Interviews

Elisabeth Leopold im Interview zur überarbeiteten Neuauflage von »Egon Schiele. Gemälde – Aquarelle – Zeichnungen (1972)«. Hirmer Verlag, 2020

In den 1950er–Jahren erkannte Rudolf Leopold (1925–2010) die herausragende Bedeutung Egon Schieles (1890–1918) für die Kunst. Maßgeblich war er dafür verantwortlich, dass der Maler den ihm gebührenden Platz in der Kunstgeschichte und öffentlichen Wahrnehmung erhielt. 1972 schrieb Rudolf Leopold eine umfassende Monografie und präsentierte Schieles Gemälde, Aquarelle und Zeichnungen in chronologischem Zusammenhang. Lange war das Buch vergriffen, nun ist es mit überarbeitetem Werkverzeichnis neu erschienen. Aus diesem Anlass hat Andreas Maurer die Kunstsammlerin und Kuratorin Elisabeth Leopold (*1926) zum Gespräch getroffen.

Elisabeth und Rudolf Leopold © Leopold Museum Wien
Elisabeth und Rudolf Leopold © Leopold Museum Wien

Gemeinsam schlendern wir durch die derzeit menschenleeren Räume des Leopold–Museums in Wien. Vor Egon Schieles Gemälde »Die Eremiten« (1912) nehmen wir auf einer Bank Platz. Elisabeth Leopold will das Gespräch unbedingt hier machen.

Elisabeth Leopold (EL): Da sind zwei Künstler in einen schwarzen Mantel gehüllt. Einer ist Schiele, der andere ist Klimt, das sagt jedenfalls der Otto Benesch [Anm.: 1869–1964, Kunsthistoriker]. Niemand hat das niedergeschrieben, es gibt kein Zeugnis, aber wir finden es schön. Und ein bisschen mit der Haarfrisur… könnt ja stimmen...er hat einen Kranz auf, darum ist die Glatze nicht so sichtbar (lächelt).
Klimt ist der Mentor, der hinter Schiele steht. Aber generell: das sind zwei Empfindungsmenschen, zwei Künstler, die sich geknickt aufbauen in einer kalten Welt. Es gibt in dem Bild ja auch keinen Hintergrund. Das sind die Eremiten. Sie stehen auf einer schiefen Ebene und diese Strahlen von der vertrockneten Rose halten sie gerade so aufrecht. Der Künstler ist letztlich einsam. Schiele schreibt dazu auch: »ich hab das so malen müssen wie mir die Welt vorkommt, dieses Bild ist aus Innigkeit entstanden«.

Egon Schiele, Die Eremiten | 1912 © Leopold Museum, Wien, Inv. 466
Egon Schiele, Die Eremiten | 1912 © Leopold Museum, Wien, Inv. 466

Andreas Maurer (AM): Es ist übrigens auch mein Lieblingsbild von Schiele...

EL: Noch dazu ist es interessant, weil wir hier in diesem Saal die Hauptwerke von Schiele vereint haben und der Klimt hinter Ihnen...so jetzt kommen aber wir zu Ihren Fragen!

AM: Wir sind eigentlich schon mittendrinnen! Was war das erste Schiele Bild, das Sie gesehen haben, können Sie sich daran noch erinnern?

EL: Das kann ich Ihnen ganz genau sagen! Das war die »Tote Stadt III« (1911). Es hat mich damals sehr interessiert wo das ist – nämlich in Krumau [Anm.: Český Krumlov im heutigen Tschechien]. Eine liebe alte Stadt mit einem wunderbaren Schlossberg, ein bisschen vergleichbar mit Salzburg. Aber Schiele wollte nicht das Schloss, er malte die kleinen Gassen, die kleinen Häuser.
Was mich so fasziniert daran ist auch nicht so sehr das Thema, sondern wie dieses Thema ausgestaltet ist. Diese unglaubliche geistige Kraft, die dir in einem guten Kunstwerk entgegen strahlt! Also es packen dich doch hier plötzlich diese kleinen Häuser, es packen dich diese schwarzen Fenster, die wie Augen aus der Mauer da herausschauen, diese Tristesse, diese Einsamkeit und wie sie da transportiert werden, dass du sagen musst: das ist ein tolles Bild! Diese Wirkung der Kunst, das ist das Um und Auf.

Egon Schiele, Sitzender Männerakt (Selbstbildnis), 1910 © Leopold Museum, Wien Foto: Leopold Museum, Wien/ Manfred Thumberger
Egon Schiele, Sitzender Männerakt (Selbstbildnis), 1910 © Leopold Museum, Wien Foto: Leopold Museum, Wien/ Manfred Thumberger

AM: Heute gibt es nahezu keine Schiele–Ausstellung ohne die »Tote Stadt III«. Doch wie ist das eigentlich als Sammlerehepaar, wenn sich so ein Gemälde in den eigenen vier Wänden befindet? Sitzt man bei einem Glas Rotwein zusammen und diskutiert darüber?

