren Sitz im Leben und macht nachvollziehbar welche Strahlkraft dem Bild der gotischen Kathedrale bis heute innewohnt. Ulrike Schuster zeigt sich von diesem Buch beeindruckt.

Cover © Lukas Verlag
Cover © Lukas Verlag

Auf kompakten rund einhundert Seiten erzählt Reinhart Strecke – der Kunsthistoriker war zuletzt Archivdirektor am Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz – von der Geschichte der gotischen Revolution, die sich im zweiten Drittel des 12. Jahrhunderts im Pariser Becken und der umliegenden Region Bahn bricht. Es ist tatsächlich eine Zeitenwende, die weniger bekannt ist als der große Umbruch vom Mittelalter zur Neuzeit, aber nicht weniger folgenreich und bestimmend für den weiteren Verlauf der europäischen Geschichte war. Historiker sprechen vom Übergang vom ersten in das zweite Feudalzeitalter. Die Ursachen hierfür sind komplex, jedoch untrennbar verbunden mit dem Wiedererstarken des französischen Königtums und dem Aufstieg der Städte. Ihren sichtbaren Ausdruck findet die Epoche im künstlerischen Höhepunkt der frühen Kathedralengotik in Frankreich.

Anfang des 12. Jahrhunderts sah sich die Dynastie der Karpetinger, Nachfolger der Merowinger und Karolinger, noch stark durch die Konkurrenz ihrer mächtigen Vasallen, die zunehmend autonom regierten unter Druck gesetzt. Der Kron–Domäne war lediglich ein zusammengeschrumpfter, zudem stark zersplitterter Rest an Herrschaftsgebiet zwischen der Seine und der nördlicheren Oise verblieben. Doch die Mitglieder des Hauses besaßen immer noch ihren Königstitel und die kirchliche Unterstützung durch die Autorität des Papstes. Ludwig VI., gestützt auf seinen wichtigsten Ratgeber, Abt Suger von Saint–Denis, betrieb eine konsequente Politik der Reichskonsolidierung. Dabei kam ihnen der Umstand zugute, dass die Zeiten der Wikingereinfälle sich dem Ende neigten und die nördlichen Schifffahrtsrouten wieder frei wurden für den Handel. Die Stärkung und die Wiederbelebung des Warenverkehrs bildeten wiederum die Basis für Gründung und Wachstum der Städte im karpetingischen Einflussgebiet. Schnell wurde das ökonomische Potential der städtischen Erneuerung erkannt und gefördert, etwa durch Reformen in der Wirtschaftsverwaltung und dem sukzessiven Ausbau von Märkten und Messen. Eine neue Gesellschaftsschicht etablierte sich, und dieses städtische Bürgertum, forderte zunehmend selbstbewusst seine Rechte ein und löste sich aus alten feudalen Zwängen.

Notre-Dame de Paris und Umgebung von Südwesten, 2010 © Wikimedia Commons
Notre-Dame de Paris und Umgebung von Südwesten, 2010 © Wikimedia Commons

In diesem dynamischen Umfeld fand die Initialzündung statt für eine neue Architektur, und obwohl die Anfänge der Gotik bekanntermaßen eng mit dem französischen Königshaus und der Abtei von Saint–Denis verbunden sind, sieht Autor Reinhart Strecke in ihr die bildgewordene Manifestation der sich wandelnden Gesellschaftsordnung. Er verortet die Gotik als eine genuin städtische Architektur, die ihre höchste Stufe der Sublimierung in der Gestalt der Kathedrale erreicht, die wiederum mit ihren himmelhoch strebenden Formen aus der Mitte der Stadt erwächst und die Enge, respektive die durchwegs recht kleinteilige Verbauung des mittelalterlichen Siedlungsgeschehens, überwindet.
Über weite Teile bietet Streckes Buch eine lesenswerte stringente Zusammenfassung über das Phänomen der Gotik und dessen Anfänge. Anschaulich beschreibt er, unter Verweis auf Hans Jantzen – der als Mitbegründer der modernen Gotikforschung gilt – , das gotische Bauprinzip, das sich konsequent aus der Romanik emanzipiert und seine eigene konstruktive Logik entwickelt, so dass mit einem Schlag bis dahin ungekannte Raumkonzeptionen möglich wurden.

