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Dietmar Elger (Hg.): Gerhard Richter - Catalogue Raisonné, Bd. 1, Hatje Cantz 2011

Selten wird einem Künstler noch zu Lebzeiten die Ehre eines Werkkatalogs zuteil. Gerhard Richter hat sich diese Ehre zweifelsohne verdient, wie sein imposantes Gesamtwerk und sein weitläufiger Erfolg zeigen. Nun wird sein Œuvre in einer anspruchsvollen Gesamtausgabe im Hatje Cantz Verlag in fünf Bänden verlegt. Günter Baumann hat sich den ersten Band angesehen und berichtet von dem Versuch, Künstler und Werk auf Papier zu bannen.

Gerhard Richter gehört zu den teuersten lebenden Malern der Welt: In diesem Jahr ist eines seiner rund 25 Kerzen-Bilder von 1982 für 16,5 Millionen Dollar bei Christie’s über den Tisch gegangen, und mit einem Auktionsumsatz von annähernd 77 Millionen Dollar im Jahr 2010 lag er noch vor den Mega-Stars Koons und Hirst. So hob die Süddeutsche Zeitung am 29./30. Oktober 2011 an mit dem Satz: »Gerhard Richter ist der wichtigste Maler der Welt.« Sein bisheriges Opus umfasst rund 3000 Arbeiten mit über 900 Werknummern – die Diskrepanz zwischen den Ziffern ergibt sich aus der gelegentlichen Doppelbelegung und der häufigen Unterordnung in Reihen.

Es war also höchste Zeit, Ordnung in dieses Werk zu bringen. Im Herbst 2011 startete der Verlag Hatje Cantz mit einem auf fünf Bände angelegten Großprojekt zu einem Catalogue Raisonné des Richterschen Schaffens. Der Preis ist hoch, ob nun der eine oder andere Folgeband noch teurer wird als der erste oder nicht – das Katalog-Opus wird komplett über 1200 Euro kosten. Nun könnte man das auf die Bildbeispiele herunterrechnen, aber das wäre kleinlich: Denn der Leser und Betrachter hat das Beste in Händen, was man zurzeit drucktechnisch erreichen kann. Darüber hinaus machen die Gemälde von Gerhard Richter süchtig. Kann man sich schon als Normalverdiener nie und nimmer einen echten Richter leisten, so kann einen das Druckwerk durchaus auf der sekundären Ebene glücklich machen – wäre das Original so eine Art Opioid, wirkten die Reproduktionen wie Methadon, das hilft, die Originale im Museum anzuschauen, ohne ihnen mit begehrlichem Blick zu begegnen. Nun ist der Kunstmarkt zuweilen grotesk überzogen (Richter soll sich selbst verwundert geäußert haben, wie ein Kunstwerk wie die seinen derart wertvoll werden könne), aber wer je beispielsweise das Gemälde »Vögel« von 1964 bei Würth in Künzelsau gesehen hat, weiß, dass er Meisterwerken des Jahrhunderts gegenübersteht: Richter vermag aus nichts – die Vögel sind nicht mehr als Leerstellen im Bild –, einen dramatisch auffliegenden Vogelschwarm zu machen, der den grau-verschwiemelten Vordergrund zur schemenhafte Uferlandschaft im Hintergrund macht.

Kann die Betrachtung von Kunst ein Abenteuer sein? Ein Erlebnis ist es allemal, aber in der Tat, während man beim Blättern sich hier und da von dieser Bildwelt entführen lässt, der Blick hier in einem Detail hängen bleibt, dort die Neugierde uns nach vorne preschen oder auch begeistert erneut rückblättern lässt, spürt man den sinnlichen Reiz des ewig Gleichen und doch so Nuancenreichen in der Machart der Bilder in den 1960ern.

