Vom Hirmer–Verlag ist man in erster Linie Kunstprachtbände im XXL–Format gewohnt. Doch hier geht es um Gedichte und Bilder. Genauer: um eine Zusammenarbeit von Schriftsteller Michael Krüger (*1943) mit der Bildhauerin und Malerin Christina von Bitter (*1965) und die Frage wie Malerei mit Gedichten in Beziehung tritt. Begleitet sie den Lyrikton wie ein untergründiger Klangteppich oder eher als Kontrapunkt? Gibt es so etwas wie »Illustration« im ursprünglichsten Wortsinn, – eine »Erleuchtung«, die über pure Bebilderung hinausgeht? Walter Kayser hat sich das schlanke Büchlein genauer angesehen.
Wer in den letzten Monaten die »Süddeutsche Zeitung« gelesen hat, fand in dem einmal wöchentlich beiliegendem »Magazin« eine Autorenseite mit dem Titel »Gedichte aus der Quarantäne«. Michael Krüger (*1943), seit Jahrzehnten ein Nestor der neueren deutschen Literatur, hat ein besonderes Schicksal ereilt. Lange Zeit konnte man sich schlichtweg nicht vorstellen, dass der hochgewachsene, unermüdliche und immer noch irgendwie jugendlich wirkende Schriftsteller in einem Alter, in dem andere längst seit einem guten Dutzend Jahren berentet sind, in den Ruhestand gehen würde. Denn was war er nicht alles zugleich? Jahrzehnte prägte er den renommierten Hanser–Verlag als Verleger und Geschäftsführer, war er Herausgeber legendärer Literaturzeitschriften wie »Tintenfisch« und »Akzente«, Organisator von Festivals, Knüpfer literarischer Freundschaften, zuletzt Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste; und in all dieser Zeit auch als Lektor, Essayist, Übersetzer, Romancier und nicht zuletzt auch als Lyriker präsent. Doch dann kam plötzlich die Diagnose Leukämie. Und mit Beginn der Therapie zugleich auch die tückische Pandemie. Und weil seine Immunabwehr auf null stand und ein ferner Huster ihn hätte aus den Schuhen kippen lassen, musste sich Krüger von Menschen nicht nur distanzieren, sondern total isolieren. Deshalb zog er sich in ein Holzhaus am Rand eines Dorfes in die absolute Einsamkeit zurück. Post (und Zeitung) liegen hier nun zunächst zwei Tage im Freien, bevor sie im Backofen bei hundert Grad von allen Infektionen gereinigt werden. Die Lebensmittel werden geliefert, eine Freundin aus dem Dorf geht zur Apotheke, um die Massen von Pillen einzukaufen. Was uns von Michael Krüger seitdem erreicht, ist also eine Art Flaschenpost in Versform.
Der vorliegende Gedichtband schreitet da noch einen etwas größeren Radius aus. Er ist in der Vor–Corona–Zeit des vergangenen Jahres entstanden. Aber auch hier ist der Lebensmittelpunkt eindeutig in oberbayerischen Ortschaften und Landschaften auszumachen, noch genauer: in jenem bäuerlichen Landstrich am östlichen Ufer des Starnberger Sees, dem Oskar Maria Graf mit »Das Leben meiner Mutter« ein literarisches Denkmal setzte. Rein äußerlich ist dabei eines auffällig: Fast alle Überschriften sind schlichte Ortsnamen. »Schlicht« ist überhaupt das Schlüsselwort. Die Sprache verzichtet auf kühne Metaphernballungen und verrätselte Bildhermetik, wirkt zunächst einfach und sehr prosanah. Nur die Enjambements markieren feine Brüche und Bedeutungswenden im scheinbaren Parlandoton – reimlos und in freien Rhythmen, wie es seit den 30er Jahren Bertolt Brecht in der deutschen Poesie vorgab. Meist beginnen die Erzählgedichte mit einfachen Notaten in kurzen Aussagesätzen zu den besonderen Gegebenheiten von Ort und Zeit: ein Baum, ein Bach oder das wechselnde Licht, in dem sich der See darbietet. Aber sehr bald spielen die eingefangenen Bilder ins Sinnbildliche, wenngleich nicht mehr so sehr ins Surreale wie in den vielen vorangegangenen Gedichtbänden der vergangenen Jahrzehnte. Was die Wirklichkeit dennoch so »dicht« macht, sind vor allem der