Die Kathedrale von Saint–Denis: Saint Durch das Triforium und den Lichtgaden einfallendes Licht © Wikimedia Commons
Die Kathedrale von Saint–Denis: Saint Durch das Triforium und den Lichtgaden einfallendes Licht © Wikimedia Commons

Darüber hinaus sucht der Verfasser den Brückenschlag zum städtischen Alltagsleben. Er verweist beispielsweise auf die sichtbare Freude an erzählerischen Details in Dekor und Bauplastik. Von den Ochsenskulpturen am Turm der Kathedrale von Laon schlägt er den Bogen zum Transportwesen und der logistischen Großleistung, die zur Anlieferung des Baumaterials an den Kathedralenbaustellen notwendig war. Die Menschen dieser Tage, so resümiert er, hätten bei der Darstellung der Ochsen wohl eher an das Spektakel der unzähligen Karren und Fahrzeuge gedacht, als an komplexe theologische Inhalte, wie sie in der Fachliteratur oftmals zur Erklärung dieses ungewöhnlichen Turmfassadenschmucks herangezogen wurden.
Andere Kapitel beleuchten die politischen Schritte auf dem Weg zu einer autonomen Kommunalverfassung oder das aufblühende intellektuelle Leben im Umfeld der sich konstituierenden Sorbonne. Ein vielversprechender Abschnitt über den Wandel des Frauenbilds im städtischen Umfeld endet etwas abrupt, mit dem Verweis auf das populäre Bildthema der klugen und der törichten Jungfrauen in der zeitgenössischen Bauplastik.

Kathedrale von Laon: Zwei der Ochsen am Nordwestturm der Kathedrale Notre-Dame von Laon, Picardie, Frankreich © Wikimedia Commons
Kathedrale von Laon: Zwei der Ochsen am Nordwestturm der Kathedrale Notre-Dame von Laon, Picardie, Frankreich © Wikimedia Commons

Schließlich bleibt die gewichtige Frage – vom Verfasser bereits eingangs aufgeworfen: worin aber bestand die Notwendigkeit für eine neue Form von Architektur? Mit anderen Worten, bildet sich der gesellschaftliche Wandel tatsächlich ab in der Metamorphose der künstlerischen Gestalt? Es ist keine Kleinigkeit, denn Strecke unternimmt nichts Geringeres als einen neuen Deutungsansatz jenseits der geläufigen Interpretationsstrategien von Königskathedralen und dem höfischen Habitus in Form und Ausdruck der jungen Gotik. An die Stelle der königlichen Mäzenaten und der einflussreichen französischen Klöster setzt Strecke den Begriff der Urbanitas. In der Autonomie der selbstverwalteten Städte habe sich intellektuelles und kreatives Potential einer neuen Qualität entwickelt. Zur selben Zeit stand jenseits des Rheins die Romanik noch in voller Blüte, parallel zu den frühen gotischen Kathedralen baute man auf der deutschen Seite an den großen Kaiserdomen. Die rheinischen und oberitalienischen Städte prosperierten im betrachteten Zeitraum nicht weniger als die französischen, jedoch wäre man im Herrschaftsbereich der Staufer noch stärker in den alten Feudalstrukturen verhaftet und weniger offen für Neuerungen gewesen.

Kathedrale Notre-Dame von Chartres: Gesamtansicht © Wikimedia Commons
Kathedrale Notre-Dame von Chartres: Gesamtansicht © Wikimedia Commons

Der Gedanke ist bestechend, doch so einfach ist das Phänomen des Stilwandels natürlich nicht zu fassen. Strecke fordert daher die Neubewertung und eine tiefergehende Analyse der historischen und sozialen Gesellschaftsstrukturen aus kunstwissenschaftlicher Sicht. Die letzten Kapitel seiner Darstellung lesen sich etwas abstrakt. Gleichwohl spürt man das große Hintergrundwissen des Verfassers. Er liefert interessante Denkanstöße – von überraschenden, weniger bekannten Facetten der mittelalterlichen Baukunst bis zur Rezeption eines »Kathedralengefühls«, das noch weit in die Kunst und Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts nachwirkte.


Titel: Gotische Kunst und städtische Lebensform. Von Saint–Denis nach Notre–Dame
Autor: Reinhart Strecke
Lukas Verlag
104 Seiten, 22 s/w Abb.
ISBN: 9783867323758

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