Buchrezensionen

Eric Karpeles: Marcel Proust und die Gemälde aus der Verlorenen Zeit. DuMont 2010

Eigentlich erstaunlich, dass noch niemand zuvor auf die Idee zu einem Buch gekommen ist, das in sich die zahlreichen Bilder versammelt, die in dem riesigen Roman »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« angedeutet, von den Figuren diskutiert oder gar ausführlich geschildert werden. Denn der Blick auf die Bilder ist wirklich ein Zugang zu Prousts Lebenswerk, der wahrscheinlich sogar direkt in sein Zentrum führt. Stefan Diebitz hat sich das schöne Buch angesehen.

Im Grunde gerät die Lektüre des hochwertig illustrierten Buches zu einem Schnelldurchgang durch den gewaltigen Roman, für den die meisten Leser wohl Jahre brauchen, denn ein Schmöker ist »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« mit seinen sieben Bänden ja nun eben nicht. In der Regel findet man im Buch Eric Karpeles ein Bild einem Romanausschnitt gegenübergestellt. Auf einer Seite steht der kurze, von Karpeles verfasste Text, der ein längeres oder kürzeres Zitat aus dem Roman in den Kontext einordnet. Meist ist es ein Ausschnitt aus einem Gespräch oder ein Gedanke, in dem auf ein Bild angespielt wird. Dem steht dann das angesprochene oder angedeutete Bild gegenüber.

Manchmal ähnelt eine Romanfigur einer Figur auf einem klassischen Gemälde, so dass der Leser dank dessen Abbildung eine ganz anschauliche Vorstellung von ihr erhält. Ein Beispiel dafür ist Odette, die den sie liebenden Swann an eine Figur Botticellis erinnert. Er „sah wieder ein Gesicht vor sich, das gut im »Leben Mose« von Botticelli hätte figurieren können, er suchte ihm einen Platz darin und gab dem Nacken Odettes dafür die richtige Biegung″.

An der Qualifikation des Herausgebers für sein anspruchsvolles Unterfangen besteht bereits nach der Lektüre der kurzen, aber gehaltvollen und konzentrierten Einleitung kein Zweifel. Hier führt Karpeles den Begriff der „Ekphrasis″ ein, bei der er zwei verschiedene Modelle unterscheidet, die fiktive Ekphrasis und die tatsächliche: „Fiktive Ekphrasis bezeichnet die Schöpfung eines Schriftstellers und die Beschreibung eines imaginären Kunstwerks. Der Schild des Achill, den Homer in der Ilias beschreibt, gehört zu den frühesten Beispielen literarischer Malerei in der westlichen Tradition. Elstirs großartiges atmosphärisches Gemälde, Le Port de Carquethuit, ist ein reines Fantasieprodukt, erdacht von Marcel Proust. Tatsächliche Ekphrasis meint die Evozierung eines existierenden Kunstwerks″, und sie findet sich in diesem Roman viel häufiger als die fiktive Ekphrasis – sonst hätte es ja auch nicht dieses Buch geben können, das die angesprochenen und geschilderten, manchmal aber auch nur von fern angedeuteten Bilder zusammenstellt.

Die Arbeit des Herausgebers sollte man sich nicht zu leicht vorstellen. Es war in den meisten Fällen keinesfalls damit getan, ein berühmtes Bild neben einen Text zu setzen, der dieses Bild mit Titel und Künstlernamen benennt, sondern im allgemeinen sind die Hinweise eher undeutlich, und so findet sich sehr häufig ein Bild, das Proust gemeint haben könnte, aber nicht unbedingt gemeint haben muss. Und um solche Bilder zu finden, sollte man sich schon sehr gut in der Kunstgeschichte auskennen. Für Eric Karpeles gilt das ganz zweifellos.

In den Anmerkungen, die dem illustrierten Hauptteil folgen, beweist er das noch einmal. Hier finden sich zusätzlich substantielle Informationen und Kommentare, nicht zuletzt natürlich zu den Abbildungen. Aber auch anderes. Ein ganz wichtiger Name bei dem Thema der Gemälde ist Elstir, der Maler, den der Erzähler in Balbec während der Sommerferien kennenlernt und bald regelmäßig in seinem Atelier besucht. In diese Figur gingen mehrere große Maler (die meisten davon Impressionisten) als Vorbilder ein, die heute weitgehend in Vergessenheit geraten sind. Es ist der Maler Paul César Helleu (1859–1927), dessen Leben und Werk Karpeles erst in den Anmerkungen anspricht. „Prousts Besuche in Helleus Atelier und ihre Gespräche″, schreibt Karpeles, „prägten den Charakter Elstirs erheblich.″ Das letzte Bild des Bandes zeigt Proust auf dem Totenbett – es war Helleu, der diese Skizze auf Bitten von Prousts Freunden angefertigt hat.

Ein anderer Lieblingsmaler Prousts war James Abbott McNeill Whistler (1834 – 1903), ein in Europa lebender Amerikaner, von dem dieser Band etliche Bilder enthält. Whistler ist heute wohl bekannter als Helleu, aber auch nicht gerade populär.

Wie sorgfältig das Buch gearbeitet ist, kann man an dem Register sehen, in dem nicht allein auf die entsprechenden Textstellen in der deutschen, sondern gleichzeitig in der französischen Ausgabe verwiesen wird. Alles in allem handelt es sich um eine ziemlich erfreuliche und unterhaltende Publikation, die den regelmäßigen Proustleser und Proustverehrer wohl über Jahre als Handbuch und Biografieergänzung begleiten wird. Ein empfehlenswertes Buch.

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