Porträts

Erfinder der Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Nachruf auf den Konzeptkünstler Ilya Kabakow (1933-2023)

Der deutsche Kunstkritiker Sebastian C. Strenger besuchte das russischstämmige Künstlerehepaar Ilya und Emilia Kabakow in den vergangenen vier Jahrzehnten mehrere Male. Persönliche Begegnungen zum Tod des Ausnahmekünstlers Ilya Kabakow, der am Pfingstwochenende im Alter von 89 Jahren verstarb.

© 2019 Ilya & Emilia Kabakov
© 2019 Ilya & Emilia Kabakov

Bei unserer ersten Begegnung Ende der Achtziger erzählte Ilya, wie ihn der Wunsch, „ein Meisterwerk“ zu schaffen, das sich durch seine „Schönheit“ von anderen unterscheidet, bereits lange beschäftigte. Diesen inneren Anspruch sollte er später als Einschränkung der Forderung nach „Universalität“ oder besser als Erfassen der gesamtem Wirklichkeit und nicht nur eines ästhetischen Ausschnittes empfinden. Der Müll, mit dem Kabakov Zeit seines Lebens arbeitete, war immer geordnet und strukturiert. Und es war immer sein persönlicher und kein anonymer Abfall - quasi die Fassung seiner eigenen Existenz. Hieraus entstanden zahlreiche Installationen, angefüllt mit Papier, Schachteln und Mülleimern.

So auch 1988. Ein Jahr zuvor hatte er nach einem Stipendium des Grazer Kunstvereins den Entschluss gefasst, in den Westen zu emigrieren. Seither lebte und arbeitete der Künstler in den USA, wo er in seiner ersten Ausstellung in den Räumen der New Yorker Ronald Feldman Gallery mit „Zehn Persönlichkeiten“ bereits seine lebenslange künstlerische Beschäftigung vorwegnahm. Die Installation zeigte eine durchschnittliche sowjetische Kommunalwohnung, in der die früheren Bewohner ihren Müll zurückgelassen hatten, der nun auf Beseitigung wartete. Es war nichts anderes, als die Analogie der untergegangenen sowjetischen Zivilisation in Zeiten von Perestroika.

© Ilya Kabakow
© Ilya Kabakow

Für Ilya eine spezifische Form des Zugangs zum Leben und zur Kunst, beherrscht von dem Thema, ein Bild des „kleinen Mannes“ als Denkmal zu schaffen. Jedoch auch mit dem Credo: Das Denkmal als Kunstwerk bleibt ohne den Akt der Erinnerung leblos und leer. Darüber hinaus wurde die Erinnerung im Werk der als Künstlerehepaar auftretenden Kabakows geradezu eine Voraussetzung für ihre Installationen, die ansonsten nichts weiter als Müllanhäufungen gewesen wären.

Ilya Kabakow gehörte zu der Gruppe russischer Künstler, die in den 1960er bis 80er Jahren in der Kunst des 20 Jahrhunderts kardinale Veränderungen in die russische Kunst einführten und dabei eine neue ästhetische Ordnung festlegten. Ende der 80er Jahre lösten sich die institutionellen Grenzen in Russland bzw. der damaligen UdSSR auf, was eine wesentliche Voraussetzung dafür war, dass neue Strömungen wellenartig in der russischen Kunst Einlass fanden.

Diese Kunst sollte später die Namen Soz-Art oder Moskauer Konzeptualismus erhalten und Ilya Kabakow sollte neben Künstlern wie Erik Bulatov, Vitaly Komar und Alexander Melamid deren treibende Kraft und einer seiner Mitbegründer sein. Als Ergebnis der Perestroika wurden Mitte der Achtziger die einst sowjetischen Museumsdepots geöffnet. Zum ersten Mal wurde einem größeren Publikum in Russland wie auch im Ausland die Kunst der russischen Avantgarde der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts umfassend erschlossen. Davor kannte man diese Kunst nur in Ansätzen.