offene Assoziationsraum und die innere Bewegung der Gedichte: Die Ortsangabe gibt notizhaft ein Stück Außenwelt an, umreißt einen begrenzten Horizont, der durch präzise Beobachtungen erschlossen, auf seine Ober– und Untertöne hin abgehorcht und schließlich zum Resonanzraum wird. So wandert der Blick von außen nach innen, tastet sich von der genauen Hin– zur Einsicht. Die zunächst präzis eingefangene Naturwahrnehmung wird zeichenhaft transparent, löst Reflexionen aus und wird wie ein Foto im Fixierbad zu einem Prozess des Seiner–selbst–Innewerdens weiterentwickelt. Die Naturbeobachtung fördert seelische Wahrnehmungen und Bestandsaufnahmen zu Tage, die häufig im letzten Vers in einer doppeldeutigen Pointe münden, – mal melancholisch, mal gallig, immer sensibel und einfühlsam und, gleichsam dialektisch aufgehoben, in einem resignativen Humor. Das Ausschreiten einer kleiner gewordenen Lebenswelt und das Thema Alter und Abschied klingt stetig an. Paradigmatisch ist der Beginn des Gedichts »Ambach«: »Es ist spät geworden, aber hier/ habe ich fünfundzwanzig Jahre gelebt./ Wie findet man zu sich selbst?/ Man kann einmal ums Haus gehen/ oder einmal um die ganze Welt«.
Wie verhalten sich nun die Bilder dazu? Sie sind ganz offensichtlich auf die 60 Texte bezogen, denen sie Seite für Seite gegenüberstehen, indem sie eine Farberwähnung oder ein Motiv aufgreifen und dann die Momentaufnahme auf ihre ganz eigene Weise in das kurze Notat einer Selbstvergewisserung transformieren. Die Malerin Christina von Bitter (*1965) hat ihren biographischen Schwerpunkt längst auch in München und im Chiemgau gefunden. Als Meisterschülerin von Lothar Fischer wurde sie vor allem durch ihre fragilen Objekte und Installationen aus Draht und Papier bekannt, in denen es schon einen Hang zum archetypischen Urbild gab. In ihren Illustrationen sucht sie komplementär die knappe, schnelle Verdichtung: Wenige breite Striche oder Schraffurblöcke mit Kreide, beschränkt auf drei, vier Farben, auch mal Schnipsel von papiers collé, zumeist aber Wasserfarben, mit grobem Pinsel aufgetragen. Die Malweise betont so das Flüchtige, Duftig–Feine, Instabile des Augenblicks. Dazu passen die Bildträger: kleine Formate von Notizzetteln, Millimeterpapier, Papptellern, aus dem Ringbuch rasch Herausgerissenes, sodass die Randperforation noch sichtbar ist; braunes Packpapier mit und ohne Streifen, als wäre im Augenblick nichts anderes so schnell zur Hand gewesen, um das verfliegende Hier und Jetzt einzufangen. Und zugleich sorgt die Beschränkung auf wenige Kompositionselemente im Kleinen für Monumentalität. Hierin ist die Korrespondenz zu den Versen von Michael Krüger auszumachen, welche in der Vergewisserung einer punktuellen Atmosphäre wie in einem Brennglas eine generalisierbare Aussage suchen. Oft gibt die Malerin noch eine, wenn auch stark reduzierte, gegenständliche Landschaftsszenerie an: Wiesen und Felder im Vordergrund, das blaue Auge eines Sees im Talgrund vor einem dunklen Waldstrich. Im Hintergrund über den blauen Rücken von fernen Gebirgszügen ein wolkenverhangener Himmel. Damit stehen die Bilder eindeutig (wie könnte es in dieser Landschaft auch anders sein?) in der Tradition der Murnauer Bilder von Wassily Kandinsky und Gabriele Münter. Aber die reine Aufzählung der Kompositionsmotive führt schon deshalb zu einer falschen Vorstellung, weil der Schritt zur Beschränkung auf das Wesentliche sehr konsequent ist und immer im Zeichenhaften bleibt wie eine japanische Tuschzeichnung.
Michael Krüger, Christina von Bitter
Nach dem Gewitter die Mücken
Gedichte & Bilder
Illustrationen: Christina von Bitter
128 Seiten, 60 Abbildungen in Farbe
14,5 x 21 cm, gebunden
Hirmer–Verlag, München 2020
ISBN: 978–3–7774–3457–5