EL: Nein, es wurde nicht viel geredet. Mein Mann hat es an die Wand gehängt und gesagt: Schau, das ist die »Tote Stadt«. Und ich hab gesagt: Na das ist toll...so ungefähr.

AM: Warum hat sich Ihr Mann aber überhaupt so sehr für Egon Schiele und dessen Werk interessiert? Er hätte sein Auge ja auch auf einen anderen Vertreter der Kunstgeschichte werfen können.

EL: Die Frage drängt sich auf, da haben sie recht. Aber wir sind uns alle einig, dass dieser Mann unglaublich begabt war große Kunst zu erkennen. Erst zwei Jahre nach dem Krieg geht er ins Kunsthistorische Museum, und da packt ihn zum ersten Mal die Kraft. Da sieht er zum ersten Mal einen Velázquez (1599–1660) wie der malt, den Rock in ein paar Strichen, und wie das wirkt und wie das entgegenströmt...und der Bruegel und natürlich der Rembrandt mit seinen Selbstbildnissen. Er kam dann nach Haus und hat gesagt »Bitte, jetzt müssen wir noch einmal gehen, es ist großartig! Diese Kunstwerke in diesem Museum!!«
Es waren aber nicht diese vielen Italiener der Renaissance, sondern ganz gezielt die Hauptwerke! Die hat er sich schon damals bewusst ausgesucht. Und er hat dann gesagt: »Weißt du, wir sollten unser Leben mit wirklicher Kunst umgeben«.

AM: Gesagt getan könnte man das heute zusammenfassen. In der Biografie ihres Mannes [Anm.: »Rudolf Leopold: Kunstsammler« 2003, Holzhausen Verlag] ist zu lesen, dass er gerne Altmeister gesammelt hätte, Bilder von Diego Velázquez und Jan Vermeer aber schon damals unerschwinglich waren.

EL: Genau! Und da hat er das Schiele–Buch von Otto Nierenstein [Anm.: später Otto Kalir 1894–1978] entdeckt. Das war der erste Ouevre Katalog zu Schiele, 1930 geschrieben. Und darin hat der Nierenstein sehr brav die Besitzer aufgelistet und mein Mann hat dann angefangen die abzuklappern. Einer der wichtigsten Besitzer ist in London gesessen. Das war ein jüdischer Geschäftsmann, der hat den Nachlass von Schiele gekauft. Der hat das Bild (zeigt auf die Eremiten) zum Beispiel der Österreichischen Galerie angeboten, aber nicht einmal die Hauptwerke wollte damals jemand!

Egon Schiele, Tote Stadt III © Wikimedia Commons
Egon Schiele, Tote Stadt III © Wikimedia Commons

AM: Ihr Mann hat aber Schieles Größe sofort erkannt und Gemälde um Gemälde sowie Zeichnung um Zeichnung zusammengetragen. Als Sammler*in ist man aber sicher nicht nur von der maltechnischen Größe eines Kunstwerkes angezogen. Hat sich ihr Mann mit den melancholischen Bildern Schieles, also den Inhalten besonders verbunden gefühlt?

EL: Ja, das hat ihn schon gepackt, dass sich einer traut einen nackten Mann (»Sitzender Männerakt«, 1910) einfach so hinzumalen…diese absolute Nacktheit, wie empfindlich ist dieser weiße Leib, wie ausgesetzt! Diese Verwundbarkeit….und bei dem Schiele hat er gesagt: »Teilweise kommt er an die Kunstgröße der Alten Meister heran. Aber er malt keine braven Prinzessinnen und keine braven Göttinnen und keine braven Herren Könige, sondern er malt Menschen unserer Zeit und interessiert sich für Melancholie. Er interessiert sich für Krankheit und Tod. Und er sehnt sich natürlich auch nach Erotik«.

AM: Damals – und auch heute – sind sicher viele vor diesen Themen zurückgeschreckt, haben seine Bilder eher verachtet als bewundert. Doch als Sammlerehepaar betrachtet man ja nicht nur die Kunstwerke, man lebt mit ihnen zusammen. Die Gemälde hängen im Wohnzimmer, über dem Esstisch usw...wie war das bei Ihnen?