© Ilya Kabakow
© Ilya Kabakow

Vorneweg Ilya Kabakow, wurden die Künstler:innen des Moskauer Konzeptualismus im kunstgeschichtlichen Diskurs allesamt als neue Avantgarde betrachtet, die sich keinen Pflichtdogmen unterwarf, und in der viele russische Künstler:innen mit unterschiedlichen Themen und künstlerischen Ausdrucksmethoden eingebunden waren. In West-Europa sollte vergleichsweise die Kunstströmung ZERO mit Künstlern wie u.a. Heinz Mack, Günther Uecker und Otto Piene in Deutschland der Endfünfziger Jahre entstehen, die eine Antwort auf das komplexe Bild eines kulturellen Umbruchs im Nachkriegseuropa während der „restaurativen“ Wiederaufbauphase zu geben versuchte. In vergleichbarer Weise entwickelten die russischen Künstler:innenjedoch ihre Ideen „inoffiziell“ unter dem Radar der sowjetischen Regierung, um danach ihre Ideen in verborgenen und geheimgehaltenen Ausstellungs- oder Publikationsgemeinschaften durchzusetzen.
Diese Vorgehenspraxis sollte Ilyas Fundament seines künstlerischen Schaffens nach seiner Emigration nach New York im Jahr 1988 werden. Ähnlich wie in Westeuropa und der USA, bezog sich Ilya Kabakov in seiner Praxis in den 1960er Jahren zunächst auf die zwei wichtigsten Vertreter einer russische Avantgarde aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts: Kasimir Malewitsch und Wladimir Tatlin. Ihre suprematistischen und konstruktivistischen Theorien der Gestaltung des zwei- und dreidimensionalen Raumes und der Bildfläche sollten auf das Künstlerehepaar in ihrer Praxis noch lange die die Denkweise der Beiden fundamental beeinflussen, denn die Öffnung der Archive durch Perestroika bedeutete nicht zuletzt die Wiederentdeckung einer „begrabenen Vergangenheit“.

Seit seiner Kindheit betrachtete Ilya sein Leben als geteilt. Ein Teil hieß „für sie“ und ein anderer “für mich“, wobei die Menschen in natürlichen Umständen „für sich“ leben und erst danach „für die anderen“. „Mein ich entwickelte sich unter großen Mühen“, sagte Ilya bei unserem letzten Treffen, bis es im Resultat zu einem „Konglomerat unterschiedlicher Persönlichkeiten und dem Diskurs zwischen ihnen“ kam, gleich einer Art großer Sammlung oder besser noch: einer riesigen Institution.

© Ilya Kabakow
© Ilya Kabakow

Ilya entdeckte damals in New York auch den zwei Jahre zuvor verstorbenen Fluxisten Joseph Beuys, mit dessen Ideen er sich lange auseinandersetzte. Der Unterschied zu Kabakow ist bei Beuys jedoch, dass sein Gesamtkunstwerk ausschließlich zukunftsbezogen ist, während Kabakows wesentliches Anliegen darin besteht, die Vergangenheit vor dem Vergessen zu retten. Dafür wurde der Maler und Konzeptkünstler russisch-jüdischer Herkunft mehrfach ausgezeichnet. 1990 erhielt er den Kunstpreis Aachen, 1993 den Max-Beckmann-Preis sowie das Ehrendiplom der Biennale von Venedig und den Schweizer Joseph-Beuys-Preis. 1998 wurde ihm der Goslarer Kaiserring verliehen.

Wie viele andere zeitgenössische Installationskünstler:innen, hatte auch Ilya der Gestaltung der zeitlichen Dimension eine zentrale Bedeutung beigemessen. Vor allem interessierte ihn der Zugriff auf Geschichtliches aus der Perspektive der Erinnerung, die er in seinen Sujets und Erzählungen jeweils von seinen Protagonist:innen wieder aufleben lässt.
Dabei ist er immer auch der Betrachtung Umberto Ecos gefolgt, der in der Kunst zwei Arten von Zeit unterschied: Einerseits die Zeit des Dargestellten und Erzählten sowie andererseits die Zeit des Darstellens und Erzählens. Nach diesen Prinzipien kann man die ganze Geschichte in einem Augenblick so erfassen, wie es bei Ilya zeitlebens immer auch der Fall war: In seinen Installationen herrscht stets Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Und so bleibt uns Ilyas Werk immer aktuell in Erinnerung, denn es schafft immer auch den Weg vom Gestern zum Morgen.

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