Dieses Werk ist atemraubend in seiner unwägbaren Fülle und ein Genuss im Schmökern mit den Augen. Denn es lädt zum Lesen ein, wenngleich sich die Bilder einer konkreten Lesart entziehen. Gerhard Richter malt nicht entweder abstrakt oder gegenständlich, sondern abstrakt und gegenständlich. Man mag es als starken Tobak einstufen, die Werke mit den Nummern 3 – »Hitler« – und 4 – »Faltbarer Trockner« – , beide von 1962, sozusagen in einem Atemzug gemalt sich vorzustellen. Auf der einen Seite der Diktator in Rednerpose, auf der anderen Seite Lieschen Müller beim Wäscheaufhängen, beide Bilder sind nach Fotografien bzw. Werbeseiten entstanden. Allerdings muss man zum einen bedenken, dass die jeweils nahezu monochrom gehaltenen Gemälde tatsächlich gleichwertig sind, nämlich Öl auf Leinwand, unabhängig was der Betrachter darin sieht: Das »Hitler«-Bildnis, das Richter später – wohl auch als weniger gutes Werk – zerstörte, konnte in den 1960er Jahren nur provozieren, das andere Bild mit dem antiquierten Heimchen-Idylle wäre wohl damals – empörend genug – als heile Welt durchgegangen.

Hier spielt einer mit Wertvorstellungen, der den (An-)Schein ausdrücklich zum »Lebensthema« erklärte. Für die gesamten 1960er Jahre gilt: »Mich interessieren nur die grauen Flächen, Passagen und Tonfolgen, die Bildräume, Überschneidungen und Verzahnungen«, so schrieb Richter. »Wenn ich eine Möglichkeit hätte, auf den Gegenstand als Träger dieses Gefüges zu verzichten, würde ich sofort abstrakt malen.« Dabei scheint er selbst zu verkennen, dass er paradoxerweise in seinen später wirklich abstrakt gemalten Arbeiten viel konkreter ist, als in seinen Schwarzweiß-Adaptionen der Fotografie. Richters Werk ist dort am stärksten, wo es eine vibrierende Spannung innerhalb eines Zwischenreichs hält. Mit seinem späten Bekenntnis, das Wäschetrocknerbild hätte auch seine studentischen Lebensverhältnisse wiedergespiegelt (»Genau diesen Wäschetrockner hatten wir ja damals auch …«), verliert sich auch die Spannung.

Der erste Band des Catalogue Raisonné, der in Zusammenarbeit mit dem Gerhard-Richter-Archiv (Staatliche Kunstsammlungen Dresden) entstanden ist, umfasst 385 Arbeiten, die zwischen 1962 und 1968 entstanden sind – darunter auch über 30 bisher unbekannte. Acht Jahre lang währte die Arbeit an diesem ersten Band, dem in den kommenden Jahren, bis 1918, weitere vier Bände folgen sollen. Der Maler, der 2012 seinen 80. Geburtstag feiert, wird in der Einführung des Bandes viel zitiert, wobei man keine Sorge haben muss, dass er zu jedem Werk aus dem Nähkästchen plaudert wie bei dem Wäschetrocknerbild. Der Werkteil beschränkt sich auf ausführliche Provenienz-, Ausstellungs- und bibliographische Angaben, die dem Forscher goldwert und dem faszinierten Bilderfreund beim Blättern und Schauen keineswegs störend sind. Dabei wird eine akribisch inszenierte Nichtigkeit geschildert, handelt es sich nur um ein »Umgeschlagenes Blatt« (1965 f.) oder um das in diesem Zeitraum farblich herausragende Werk »Ema (Akt auf einer Treppe)« (1966), das zugleich Marcel Duchamps zitiert, die Aktmalerei neu begründet und mit der Schönheit eines Augenblicks an ein Ideal der Antike erinnert. In diesem Zusammenhang von Schein und Sein, Abbild und Wirklichkeit muss man die »Nichtigkeit« freilich als das höchste Gut der Wahrnehmung ansehen.

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