EL: Natürlich hatten wir einen eigenen Raum dafür, natürlich haben die Kinder ein eigenes Kinderzimmer, haben wir ein Familienspeisezimmer gehabt. Also die Mischung von Alltag und Schiele war nicht eine alltägliche. Wann haben die Kinder den Schiele gesehen – mein Mann hat an der Wand immer die Bilder aufgestellt und dann verglichen miteinander, stundenlang verglichen! Und da hat meine Schwiegermutter einmal vom Fenster runter geschaut und gesagt: »Weißt du, die Landschaften lass ich mir einreden, aber die Figuren, die du hast, die gefallen mir gar nicht!« Also die Bilder waren nicht so ins Leben eingeflochten, die hingen schon irgendwie extra.

Egon Schiele, Kauernder Mädchenakt, 1914 © Leopold Museum, Wien, Inv. 1398
Egon Schiele, Kauernder Mädchenakt, 1914 © Leopold Museum, Wien, Inv. 1398

AM: 1950 haben Sie und Ihr Mann mit dem Sammeln begonnen. Mit pionierhaftem Weitblick und viel Gespür haben Sie gemeinsam eine ästhetisch anspruchsvolle wie kunsthistorisch relevante Großsammlung von internationalem Ruf aufgebaut. 20 Jahre hat Rudolf Leopold mit seiner monumentalen Schiele–Monografie begonnen. Sicher keine einfache Aufgabe?!

EL: Er hat vom Verlag angeboten bekommen das Werkverzeichnis in zwei Jahren zu machen. Und wissen Sie wie lange er gebraucht hat?! Vier! Und er hat es mit der Aufregung seines Lebens geschrieben!
Er hat aber einen gewissen Hang zum Zu–Spät–Kommen gehabt. Also wenn er eine Woche Zeit gehabt hat, dann hat er am Freitag oder Samstag Nachmittag damit angefangen. Das ist so eine Marotte gewesen, nur dadurch war das alles so schwierig. Die vielen Termine hat er 100x verpasst, der Verlag war böse und so weiter...aber letztlich waren sie dann alle glücklich wie er fertig war.

Andreas Maurer: 1972 war das Buch schnell vergriffen. Co–Autor und Literaturwissenschaftler Stefan Kutzenberger hat erzählt, dass Rudolf Leopold auch nie aufgehört hat daran zu schreiben. Zwei seiner Exemplare mit Notizen und Anmerkungen sind in die überarbeitete Neuauflage mit eingeflossen, die 300 Gemälde nun alle in Farbe und hoher Auflösung abgedruckt. Was macht das Buch von 1972 aber bis heute zum Standardwerk?

Elisabeth Leopold: Prinzipiell haben wir zwei Punkte: Das Buch ist deswegen neu, weil es das erste Buch war und ist, das Gemälde und Blätter stilistisch in der richtigen Reihenfolge ordnet. Er hat die Verbindung aufgezeigt, das war damals neu. Der Motivnachweis war auch eine große Leistung. Wo immer es möglich war ist er zu den Orten gereist an denen Schiele gemalt hat und hat das dargestellt, nachgestellt. Damals war das eine Sensation. Aber der zweite Punkt ist eigentlich die Herausstellung des Frühwerks! Das war das erste Buch, das die Frühzeit so hervorhebt. Und die Bedeutung Schieles in der Moderne ist die Frühzeit, glaube ich.

Cover © Hirmer Verlag
Cover © Hirmer Verlag


DER AUTOR
Als der junge Medizinstudent Rudolf Leopold (1925–2010) hingerissen von der imaginären Kraft großer Kunstwerke beschloss, forthin sein Leben mit Kunst zu umgeben, entdeckte er die Werke des damals nur wenig bekannten Egon Schieles. Damit wurde ein neues Kapitel der Kunstgeschichte eröffnet. Der junge Sammler wählte in sorgfältiger Suche vor allem die außergewöhnlich erregenden Hauptwerke von Schieles früher Periode für seine Kunstsammlung, die dann im Laufe von vierzig
Jahren zu »Schiele und seine Zeit«, also zu »Wien 1900« erweitert wurde. Schieles Werke bildeten in diesem Umfeld den glühenden Kern, das großartig Aufregende der Leopold Sammlung. In diesem Buch sind sie als großes Ganzes zusammengefasst.

BIBLIOGRAPHISCHE ANGABEN
»Egon Schiele. Gemälde – Aquarelle – Zeichnungen«
Hirmer Verlag
Autor: Rudolf Leopold
Überarbeitete zweite Auflage, hg. von Elisabeth Leopold unter Mitwirkung von Stefan Kutzenberger, Sonja Niederacher und Michael Wladika
Leinengebunden mit Schutzumschlag, Lesebändchen,
Format
30 × 30 cm, 736 Seiten, 931 Abbildungen
ISBN 978–3–7774–3472–8 (deutsche Ausgabe)
ISBN 978–3–7774–3469–8 (englische Ausgabe)

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