Francis Berrar/Christoph Wagner (Hrsg.): Johannes Kühn - ... und schwebe ab in eine ganz andre Welt. Gedichte & Zeichnungen. Hirmer Verlag.

Am 3. Oktober 2023 verstarb Johannes Kühn im Alter von 89 Jahren. Ab 1983/84 zog sich der saarländische Lyriker für fast zehn Jahre aus der Gesellschaft ins Schweigen zurück und begann mit dem Zeichnen. Rund 3000 unbetitelte und undatierte Filzstiftzeichnungen und Aquarelle sind in dieser Dekade entstanden. 120 dieser Zeichnungen sowie 26 bislang unveröffentlichte Gedichte stellt der Hirmer Verlag in seiner Publikation vor. Eine Rezension von Verena Paul.

Cover © Hirmer Verlag
Cover © Hirmer Verlag

Lesen wir die Lyrik Kühns, so erklingt der Sprachrhythmus eines durch die Landschaft streifenden Menschen. Dieser Rhythmus verbindet, wie Bernd Scherer in seinem Beitrag schreibt, „die Zeiterfahrung des Menschen mit der Topologie der Landschaft.“ Daher liege die Zeit „nicht in den Dingen selbst, sondern in der Beziehung des Menschen zur Welt.“ Es ist die karge und gleichzeitig bildverdichtete Sprache, die diese besondere Relation herstellt. Detailreiche Beobachtungen, die in klare Worte gekleidet sind, legen eine andere Welt frei, die in einer sich der modernen Lebenswelt verschriebenen Gesellschaft kein Gehör fand. Daraufhin verstummte der Dichter zu Beginn der achtziger Jahre und geriet in eine tiefe Existenz- und Schreibkrise, in der ihm einfache Farbstifte, alltägliches Zeichenpapier und ein Gerüst aus Linien Halt boten. Er konstruierte, deformierte und fand in seinen Zeichnungen Vertrauen in das Netz aus Linien, das Figuren und Landschaften entstehen ließ.

„Er zeichnet mit Worten und schreibt mit seinen Bildern, indem er den Klang einer reinen Gefühlswelt, die uns heute vielfach im gesellschaftlich regulierten Treiben abhanden gekommen ist, zu Papier bringt“, so Christoph Wagner. „Aus dem Tal leicht Mittagsnebel vom Bach, / Seide bringend. / Ich greif danach, / web mit den Fingern ein Taschentuch / zauberhaft für mich und schneuz mir / alle Übel der Welt / von der Nase“, heißt es beispielhaft in Kühns Gedicht „Rast unter der Eiche“.

Blick ins Buch © Hirmer Verlag
Blick ins Buch © Hirmer Verlag

Wie die Gedichte Bilder entstehen lassen, so entwickeln auch die zeichnerischen Werke von Johannes Kühn ein eigenes Energiefeld aus Farben und Lineamenten: sparsam ausgelegt oder akkumuliert, auslaufend lang oder entschieden gekappt, winkelschlagend oder ondulierend. Dabei wird räumliche Atmosphäre geschaffen und Stimmungen transportiert, die sehr unterschiedlich sein können. Der Tod, der Kühn jetzt selbst ereilte und der gewöhnlich mit Trauer und Dunkelheit assoziiert wird, ist Gegenstand vieler seiner Zeichnungen. So begegnet uns der Tod etwa als roter Korpus mit gelbem Hut und blauer Sense, umgeben von flink zu Papier gebrachten olivgrünen Strichen. Er schaut uns direkt an, die wir ihn so gerne verdrängen. Kühns Kunst macht den Tod sichtbar, gegenwärtig. Es ist „eine andere, verrückte Schönheit“, die einen Gegenentwurf zur „Norm-Ästhetik“ darstellt, wie Francis Berrar es so treffend formuliert. Johannes Kühns Bildkosmos aus Masken, Figuren, Bäumen, Pflanzen und Tieren „schöpft endlos aus dem Überpotenzial seiner Innenwelt. Seine Zeichnungen sind Destillate aus viel Erduldetem.“

Blick ins Buch © Hirmer Verlag
Blick ins Buch © Hirmer Verlag

Sowohl in den sprachlichen wie in den gezeichneten Bildern Kühns lassen sich Zwischenräume entdecken, in denen sich unsere Fantasie einnisten kann. Gedichte und Zeichnungen bieten Möglichkeitsräume für Lesende und Betrachtende und es ist ein großes Verdienst des Hirmer Verlages, dass er der Öffentlichkeit diese Räume einen Spalt geöffnet hat. Johannes Kühn wird den Leser:innen mit seiner unbeschreiblich klaren, nachhallenden Lyrik lebendig bleiben – und nicht minder mit seinen ungewöhnlichen Zeichnungen.

Johannes Kühn: ... und schwebe ab in eine ganz andre Welt
Gedichte & Zeichnungen
Hrsg. von Francis Berrar und Christoph Wagner
Beiträge von F. Berrar, M. Krüger, B. Muhr, B. und I. Rech, J. Röhnert, B. Scherer, Ch. Wagner
Hirmer Verlag, München
208 Seiten
24,90 Euro
ISBN 978-3-7774-3516-9

Diese Seite teilen

Besuchen Sie uns